Im Kino

Zusammenstoß zweier Körper

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
09.01.2013. Jacques Audiards "Der Geschmack von Rost und Knochen" entwirft Bilder, die regelrecht in den Kinosaal hineinlodern. Nicht im regulären Programm, aber als Teil des Minifestivals "Unknown Pleasures" in Berlin zu sehen: Abel Ferraras zauberhafter Weltuntergangsfilm "4:44 Last Day On Earth".


Dieser Film brennt. Das wird in seinen allerersten Bildern klar: abstrakte, verschwimmende Farbflächen, in denen sich Bilder des folgenden Films brechen; Aggregatzustände, die vieles von dem vorwegnehmen, was den Protagonisten in Jacques Audiards "Der Geschmack von Rost und Knochen" später an Elementargewalt zustoßen wird. Nicht aber das Feuer, sondern das Wasser (und auch: das Eis) ist das Element, das die Schicksale in diesem Film in tragische Bahnen stößt, aber auch Herausforderung und Sehnsuchtspunkt für die Protagonisten, die die Fluten mit machtvollen Zügen durchmessen wie Alain (Matthias Schoenaerts) oder von ihnen verzehrt, ausgespuckt und schließlich neu geboren werden wie Stéphanie (Marion Cotillard).

Bei diesem Film hätte auch alles falsch gemacht werden können, nähert er sich doch im Sujet jener Form des klebrigen Arthousekinos an, die im letzten Jahr mit "Ziemlich beste Freunde" zum Verzweifeln erfolgreich war. Der zentrale Schicksalsschlag in "Der Geschmack von Rost und Knochen" stößt der Waltrainerin Stéphanie zu, der infolge eines Unfalls beide Unterschenkel amputiert werden, und eine der Geschichten, die Audiard in diesem zwar grundsätzlich melodramatischen, aber auch erfreulich unfokussierten Film erzählt, handelt von ihrem Weg zurück ins Leben. Sentimental oder zuckrig ist das niemals, nicht um einfache Wahrheiten geht es Audiard, sondern um die schweren Substanzen, die es - im Leben wie im Kino - auszuhalten gilt. Diese übersetzt er in beeindruckende sinnliche Intensitäten, die die Leinwand immer wieder geradezu unter Strom zu setzen vermögen.

Ohnehin ist das Behindertendrama nur eine der narrativen Schablonen, auf die Audiard zurückgreift: "Der Geschmack von Rost und Knochen" erzählt viele Geschichten zugleich und geht in keiner von ihnen vollständig auf. Dabei bleibt er weitestgehend auf den Spuren von Alain, der einmal - in Belgien - Regionalmeister im Boxen war und nun versucht, für seinen kleinen Sohn Sam und sich in Antibes, an der Côte d'Azur, ein neues Leben aufzubauen. Dies beginnt zunächst vielversprechend, wenn die beiden von Alains Schwester Anna aufgenommen werden und dieser einen Job bei einem Sicherheitsunternehmen bekommt. Schnell aber deutet sich an, dass die entstehende Existenz prekär und brüchig bleibt: Zorn- und Gewaltausbrüche von Alain, der mit den Verlässlichkeiten der Rolle als alleinerziehender Vater - von Sams Mutter wird nie die Rede sein - heillos überfordert scheint, erschüttern die fragile familiäre Konstellation immer wieder, und auch beruflich verschlägt es den stets getrieben Wirkenden gleich zweifach in zwielichtige Gefilde.



Zunächst beginnt der ehemalige Boxer mit der Teilnahme an brutalen, illegalen Bareknuckle-Kämpfen, in denen er seine Kontrahenten brutal und erbarmungslos zerschlägt, und schließlich lässt er sich überzeugen, heimlich im Auftrag der Geschäftsführer illegale Kameras zur Überwachung der Mitarbeiter in Supermärkten zu installieren. Zur endgültigen Eskalation kommt es, als die Kassiererin Anna durch eine dieser Kameras ihre Anstellung verliert. In gewisser Hinsicht ist "Der Geschmack von Rost und Knochen" als konsequente Geschichte eines persönlichen Scheiterns zu lesen - einer Logik der Eskalation folgend, der, gewissermaßen spiegelbildlich, ein langsamer, schwieriger Weg zurück ins Leben gegenübersteht, der von derselben Energie befeuert wird.

