Im Kino

Mit den richtigen Gedanken entlassen

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Jochen Werner
18.07.2012. Der japanische Regisseur Sion Sono stellt in "Guilty of Romance" der japanischen Männergesellschaft ein vernichtendes Zeugnis aus. Madeleine Dewald und Oliver Lammert verbinden in ihrem klugen Essayfilm "Global Viral - Die Virusmetapher" Wissenschafts- und Geistesgeschichte.

Der Anfang von "Suicide Circle" und der Schluss von "Cold Fish", zumindest diese beiden Momente aus dem vielfältigen, erratischen, provokativen, brutalen Werk Sion Sonos werden bleiben, sie haben sich durch ihre rohe Wucht tief ins kollektive Gedächtnis der jüngeren Kinogeschichte eingebrannt. Die fröhlichen Schulmädchen, die Hand in Hand in das grotesk-überdeterminierte Blutbad ihres gemeinsamen Suizids springen, und der Familienvater, der seine entfremdete Sippe nach einem zweieinhalbstündigen Höllenritt in einem kathartischen, fiebrig amoralischen Showdown abschlachtet - beiden Sequenzen gemein ist eine Form von zwischen absurder Überzeichnung und finsterstem Naturalismus oszillierender Unbarmherzigkeit, die aus Sion Sono den vielleicht konsequentesten Blutpoeten des Gegenwartskinos macht. Einerseits.

Andererseits, und in diese Richtung gibt es jedenfalls außerhalb Japans noch viele Entdeckungen zu machen, ist Sion Sono weit mehr als der Meister des filmischen Exzesses, auf den die zitierten ikonischen Glanzlichter schließen lassen. Von den bisher knapp 30 Regiearbeiten des einigermaßen produktiven Filmemachers haben es zwar - zumeist Dank des ohnehin unverzichtbaren Verleihs Rapid Eye Movies - inzwischen immerhin sieben in die deutschen Vertriebswege geschafft, doch sowohl die Ursprünge im Avantgardefilm als auch die Abzweigungen seines Werkes in den experimentellen Pink-Film oder das Ozueske Familendrama sind noch weitgehend unerschlossen. Dabei wären gerade diese Umwege innerhalb seines Œuvres von größtem Wert, um die überbordend-barocke Inszenierung und die provokant amoralische Perspektivierung auch seiner Genrearbeiten besser einschätzen zu können.

"Guilty of Romance", mit dem Sono eine "Trilogie des Hasses" abschließt, die er mit dem vierstündigen "Love Exposure" begann und mit "Cold Fish" fortschrieb, setzt inmitten des Genrekinos an: mit hyperästhetisierten Schreckenstableaus zerstückelter Leichen und Schaufensterpuppen, die direkt aus David Finchers "Sieben" oder einem seiner zahllosen Epigonen stammen könnten. In den folgenden 140 Minuten werden wir aber nicht erneut den ausgetretenen Pfad des Serienmörderfilms entlanggeleitet, sondern werden von gleich zwei parallel geführten Erzählsträngen in ein Neoninferno aus Sexploitation, Psychostudie und radikalfeministischem Manifest gestürzt - jedenfalls in der um knapp 30 Minuten erweiterten Langfassung des Director's Cut, die durch Rapid Eye Movies nach einigen Festivalscreenings ihre internationale Erstauswertung erfährt.


