Im Kino

Reich an Geld und Neurosen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
28.10.2015. Jean-Jacques Annaud demonstriert den Chinesen mit "Der letzte Wolf", wie man eigene historische Verfehlungen in Erkenntnisgeschichte umdeutet. Benni Diez motzt in seinem Spielfilmdebüt "Stung" mit Monsterwespen die eigene Showreel auf.


Mit "Der letzte Wolf" erzählt Jean-Jacques Annaud, der französische Meister des menschelnden Postkarten-Arthaus-Bombastkitschs, eine Art umgekehrte Pocahontas-Geschichte in der mongolischen Steppe, wie sie auch das amerikanische Kino mit Filmen wie "Der mit dem Wolf tanzt" oder "Avatar" von Zeit zu Zeit erzählt: Es geht um eine Begegnung der Kulturen, in der sich nicht etwa die vermeintlich primitive Kultur an der dem eigenen Verständnis nach höher stehenden, modernen Kultur infiziert, sondern ganz im Gegenteil der Quasi-Abgesandte der zweiteren die Seiten wechselt. Im Jahr 1967, dem zweiten Jahr von Maos Kulturrevolution, meldet sich der chinesische Student Cheng Zhen (Shaofeng Feng) freiwillig zum Dienst, um den Bauern der Inneren Mongolei die hochchinesische Sprache und einen ganzen Koffer voll Bücher mit den Errungenschaften jüngster politischer Theorie zu bringen, mit dem höhergeordneten Ziel, das Hinterland nach und nach in die Infrastruktur und Logistik des maoistischen Imperiums einzugliedern.

Doch der auf zwei Jahre angelegte Aufenthalt wird zum spirituellen Erweckungserlebnis, das sich an ein konkretes Schwellenereignis knüpft: Allein in der Steppe, sieht sich der Student mit einem Rudel Wölfe konfrontiert, dem er nur durch eine List in letzter Sekunde entkommt. In den Wolken offenbart sich ihm daraufhin das Antlitz einer mongolischen Geistergottheit, der er, so der Patriarch eines mongolischen Yurtendorfes später, sein Leben verdanke. Was folgt ist die Öko-Variante eines mythisch verbrämten Stockholm-Syndrom-Narrativs: Der Student verliebt sich in das wilde, freie Leben der Wölfe, möchte gar ein Wolfsbaby aufziehen, geht beim Patriarchen in die Lehre, was Wissen und Pflege des ökologischen Gleichgewichts betrifft, und erlebt die Planvorgaben der chinesischen Zentralregierung, die irrsinnig in die Natur eingreifen wollen, mehr und mehr als großen Irrtum. Spätestens als es den Wölfen an den Kragen gehen soll, wechselt Cheng Zhen endgültig die Seiten. Prächtige Bilder von weiten mongolischen Landschaften und agilen Wölfen in Slow-Mo-Aktion fallen dabei ab.

Wie landet eigentlich ein französischer Arthaus-Blockbuster-Filmemacher wie Jean-Jacques Annaud bei einer rein chinesischen Produktion in der mongolischen Steppe unter Wölfen? Zumal, da der Regisseur wegen "Sieben Jahre in Tibet" (1997) lange Zeit eine unerwünschte Person in China war? In Interviews erklärt Annaud nicht ohne Eitelkeit an, dass die chinesischen Produzenten aus freien Stücken auf ihn zugegangen seien, um ihn für diese Verfilmung eines in China immens populären Romans zu gewinnen, weil man in China selbst nicht in der Lage sei, "solche Filme zu drehen". Wer einmal chinesischen Blockbuster-Bombast gesehen hat und überdies die Sensibilitäten des chinesischen Arthaus-Kinos kennt, weiß, dass das, gelinde gesagt, diplomatische Schmiere ist. Inhaltlich habe man ihm völlig freie Hand gelassen, so Annaud mit merklichem Stolz weiter - lediglich eine Liebesszene sei um einen kurz aufblitzenden nackten Busen "erleichtert" worden. Manch ein Kritiker staunte daher, wie kritisch die Machbarkeitsideologie, die der maoistischen Dienstbarmachung der Natur und deren Kreisläufe zugrunde liegt, dargestellt werde: Die proletarischen Schwarzmäntel Maos sind eindeutig die Bösen. Dass es bei einem von Anfang an als Auftragsarbeit angelegten Projekt vielleicht auch gar keinen Grund mehr geben muss, die Produktion in ihrem Verlauf zu lenken, fällt offenbar keinem auf.



