Im Kino

Wie sieht Sterben aus?

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Elena Meilicke
16.11.2011. Jenseits aller Metaphysik untersucht Andreas Dresen in seinem Film "Halt auf freier Strecke" die Verbindung von Kino und Tod. Richard Ayoades Regiedebüt "Submarine" weicht den Fallen des nostalgischen Hipsterkinos geschickt aus.

Wie sieht ein Tumor aus? Zu sehen sind zunächst nur dunkle Flecken auf einem Bildschirm, ohne Form und Substanz. Ein Arzt klickt sich durch Hirnschichten, lässt eine schnelle Serie von Schnittbildern ablaufen. Magnet-Resonanz-Tomografie, ein bildgebendes Verfahren und seine Deutung: "Also, so zu dem Bild, das haben Sie verstanden, was da jetzt los ist, ja?" fragt der Arzt, der nicht einmal den Versuch unternimmt, seine eigene Hilflosigkeit zu überspielen. Er übersetzt das fleckenhafte Bild in Sprache, und die Botschaft ist fatal: Hirntumor, inoperabel, tödlich, nur noch ein paar Monate zu leben. Haben Sie Kinder? Ja, zwei.

Mit dieser Szene beginnt Andreas Dresens "Halt auf freier Strecke"; heftig, denkt man, unerträglich. Und Dresen bleibt dran, will auch Bildgebung: Wie sieht Sterben aus? Wie zeigt man im Kino den Tod? "In den meisten Filmen ist der Tod ja doch nur der Vorwand für etwas anderes. Etwa für eine Reise ans Meer", sagt Dresen. Er dagegen will keine Reise ans Meer, keine letzte Mission, keine Erleuchtung kurz vor Schluss.

Vom Sterben erzählt "Halt auf freier Strecke", der im Mai in Cannes den Prix Un Certain Regard gewann, indem er kurze Szenen lose aneinanderreiht. Ganz in blassen Farben und schwachen Kontrasten gehalten, traut sich der Film, auch stille und leere Momente zu zeigen. Oft sieht man Frank, den Mann mit dem Hirntumor (Milan Peschel), einfach zu Hause sitzen, alleine, in Jogginghose und Tennissocken; er sieht fern oder sortiert Nägel. Der Tod selbst ist bei Dresen dann unspektakulär und fast friedlich. Frank stirbt nicht in der Klinik, sondern in seinem eigenen Bett und am Ende ist einfach jeder Atemzug eine große Anstrengung; ein rasselndes Luftholen, dann lange Stille, dann wieder ein Atemzug, bis eben keiner mehr kommt. Der Tod, wie Dresen ihn zeigt, ist alltäglich und vorstellbar; man bekommt eine Ahnung, ja, so könnte das sein, vielleicht. Das berührt und ist tröstlich.

Das bedeutet nicht, dass "Halt auf freier Strecke" den Tod beschönigen würde. Der Film ist gerade da schwer zu ertragen, wo er dem Sterben in seiner konkreten Körperlichkeit nachspürt: etwa wenn Franks dünne Haare beim Kämmen in der Bürste hängenbleiben oder wenn er in das Zimmer seiner Tochter pinkelt, weil er die Toilette nicht mehr finden kann. Milan Peschels Physiognomie brennt sich ins Zuschauerhirn, seine blasse, teigige Haut, die erschreckten, dunklen Augen und die drei horizontal verlaufenden Falten auf der Stirn, die über dem linken Auge gemeinsam einen Buckel bilden. Und wenn seine Frau Simone (Steffi Kühnert) mit dem Leiter eines Pflegedienstes über den genauen Umfang der Pflegeleistungen diskutiert - große Toilette oder kleine Toilette, Hilfe bei Ausscheidungen, ja oder nein - dann sind es genau diese Details, die den "effet de reel", den Eindruck von Wirklichkeitsnähe und Authentizität produzieren, der Dresens Filmen so oft attestiert wird.