Denn "Der Geschmack von Rost und Knochen", das ist auch die Geschichte von Stéphanie, die Alain zunächst als Türsteher in einem Nachtclub kennenlernt und die sich nach dem Verlust ihrer Beine in eine dezidiert unsentimentale Affäre mit ihm stürzt. "Opé?", mit dieser knappen SMS - der Frage, ob Alain "einsatzbereit" sei - beginnt jedes Zusammentreffen der beiden, und die Sexszenen, die sich anschließen, zählen zu den eindringlichsten, die seit langem im Kino zu sehen waren - einfach, weil zu jeder Zeit spürbar ist, wie viel für sie auf dem Spiel steht. Die rohe Virilität von Alain trifft auf die allmähliche Öffnung der körperlich wie seelisch beschädigten Stéphanie, aus dem Zusammenstoß zweier Körper wird ein Spiel ungesteuerter Energien, anhand dessen sich die Konfliktlinien der Protagonisten immer wieder aufs Neue verschieben.

Nachdem er sich vor acht Jahren mit seinem vierten Film "Der wilde Schlag meines Herzens" endgültig auf der cinephilen Weltkarte verortet hat - und sich 2009 mit dem epischen Gangsterfilm "Ein Prophet" noch einmal zu steigern verstand -, bestätigt der nach diesen beiden Hardboiled-Stoffen generisch zunächst ungewöhnlich wirkende neue Film Jacques Audiards Status als einer der intensivsten Filmemacher des Gegenwartskinos. Nicht im Genre, sei es im Kriminalfilm oder wie hier im Melodram, kommt Audiards Kino zu sich, sondern in den Affekten, von denen es erzählt und die es produziert. In seinen ungeheuren Farben, in seinen furchtlosen Performances und dem Wagnis, ganz nah an die Prätention und das Pathos heranzugehen, ohne je mit ihnen deckungsgleich zu werden - darin prägen sich seine Kinobilder nachhaltig ein. Sie wollen auch unbedingt auf der großen Leinwand durchlebt werden, von der die Flammen mitunter geradezu in den dunklen Kinosaal hineinzulodern scheinen."Der Geschmack von Rost und Knochen" brennt.

Jochen Werner

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Zwei arthauskosmologische Visionen vom Weltenende, die zufällig im selben Cannes-Wettbewerb uraufgeführt wurden, standen vorletztes Jahr im Zentrum der cinephilen Auseinandersetzung: für die einen zeigte Terrence Malicks "Tree of Life" dem Kino einen Weg in die Zukunft, für die anderen Lars von Triers "Melancholia". Wäre ich in dieser Frage nicht selbst parteiisch (ästhetisch feinsinnige amerikanische Privatmystiker sind mir allemal lieber als alteuropäische Berufsprovokateure mit einem fatalen Hang zum Hitlerwitz), so würde ich als salomonische Lösung einen dritten Film, ebenfalls aus dem Jahr 2011, vorschlagen, einen, der die Apokalypse von allem metaphorischen Ballast befreit und sie zurückholt ins dreckige, problembehaftete Leben.

Langsam gleitet in diesem Film die Kamera durch ein gleichzeitig leergeräumtes und vollgestopftes Appartment: Am Rand stapeln sich Bilder, Möbel und auch ein paar Essensvorräte, dazwischen viel freier Raum, ein einsamer Fernseher auf einer Getränkekiste. Improvisation als Dauerzustand, keine Abteilung in Zimmer, in mein Raum und dein Raum, kein aufwändiges housekeeping. Das Appartment ist schon ein wenig Freiraum und Privatheit, aber kein Ort, in dem man sich zu zweit vor der Welt verkriecht und sich den Freiraum dabei gleich wieder wegorganisiert. Nein, im Gegenteil, es öffnet sich so weit es geht zur Stadt, die ständig in den Film eindringt, über die Tonspur, über die Fenster, durch die Willem Dafoe (der immer großartig ist; und hier erst recht) nach draußen blickt, in die Nacht hinaus.

In die letzte Nacht überhaupt: "At 4:44 tomorrow morning the world will come to an end", schreibt Willem Dafoe in seinen Notizblock. Schuld hat, schreibt er weiter, das Ozonloch. "There will be no survivors". Das ist die Prämisse, spielerisch formuliert und anders geht es auch gar nicht in einer fast-no-budget-Produktion, wie "4:44 Last Day on Earth" eine ist. Abel Ferrara war mal Exploitationregisseur, war mal Studioregisseur, war mal Arthausregisseur, inzwischen ist er aus allen Zusammenhängen herausgefallen, jetzt macht er einfach nur noch kleine Projekte, wo und wie auch immer er noch die Möglichkeit dazu bekommt. Zuletzt unter anderem drei dokumentarische Arbeiten, letztes Jahr ein paar kurze Internetepisoden namens "Pizza Connection", demnächst irgendetwas über die Strauss-Kahn-Affaire. Es ist kaum zu fassen, was für großartige Dinge der nur äußerlich schlecht gealterte Einundsechzigjährige unter diesen Bedingungen immer noch und immer wieder zustande bekommt. Denn "4:44" ist keine bloße Spielerei; sondern ein emotional zutiefst aufrichtiges Nachdenken darüber, was mit zwei Menschen passieren könnte, wenn die Welt tatsächlich den Geist aufgeben würde, morgen früh.