Dass man Annaud mit diesem Stoff gut locken kann, liegt auf der Hand: Naturkitsch und triviale Wildtier-Mythologisierungen, die auf eine Erhabenheit der Tiere zwar zielt, sie sich dabei aber bloß spekulativ einverleibt, bilden die Leib- und Magenspeise im Motivhaushalt des Regisseurs. Entsprechend interessiert sich Annaud für Politik nur sehr beiläufig, solange es genug saftig grüne Landschaften und majestätisch strahlende Himmel gibt. Was in "Der letzte Wolf" greift, kennt man auch aus der Mythenmaschine des amerikanischen Kinos und aus den Mechanismen politischer Folklore: Die eigenen historischen Verfehlungen werden zur Erkenntnisgeschichte umgedeutet, man selbst geht ein bisschen auf im Anderen, dem man zuvor ans Leder gegangen ist, und tritt als demonstrativ geläutertes Wesen aus dieser Transformation hervor. Wohl auch deshalb ist es für den Film wichtig, dass der Student eben nicht zwangsweise in die Provinz abkommandiert wurde, sondern aus Gründen des Idealismus. Auch Rambo, der letzte große, mythische Krieger des US-Kinos, musste ein Stück weit zum Vietcong-Guerillero werden, um die USA am Ende mit sich versöhnen zu können (dass er in der literarischen Vorlage deutsch-indianischer Abstammung ist, legt ihm noch die Spuren zweier anderer großer Auseinandersetzungen der USA in den Gencode).

Was dabei im konkreten Fall bei Annaud herauskommt, ist Kitsch an der Grenze zur Erträglichkeit, der in seiner Einfältigkeit auch vor plumpsten performativen Widersprüchen nicht Halt macht: Wenn der Patriarch dem Stadtbewohner die Tragödie der Mongolen erklärt, nämlich dass deren Geschichte nie von ihnen selbst, sondern stets von deren Eroberen geschrieben wurde, interessiert sich Annaud vor allem für den prächtigen Sonnenuntergang, der die Kulisse dieses Gesprächs bildet, und verwechselt seinen Film wahrscheinlich sogar wirklich mit dem Einlösen der in dieser Ansprache artikulierten Bitte, man möge die Geschichte der Mongolen doch bitte einmal aufrichtig erzählen.

Wie "Der mit dem Wolf tanzt" schon kein Film über die amerikanischen Ureinwohner war, ist auch "Der letzte Wolf" vor allem die Projektion eigener Sehnsüchte auf das Andere, diesmal im vermittelten Blick auf die Wölfe gedoppelt: Diese, heißt es an einer Stelle, seien die wahren Lehrmeister des Menschen. Sie hätten Dschingis Khan einst das Handwerk der Kriegskunst gelehrt und bildeten so etwas wie die ideale Gesellschaft. Warum? Sie fügen sich dem großen Plan und leisten den Anweisungen ihrer Anführer Folge. Annaud widerspricht nicht.

Thomas Groh

Der letzte Wolf - China 2015 - Originaltitel: Lang Tu Teng - Regie: Jean-Jacques Annaud - Darsteller: Feng Shaofeng, Shawn Dou, Ankhnyam Ragchaa, Zusheng Yin - Laufzeit: 121 Minuten.

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Die Diezreel zeigt, woher der Regisseur kommt: In seinem persönlichen Leistungsschauvideomixtape präsentiert Benni Diez, Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg, knalliges CGI-Handwerk, oft mit einem Schlag ins Humoristische, entstanden teils als Auftragsarbeit für die Werbebranche, teils im Dunstkreis des nerdigeren, technikaffineren Segments der deutschen Kurzfilmszene. Dazu wummert generisch Elektronisches. Nicht Teil der Diezreel und auch auf der Homepage des Regisseurs nirgendwo erwähnt ist ausgerechnet der mit Abstand bekannteste Film, an dem Diez - als Teil des visual-effects-Teams - mitgearbeitet hat: Lars von Triers "Melancholia". Insofern zeigt die Diezreel nicht nur, woher der Regisseur kommt, sondern auch, wohin er will; und sogar, wohin er nicht will.

Ironischerweise gibt es trotzdem einige zwar rein oberflächliche, aber dennoch amüsante Parallelen zwischen "Melancholia" und "Stung", dem ersten langen Spielfilm, den Diez selbst inszeniert hat. Beide beginnen (im Fall von "Melancholia" gibt es vorher noch einen möglicherweise vom "Stung"-Regisseur gestalteten kosmologischen Zeitlupenprolog) mit einer Szene, in der ein Mann und eine Frau in einem Auto durch grüne Wiesen über eine Landstraße fahren und sich dabei, im älteren Film heftig, im neueren eher passiv-aggressiv, in die Haare geraten. In beiden Filmen ist das Ziel der Fahrt ein herrschaftlich-mondänes Landhaus, in beiden Filme wird auf diesem Anwesen eine Party gefeiert, auf der es vor sehr weißen Männern und Frauen wimmelt, die reich an Geld und Neurosen sind; und in beiden Filmen geht anschließend die Welt unter. Viel weiter wird man den Vergleich auch mit viel Mühe nichts ausreizen können; dazu fühlt sich der Wespen-Film einfach zu wohl in seiner ostentativen Gewöhnlichkeit.