Zunächst einmal folgt der Plot dabei der Protagonistin Izumi, die mit einem erfolgreichen Schriftsteller verheiratet ist, der zwar allerlei schöne Worte über Liebe und Leidenschaft zu Papier bringt, aber ansonsten vor allem auf die korrekte Stellung seiner Pantoffeln am Wohnungseingang bedacht ist und tiefe Dankbarkeit von seiner Gattin erwartet, wenn er sie - selten genug - seinen Penis anfassen lässt. Das Tor zur Welt außerhalb der sterilen und meist leeren gemeinsamen Wohnung öffnet sich für Izumi, als sie einen Job als Würstchenverkäuferin im Supermarkt annimmt - mit gönnerhafter Zustimmung des Ehemannes, der ihr soviel Selbstverwirklichung durchaus zuzugestehen bereit ist. Dass die sexuell ausgehungerte Izumi den Job nutzt, um sich in eine Reihe erotischer Abenteuer mit fremden Männern zu stürzen, ahnt er nicht - eine Entdeckungsreise in die eigene, unterdrückte Sexualität, die bald in exzessive, selbstzerstörerische Bahnen gelenkt wird.

Als Izumi im Supermarkt schließlich die Universitätsdozentin Mitsuko kennenlernt, die sie zuerst zu einem pornografischen Fotoshooting überredet und ihr schließlich ihre Philosophie nahebringt, derzufolge Sex mit Menschen, die man nicht liebt, ausschließlich gegen Bezahlung vollzogen werden sollte, beginnt für die zunächst noch zurückhaltende Hausfrau eine immer manischer ins Sadomasochistische (und, formal, ins Delirante) taumelnde Prostitutionskarriere. Visuell schwelgt Sono in grellsten Neonfarben, die das Gezeigte nicht nur ins Artifizielle übersteigern, sondern stellenweise zu überwuchern und in die Abstraktion zu stürzen scheinen: Völlig grandios etwa eine Sexszene unter der Dusche, in der sich die beiden Kopulierenden gegenseitig mit neonpinken Farbbomben besudeln.

Diese orgiastische, geradezu in die Kamera explodierende Farbdramaturgie, die in denkbar großem Kontrast steht zu den kalten Grauschleiern von "Cold Fish", wird vielleicht zum eigentlichen Skandalon von "Guilty of Romance", legt sich doch die popartige Stilisierung über die Figuren und überführt die gefährlichen Gemengelagen, die ihr Tun immer wieder zwischen Sex, Hass, Gewalt und Tod entstehen lässt, aus einem ethischen in ein ästhetisches Register. Fast scheint es, als lösten sich die Figuren, haben sie die Neonwelt von Maruyama-cho im Tokyoter Vergnügungsviertel Shibuya erst einmal betreten, in diesen Lichtern auf.

Die Fragmentierung des Individuums, die der Mordfall der Parallelerzählung vorwegnimmt und auf deren Spuren mit der Polizistin Yoshida eine weitere dieser unglücklichen, getriebenen Frauen ermittelt, ergreift so von Form und Erzählung des Films selbst Besitz und lässt seinen Protagonistinnen nur zwei Wahlmöglichkeiten. Entweder sie werden verschlungen, mit Haut und Haar, oder sie bleiben zurück in der Ödnis ihrer einsamen Häuser und unglücklichen Ehen. Das Zeugnis, das der bedeutende Filmemacher Sion Sono der japanischen Männergesellschaft ausstellt, ist einmal mehr ein vernichtendes. Und diese Farben, ach! Man muss sie gesehen haben.

Jochen Werner

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Der Siegeszug der Viren ist in gleich mehrfacher Hinsicht beeindruckend: Einerseits haben sie sich als nicht ganz lebendige, aber auch nicht ganz tote Informationsträger im langen Lauf der Erdgeschichte als wendig genug erwiesen, um die biologischen Hegemonien zahlreicher Spezies zu begleiten und zu überdauern. Andererseits blieben sie für lange Zeit - bis zur Erfindung des elektronischen Mikroskops in den 30er Jahren - dem menschlichen Auge entzogen und geisterten als rätselhafte Latenzen durch die wissenschaftlichen Journale. Nicht zuletzt infizierten sie als ideale Metapher die Sprache der Menschen und prägten zahlreiche Diskurse von der Philosophie über politische Ideologie bis hin zur Sprache der Werber.