Eine Buddhastatue eröffnet den Film, dazu Sitarklänge. Das indische Saiteninstrument taucht in der nächsten Einstellung auf, allerdings befindet es sich nicht im selben Raum, sondern auf dem Bildschirm eines Tablets. Ein Bildschirm unter vielen in "4:44". Der Bildschirm hat nichts Trennendes für Ferrara, was auf ihm erscheint, ist unmittelbar anwesend. Bildschirme werden nicht einfach nur angesehen, sondern berührt (zärtlich berührt; nicht bloß funktional berührt wie ein Touchscreen), man hört ihnen nicht nur zu, man spricht auch mit ihnen. Willem Dafoe, wie er dem Dalai Lama, dem neben Al Gore zweiten realweltlichen Zeugen des fiktionalen Weltuntergangs, spielerisch widerspricht, dessen flimmerndes Gesicht dabei leicht manisch anlächelnd. Ferraras Filme heben alle Distanz auf, aber immer nur momenthaft, alles bleibt brüchig, verfestigt sich nie zur aufdringlichen Immersionsästhetik (wie auch die Überblendungen, die in seinen neuen Filmen genauso allgegenwärtig sind wie die Bildschirme brüchig bleiben, das Auseinanderstrebende immer nur versuchsweise zueinander in Beziehung setzen). Die Bilder auf den Bildschirmen wechseln, Al Gore verschwindet und dann ist da bald wieder die Ex-Frau, mit der man sich herumstreiten muss, über Skype.



Buddha, Dalai Lama, Al Gore, Shanyn Leigh als hippieske, hysterische Künstlerin, Willem Dafoes Partnerin: Der Film mutet einem auf den ersten Blick einiges zu und man muss das alles erst einmal zulassen - diese Menschen, mit diesen Interessen, in diesem Appartment: Das ist der Film, deal with it. Man muss die beiden ja nicht zum Essen einladen (wie auch, wenn die Welt nach Filmende nicht mehr existiert), man muss nur ein wenig Zeit mit ihnen verbringen. Das schöne aber ist: Über dieses Zeitverbringen (das Anerkennen von Zeitgenossenschaft), das gemeinsame Abhängen hinaus mutet einem der Film überhaupt nicht viel zu, wird nicht übergriffig. Es passiert nicht viel in seinen Achtzig Minuten. Dafoe und Leigh reden ein wenig über den Weltuntergang, sie haben Sex (zweimal), sie verabschieden sich von Freunden und Angehörigen, einmal taucht ein Pizzalieferant auf, einmal verlässt Dafoe das Appartment und besucht alte Bekannte, streift dabei auch ein wenig durch New Yorks Straßen, in denen noch einmal jener aufregend gefährliche Möglichkeitssinn aufscheint, den Ferraras in seinen frühen Exploitationfilmen greifbar gemacht hatte wie kein anderer Regisseur und den das urban renewal der Stadt gründlich ausgetrieben hat. Erst im Angesicht des Weltuntergangs, scheint "4:44" zu sagen, würde New York wieder so interessant werden, wie es einmal war.

Keine großen Dramen und Verwicklungen, denen man nachspüren müsste, die einen zur Identifikation auffordern würden. Keine moralische Haltung, die einem aufgedrängt werden würde: alle Menschen sind kaputt, erst recht die, die ein paar Jahre in einer Großstadt gelebt haben, es geht höchstens darum, das anzuerkennen. Und auch, anzuerkennen, dass verschiedene Menschen verschieden umgehen mit ihrer Kaputtheit. Zum Beispiel nehmen die einen Drogen, die anderen nicht. Die einen wenden sich von ihrer Familie ab, die anderen ihr zu. Abel Ferrara dreht Filme.

"4:44 Last Day On Earth" läuft am 11.01. um 20:00 im Kino Babylon Mitte in Berlin. Außerdem ist der Film auf DVD und BluRay erhältlich.

Lukas Foerster

Der Geschmack von Rost und Knochen - Frankreich 2012 - Originaltitel: De rouille et d'os - Regie: Jacques Audiard - Darsteller: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure, Céline Sallette, Corinne Masiero, Bouli Lanners, Jean-Michel Correira - Laufzeit: 120 min.

4:44 Last Day on Earth - USA, Frankreich, Schweiz 2011 - Regie: Abel Ferrara - Darsteller: Willem Dafoe, Shanyn Leigh, Natasha Lyonne, Paul Hipp, Anita Pallenberg, Diedra McDowell - Laufzeit: 82 min.