Um auf diese Art vom Sterben erzählen zu können, hat Dresen im Vorfeld der Dreharbeiten viele Gespräche mit Hinterbliebenen, Ärzten und Pflegern geführt. Es gelingt ihm so, den Blick auf etwas zu richten, was man vielleicht die "Infrastruktur des Sterbens" nennen könnte. Er zeigt, wie das Sterben in unserer Gesellschaft organisiert wird, wie es spezialisierten und professionalisierten Kräften überantwortet wird. Dresens genauer Blick darauf, wie Sterben hier und heute aussieht, gelingt darüber hinaus nur, weil sein Film frei von jeder Metaphysik ist: "Halt auf freier Strecke" ist ein vollkommen gottloser Film, der von einem radikal diesseitigen Sterben erzählt. Vielleicht - aber das ist Spekulation - ist es kein Zufall, dass gerade ein ostdeutsches Filmteam, das fast ausschließlich aus Absolventen der Hochschulen "Konrad Wolf" und "Ernst Busch" besteht, die Frage nach dem guten Tod jenseits aller religiösen Vorstellungen stellen kann. Denn dass es diesen guten Tod gibt und dass man ihn dem Sterbenden schuldig ist, daran hält Dresens Films fest: wichtig ist, dass Frank nicht zu viele Schmerzen hat, wichtig ist, dass seine Umgebung sein Sterben aushält, wichtig ist, dass seine Kinder sehen können, dass der Tod am Ende friedlich ist.

"Also, so zu dem Bild, das haben Sie verstanden, was da jetzt los ist, ja?" Hinter dieser ganz zu Beginn des Films gestellten Frage des Arztes steckt die Hoffnung, dass das, was als Bild vorliegt, was bildförmig ist, verstanden werden kann. Ganz in diesem Sinne nimmt "Halt auf freier Strecke" das Motiv der Bildgebung immer wieder auf. Das medizinische Verfahren der Tomographie wird so im Laufe des Films ergänzt durch eine Reihe weiterer Bildgebungsverfahren, die persönlichere und idiosynkratische Bilder der Krankheit und des Sterbens produzieren. Zum Teil sind diese phantasmagorisch-halluzinatorischer Natur, etwa wenn der Tumor in Franks Tagträumen menschliche Gestalt annimmt und auf dem Fernsehbildschirm erscheint. Da sitzt dann der Tumor in Männergestalt verschmitzt lächelnd neben Harald Schmidt, eher Alter Ego denn tödliche Gefahr. Auf der anderen Seite beginnt Frank damit, sich selbst mit dem iPhone zu filmen und eine Art Videotagebuch zu führen. Manchmal erzählt er kleine Begebenheiten aus seiner Kindheit, oft aber richtet er das Objektiv einfach nur auf das eigene Gesicht, geht ganz nah heran an die eigenen Augen und die eigene Stirn, hinter der sich der Tumor versteckt. Wenn Dresen Frank selbst zur Kamera greifen lässt, um sich ein Bild von sich und seinem Sterben zu machen, dann sagt das auch etwas über das Kino aus: es geht um die Hoffnung, den Tod besser verstehen zu können, indem man mit Hilfe des Kinos die richtigen Bilder für ihn findet.

Elena Meilicke

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Shakespeare, Nietzsche, Salinger - drei Autoren, drei Bücher, die Oliver Tate (Craig Roberts) der eher unwilligen Jordana Bevan (Yasmin Paige) zwischen zwei Schulstunden in die Hände drückt. Weil sie jetzt ein Paar sind, weil es jetzt Zeit ist, dass sie mehr über ihn erfährt. Als Zuschauer erfährt man in diesem Best-of der Literatur für empfindungssüchtige Gymnasiasten, die etwas abseits vom Popularitätsradar stehen, in erster Linie, dass Oliver ein wandelndes Klischee ist. Und natürlich: Einer dieser Nerds, wie sie gerade in Heerscharen die Feuilletons beschäftigen und das Kino bevölkern. Ein Nerd in einer Zeit allerdings, die von Herzen grausam zu den Nerds gewesen ist: "Submarine", das Regiedebüt von Richard Ayoade, den man ansonsten vor allem als Über-Nerd Moss aus der britischen Sitcom "The IT-Crowd" kennt, spielt Mitte der Achtziger in Wales.

Dass es überhaupt zur Paarbildung und, folgt man den Implikationen eines elliptischen Umschnitts, zum erfolgreich vollzogenen Beischlaf gekommen ist, grenzt an ein Wunder. Als eigentlich eher von Grundauf verkorkstes Ergebnis steht beides am Ende einer langen Kette sonderbarer Verrenkungen, die Ayoade genüsslich mit einer Mischung aus Nostalgieanflügen (dass manches vom eigenen Leben geborgt sein könnte, denkt man sofort) und aufrichtigem Interesse am Humorpotenzial klassischer Fremdscham-Situationen aneinanderreiht: "Awkwardness? als Lebenskunst.