In ihrem klugen Essayfilm "Global Viral - Die Virusmetapher" legen Madeleine Dewald und Oliver Lammert den Virusdiskurs Schicht für Schicht frei. Zu Wort kommen Virologen und Biologen, Philosophen und Informatiker, HIV-Forscher und an HIV Erkrankte, der Weg führt in wissenschaftshistorische Papier- und audiovisuelle Online-Archive, in sterile Forschungseinrichtungen und ins Schwulencafé. Schon in dieser Zusammen- und Engführung von lebensweltlicher Praxis und lebensfernen Laborbedingungen, von gesellschaftlichen Institutionen mit ihren Fachexperten, die im Alltag in weit voneinander entfernten Seitenarmen der Wissenschaft hantieren, zeigt sich der kulturelle Siegeszug des Virus, für den sich viele zuständig fühlen, über den viele etwas zu sagen haben und dessen Spezifität viele dankbar aufgreifen, um kulturelle Phänomene zu beschreiben, begreifbar zu machen oder auch zu verdunkeln.


Es entsteht eine auch audiovisuell reizvolle (und darin zum Glück nie reißerische, sondern ihre Mittel stets reflektierende) Vermittlung von Wissenschafts- und Geistesgeschichte, die zugleich Brücken zu heutigen ethischen und poltischen Fragestellungen schlägt: Wie steht es um das Verhältnis zwischen Nutzen und Missbrauchsanfälligkeit biologischer Forschung? Welche Verhaltensformen ziehen aktuelle Erfolge in der Aidsforschung inbesondere unter jungen Schwulen, für die die Aidshysterie der 1980er Jahre zur Ahnengeschichte zählt, nach sich? Verbirgt sich hinter der Konjunktur der Virus- und Parasitenmetapher in philosophischen Diskussionen nicht doch eine streng konservative Haltung, die die heutige Komplexität von Kultur und Gesellschaft insbesondere auch an deren Rändern nicht zu beschreiben in der Lage ist? Nicht zuletzt aufgrund des textreichen, stark literarisch arbeitenden (und von zahlreichen Literatur-Zitaten durchsetzten) Voice-overs rückt "Global Viral" in dieser Kombination aus Interviews und audiovisueller Collage, mit seinen Ton-Bild-Scheren und seinem oft rätselhaften, bei genauerem Hinsehen aber stets passenden Illustrationsmaterial in die Nähe der jüngeren Fernseharbeiten Alexander Kluges. Man könnte vielleicht auch sagen: Es handelt sich hier wie dort um begehbare kulturwissenschaftliche Studien.

Vorwerfen lässt sich dem Film vielleicht, dass er - insbesondere im Epilog, der nochmal eindringlich und unmissverständlich unterstreicht, dass der Untersuchungsgegenstand des Films die Virusmetapher, nicht das Virus selbst ist - zuweilen eine Spur zu didaktisch ist: Für manche Punkte hätte man sich etwas mehr Raffung, etwas mehr Lakonie und Zuspitzung fürs aktive Mitdenken gewünscht. Man soll nicht mit Gedanken, sondern mit den richtigen entlassen werden. Doch das ist leicht verschmerzlich. In jedem Fall geht man aus diesem Film als klügerer Mensch.

Thomas Groh

Guilty of Romance - Japan 2011 - Originaltitel: Koi no tsumi -Regie: Sion Sono - Darsteller: Megumi Kagurazaka, Miki Mizuno, Makoto Togashi, Kanji Tsuda, Ryô Iwamatsu, Cynthia Cheston - Länge: 144 min.

Global Viral - Die Virusmetapher
- Deutschland 2010 - Regie: Madeleine Dewald, Oliver Lammert - Darsteller:(Mitwirkende) Prof. Manfred Geier, Prof. Dr. Reinhardt Kurth, Prof. Dr Herbert Schmitz, Jan van Aken, Constanze Kurz, Günther Gaida - Länge: 80 min.