Bei Diez sind jedenfalls die Schuldigen klar auszumachen: mutierte Wespen. Die kommen in zwei Inkarnationsstufen vor. Die erste ist nur geringfügig größer als das nichtfiktionale Original, lässt sich noch mit der flachen Hand zerquetschen und hinterlässt dabei eine wenig appetitliche glibbrige Masse. Das ist aus Ekelhorrorfilmsicht ein Vorteil der Wespe: Sie taugt sowohl lebend als auch tot als Attraktion. Diez' Wespen haben außerdem die Fähigkeit, sich in menschlichen Wirten einzunisten, um diese von innen zu übernehmen. Wenn sie dann aus diesen Leihkörpern "schlüpfen", kleben auf dem computergenerierten Monsterwespenkörper noch Überreste der ursprünglichen Hauthülle. Diese Szenen dürften jeden erfreuen, der einen Sinn für effektbewusste kinematographische Grobheiten hat. "Stung" ist offensichtlich ein Film, der ein gewisses Gespür dafür hat, wie man eine gleichzeitig abstruse und längst totkonventionalisierte Prämisse ausbeuten, wie man ihr Bilder entlocken kann, die auch abgebrühte Zuschauer zumindest momenthaft in ihrer körperlichen Integrität erschüttern.



Weit weniger Gespür hat der Film, wenn es darum geht, diese insgesamt doch eher wenigen Kleinode des Abscheulichen, zu denen zumindest noch jener Moment zu zählen ist, in dem Clifton Collins Jr. - neben Genrekino-Urgestein Lance Henriksen einsames Highlight eines ansonsten nicht einmal wirklich hysteriefähigen Casts - ein Wespenkopf aus der Schulter wächst, in einen Spielfilm zu integrieren, der einen auch nur für schlanke 87 Minuten bei der Stange halten könnte. Und damit, nebenbei bemerkt, endlich einmal das Theater rechtfertigen würde, das der "neue deutsche Genrefilm", zu dem man Diez' auf brandenburgischen Äckern inszeniertes Debüt trotz englischsprachigen Dialogen zählen darf, nun schon seit ein paar Jahren auf diversen Kanälen veranstaltet. Mit handwerklich soliden, aber komplett austauschbaren Retortenproduktionen wie "Stung" kann man sicherlich am internationalen Markt - insbesondere in dessen Heimkinosegment - konkurrieren; was allerdings das Kino (wenn's denn sein muss auch das deutsche, vor allem aber das Kino an sich) davon haben könnte, wenn man das tut, ist eine ganz andere Frage.

Tatsächlich wird alles, was nicht durchaus kompetente Effekthascherei ist, wie eine lästige Pflichtübung, aber deshalb noch lange nicht kurz und knapp, abgehandelt. Von der satirisch gemeinten High-Society-Party zu Beginn bleibt höchstens der deutsche Youtube-Star Daniele Rizzo in Erinnerung, der schief grinsend auf einer elektronischen Orgel vor sich hin klimpert. Und wenn die Wespen losschlagen, verzieht sich der Film schnell ins größtenteils reizarme Innere des Landhauses. Insbesondere die wenig prickelnde Romanze, die den beiden Hauptfiguren auf den Leib geschrieben ist, wirkt wie trister Dienst nach Vorschrift: Natürlich darf sich die erst sarkastisch-abweisende Julia (Jessica Cook) dem linkischen Charme Pauls (Matt O'Leary) irgendwann doch ergeben. Aber dass die beiden wirklich neugierig aufeinander sein könnten, nimmt man dem dröge Flirtversuche und verschämte Abcheck-Blicke brav aneinander reihenden Film nun wirklich nicht ab. Mehr als Händchenhalten ist vorerst sowieso nicht drin, weil: stechwütige Monsterwespen. Die freilich werden sich demnächst sicherlich gut machen, als Teil der upgedateten Diezreel.

Lukas Foerster

Stung - Deutschland 2015 - Regie: Benni Diez - Darsteller: Jessica Cook, Matt O'Leary, Clifton Collins Jr., Lance Henriksen, Daniele Rizzo - Laufzeit: 87 Minuten.