Im Kino

Wasser und Öl

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
14.04.2010. Lisandro Alonso lässt in "Liverpool" einen Mann Bilder von Innen- und Außenräumen queren, in denen den Mann nichts hält. Und Jan Kounen interessiert sich für die Verbindung von "Igor Stravinsky & Coco Chanel", reißt aber nur in seiner Reinszenierung des vielleicht berühmtesten Konzerts des 20. Jahrhunderts mit.



Obgleich die Einstellungen in "Liverpool" lang sind, möchte man über den Film in kurzen Hauptsätzen schreiben. Alles hat hier mit wenigen Worten großes Gewicht. Ein Mann verlässt ein Schiff. Er geht an Land im Süden von Argentinien, Tierra del Fuego, Feuerland, die Antarktis ist nah. Man sieht ihn vor Gletschern in einem stillgelegten Bus und denkt für einen Moment an "Into the Wild", Sean Penns geradezu ekstatisches Meisterwerk. "Liverpool" aber ist anders, ist ein denkbar unekstatischer Film. "Into the Wild" feiert das Verlassen der Zivilisation als Aufbruch in ein anderes, das richtige Leben; als einen Aufbruch, der nicht einmal durch den Tod widerlegt werden kann. "Liverpool" feiert nichts.

"Into the Wild" erzählt von einem Mann, der über die Welt hinauswill, "Liverpool" von einem, der in ihr zu verschwinden scheint. Farrel, der Mann, der an Land geht, wirkt beinah erloschen. Er hat ein Ziel, aber er bewegt sich darauf zu, als wäre da nur ein Magnet, der ihn zieht, als wäre kein Wille, der ihn zum Handelnden macht. (Der Südpol ist nah, vielleicht liegt es daran.) Wenn er den Zielort erreicht haben wird, tut er nichts, um sich an ihn zu binden und verlässt ihn wieder und verschwindet in aller Langsamkeit aus dem Bild. Zum Raum, in dem er sich bewegt, gewinnt er nie ein Verhältnis.

Der Mann und der Raum: wie Wasser und Öl. Hier Farrel, zunächst in fast jeder Einstellung zu sehen. Da der Raum, der ihn nie in sich aufnimmt. Innen wie außen nicht, in geschlossenen Räumen wie im Freien, das Farrel keine Freiheiten gibt, zu dem Farrel keine Bindung sucht: ein gegenseitiges Abweisungsverhältnis. Der Mann und der Raum und das Bild. Die Kamera erst stellt die Beziehungslosigkeit her. Sie bleibt auf Distanz und wenn sich der Mann entfernt, dann bleibt sie stehen und tut nichts, ihm auf den Fersen zu bleiben. Farrel quert das Bild wie er den Raum quert und wie er die Leben seiner Mitmenschen quert. Er quert und quert und nichts hält ihn. Wie er gekommen ist, so verschwindet er.

Man lese zum Vergleich, was Gilles Deleuze über Michelangelo Antonioni schrieb: "Antonionis Kunst hat sich unaufhörlich in zwei Richtungen entwickelt: zunächst von einer beachtlichen Ausschöpfung der toten Zeit des Alltags; sodann ... zu einer Behandlung von Grenzsituationen, die bis zu menschenleeren Landschaften und entleerten Räumen vordringt, von denen man sagen kann, sie hätten die Figuren und die Handlungen in sich absorbiert, um nur noch eine geophysikalische Beschreibung, eine abstrakte Bestandsaufnahme übrigzubehalten."


Antonionis Kunst ist der des Lisandro Alonso eng verwandt. Man kann sich überdies, übers Grundsätzliche hinaus, an die Ozeantanker erinnern, die in "Die rote Wüste" wiederholt auftauchen. Jetzt ist einer in einem Alonso-Film gelandet und spuckt einen Mann hinaus in die Alonso-Landschaft. Außerdem gibt es eine offensichtliche Korrespondenz in der Persistenz der Farbe rot. Man achte auf alles, was rot ist, in "Liverpool": kaum eine Einstellung Eis und Schnee zum Trotz ohne Rot. Für Lisandro wie Antonioni gilt auch: Schwer ist das Gewicht der Welt, aber "Gewicht der Welt" ist eine Metapher - man muss in Alonsos Filmen sehr genau darauf achten, wie diese Metapher Moment für Moment buchstäblich Bild wird.

Wo bei Antonioni der Raum die Figur absorbiert, scheinen Figur und Raum einander in "Liverpool" beinahe nicht zu berühren. Das Queren zieht Linien und Striche in den Raum, aber es greift nicht in ihn ein, es hinterlässt keine oder kaum Spuren. Auf sehr spezifische Weise ist das Handeln der Figur, ist das Tun von Farrel, darum kein Handeln, sondern ein Beinahe-Stillstehen, ein Sich-Treiben- und Sich-Anziehen und Sich-Abweisen-Lassen, und eben darum ist der Raum kein Handlungsraum, sondern ein Zustand der Unverbundenheit: Wasser und Öl. Der Raum setzt dem Verschwinden der Figur, nur konsequent, nicht den mindesten Widerstand entgegen. Ebensowenig der Film. (In Vincent Gallos ohnehin nicht unähnlichem "Brown Bunny" gibt es ein vergleichbares Verschwindebild.)