Der Fundus, aus dem Ayoade dabei großzügig schöpft, ist den längst zum Manierismus geronnenen Filmen aus "Indiewood" entliehen: Ein sozial mittelschwer unbegabter Schüler mit leicht treudoofem Blick, Hang zu verschrobener Kleidung und für einen Teenager eher ausgefallenen ästhetischen Präferenzen (hängt da ein Bild von Pasolini an der Wand?) pflegt zur eigenen Körperlichkeit ein tendenziell problematisches Verhältnis und lebt in einer retro-okönomisch gut ausschlachtbaren, vergangenen Dekade mit eher unmöglichen, ebenfalls mittelprächtig neurotischen Eltern mit kuriosen Berufen - der Vater (Noah Taylor) ist ein bärtiger Meeresbiologe - in einer trostlosen Mittelschichtsvorstadt. Er ist umringt von kuriosen Gestalten, die ihrerseits sonderbaren, heute kaum mehr vermittelbaren ästhetischen Neigungen nachgehen (waren Vokuhilas und Airbrush-Autos wirklich einmal in?), wird von seinen Mitschülern gehänselt und verliebt sich schließlich bald glücklich, bald unglücklich in eine ebenso nerdige Mitschülerin, während die Ehe der Eltern in die Brüche zu gehen droht. Ein "slice of life", ein "coming of age" im Vintagelook, natürlich mit Voice Over, der dann auch klanglich tatsächlich gar nicht weit weg ist von Michael Cera oder Jesse Eisenberg, den nasalen Helden des US-Indiewood.

Bei alldem macht "Submarine" viel Freude. Zum einen ganz sicher, weil Ayoade seine Hauptfigur nicht als Charmebolzen mit sympathischem Knacks anlegt, sondern als offenkundigen Neurotiker, der von "Routinerecherchen" faselt, wenn er das Schlafzimmer seiner Eltern durchwühlt und dessen größte Freude es ist, mit Jordana liebestoll brandstiften zu gehen. Auch Jordana ist, im Gegensatz zu den weiblichen "love interests" vergleichbarer amerikanischer Filme, kein ätherisch anmutendes Liebeswesen, sondern in ihrem Wesen ganz profund beschädigt und überdies intrigant.



Ähnlich sind auch die Achtziger bei Ayoade kein bloß gefälliger, auf die ästhetischen Bedürfnisse von Hipstern zugeschnittener Resonanzraum, sondern zwar schon auch, aber eben nicht nur nostalgische Referenz: Nie schwingt sich Ayoade zum narzisstischen Popsubjekt auf, das stolz sein Archiv offenlegt und ein emblematisch verdichtetes Phantasma einer Dekade präsentiert, dessen Bestandteile man im Vintage-Memorabilia-Shop nachkaufen könnte. Womöglich interessiert sich Ayoade für die Achtziger auch nur insoweit, wie er sie als Verfremdungseffekt nutzen kann: Der mit grotesker Kleidung und Frisur ausgestattete Nebenbuhler (Paddy Considine), der Olivers phlegmatischem Vater die Frau (Sally Hawkins) auszuspannen droht, würde heutzutage in solcher Erscheinung Argumentationsbedarf wecken, bleibt in diesem zeitlichen Kontext aber immerhin legitimes Kuriosum. Und nur in den Achtzigern ist es Olivers Vater ohne größeren Widerspruch möglich, dem Sohn, kaum steht im Raum, dass dieser doch nicht, wie insgeheim befürchtet, schwul ist, sondern eine Freundin hat, stolz ein Mixtape in die Hand zu drücken, das eben als einziges Amateur-Audiomedium von vornherein mit zwei Seiten kommt: Seite A bringt den Soundtrack zu Jubel, Seite B den Soundtrack zum Schmerz, in dem noch fast jede erste große Jugendliebe zwangsläufig endete.

Nicht zuletzt eignet dem Film eine gewisse ästhetische Souveränität: Zwar spielt auch Ayoade mit den Verlockungen nostalgischer Patina, verwechselt diese aber nie mit in dicken Strichen angebrachtem Lack. Mitunter bleiben seine Bilder fragil und sanft defizitär, sie liebäugeln eher mit den Bildtraditionen des europäischen Autorenkinos - einmal erfährt man kurz, dass der Vater Eric Rohmer schätzt -, als dass sie sich hemmungslos an die amerikanischen Nachbarn heranschmeißen würden. Ein schöner, kleiner Film.

Thomas Groh

Halt auf freier Strecke - Deutschland 2011 - Regie: Andreas Dresen - Darsteller: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Talisa Lilly Lemke, Mika Nilson Seidel, Ursula Werner, Otto Mellies, Christine Schorn, Inka Friedrich - Prädikat: besonders wertvoll - Länge: 110 min.

Submarine - Großbritannien / USA 2010 - Regie: Richard Ayoade - Darsteller: Craig Roberts, Yasmin Paige, Sally Hawkins, Paddy Considine, Noah Taylor, Darren Evans, Osian Cai Dulais