Etwas Drittes ist, zwischen Raum und Figur, immer im Spiel: die Objekte. Die rote (!) Tasche, die Farrel immer bei sich trägt. Eine rote (!) Terrine, in der Analia - möglicherweise Farrels Tochter - die Speisen aus der Wirtschaft nach Hause trägt. Und zuletzt ein Anhänger, ein Buchstabenspiel: LIVERPOOL, ein Gegenstand, dem das Schlussbild gehört und der dem Film gar den Titel gibt. Es wäre einfach zu sagen, dass in den Gegenständen und Objekten Figur und Raum zuletzt doch zusammenfinden zur Bewegtbildhandlungsraumemulsion des gewöhnlichen Spielfilms. Es ist aber nicht so. So wenig wie eine Mutter hier ihren Sohn erkennt, so wenig wie ein Vater hier eine Beziehung zu seiner Tochter herstellen kann, so wenig stellt sich im Dreieck aus Figur-Objekt-Raum ein Weltverhältnis wieder her. Vom Vater wird nur und sehr buchstäblich ein ganz und gar fremdes Objekt bleiben. Der Anhänger namens LIVERPOOL ist handgreiflich und bedeutet alles und nichts.

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Zwanzig Minuten lang ist "Coco Chanel & Igor Stravinsky" ein faszinierender Film. Es sind die ersten zwanzig Minuten. Sie zeigen den Komponisten erst in der Garderobe, dann geht er hinaus in den Saal, setzt sich unter das Publikum. Sie zeigen Vaslav Nijinsky nicht minder nervös, und die Tänzer in der Aufregung vor Vorstellungsbeginn. Dann hebt sich der Vorhang, Fagottsolo, die ersten Momente der Choreografie von "Le sacre du printemps" und sogleich Unruhe im Publikum. Die Kamera blickt vom Saal auf die Bühne, von der Bühne in den Saal, in die Gesichter von Igor Strawinsky und Coco Chanel. Das Orchester spielt weiter zu anschwellendem Empörungslärm, auf der Bühne springen in erfundenen heidnischen Riten die Tänzer herum. (Eine Rekreation der heute wieder sehr fremd anmutenden historischen Choreografie kann man hier auf Youtube bewundern.) Die Kamera gleitet und fliegt, der Schnitt ist überaus flüssig und in der Verbindung von bewegter Kamera und gleitendem Schnitt fängt der Film den Lärm, die Bewegung, die Musik, die Gesichter, den Tanz ein und rekonstruiert überzeugend, auch in den Steigerungsformen, die er findet, eines der großen Inferni in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist der 29. Mai 1913.

Nach diesem Beginn kann der Rest nur enttäuschen, was er prompt tut. Der Titel sagt sehr unverkünstelt, worum es geht: um das Verhältnis, das der legendäre Komponist Igor Strawinsky und die legendäre Modeschöpferin Coco Chanel in der Tat miteinander hatten. Und zwar interessiert sich Jan Kounen - bzw. wohl auch die Vorlage von Chris Greenhalgh, die sich allerdings als "Coco & Igor" noch mal anders an die beiden rankumpelt - weniger für Igor Strawinsky und Coco Chanel als für das &. Also, ja, man sieht die beiden mehr als einmal beim Sex. Und man sieht sie, weil Kounen das Stylische liebt, wie sie, fast grafisch abstrakt von oben, in den Pfühlen liegen und dem Auge des Betrachters wohl gefallen. Schön anzusehen sind Anna Mouglalis & Mads Mikkelsen im übrigen auch im bekleideten Zustand.

Zu Beginn stellt der Film im konzertierten Zusammenschnitt der Gesichter gezielt eine Verbindung her; in einer Art Epilog, der offenbar in beider Todesjahr 1971 spielt, bekommt die Beziehung dann, was angesichts der vielen Affären der Coco Chanel gewiss eine Übertreibung ist, per Parallelmontage das Siegel der Ewigkeit. In Wahrheit stand während dieser tatsächlich nur kurz dauernden Affäre Strawinskys Frau zwischen den beiden. Das zeigt der Film zwar, weiß aber nie ganz genau, was er mit ihr anfangen soll. Also steht sie, sanft mehr als wütend, eher einfach herum. Melo- interessiert Kounen ohnehin mehr als Dram, das schöne Bild mehr als die Psychologie und alle Leidenschaft bleibt, oft zu Strawinsky-Musik, seltsam gebändigt.

Kounen packt seine Geschichte in allzu edles Seidenpapier, das ist fast wörtlich zu nehmen: Seltsame, am Computer designte Brokade-Muster-Effekte fassen die Spielhandlung durchlässig ein. Und er geht, anders herum, dann auch wieder nicht weit genug mit der Auflösung einer Beziehung in schöne Bilder. Auf halbem Weg bleibt er stehen und so versackt, was überaus viel versprechend beginnt, nach und nach in aufgerüschte Biopic-Konvention. Als Psychogramm freilich taugt es nichts, Melodram will es nicht sein und weder mit der Musik des Igor Strawinsky noch den Kostümen von Coco Chanel hat es ästhetisch etwas zu tun.

Liverpool. Argentinien / Frankreich / Niederlande / Deutschland / Spanien 2008 - Regie und Drehbuch: Lisandro Alonso - Darsteller: Juan Fernandez, Giselle Irrazabal, Nieves Cabrera

Igor Stravinsky & Coco Chanel. Frankreich 2009 - Regie: Jan Kounen - Darsteller: Anna Mouglalis, Mads Mikkelsen, Elena Morozova, Natacha Lindinger, Grigori Manoukov, Rasha Bukvic, Nicolas Vaude, Anatole Taubman, Eric Desmarestz, Clara Guelblum