Im Kino

Melodramen im Kopf

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
07.03.2012. In Ozan Aç?ktans Komödie "Sen Kimsin?" verbeißt sich ein Detektiv in seine eigenen Hirngespinste und ist am Ende trotzdem erfolgreich. Andrew Stantons bierernster Fantasy-Blockbuster "John Carter" zelebriert den mithilfe der 3D-Technik zugerichteten Blick.


Tekin (Tolga Çevik) ist ein Privatdetektiv der unglücklicheren Sorte: Gleich zu Beginn gerät er, auf der Jagd nach einem untreuen Ehemann, einem aufwändigen Polizeieinsatz in die Quere. Als er bald darauf mit seinem noch derangierteren Bruder und Partner Ismail in seinem zugemüllten Büro (inklusive handbetriebenem Ventilator) sitzt, klopft Suzan, eine, wie könnte es anders sein, geheimnisvolle Blondine, an die Tür. Sie muss nur kurz erwähnen, dass ihre Tochter seit ein paar Tagen verschwunden sei, schon glauben Tekin und Ismail zu wissen, was passiert ist: Gangster haben die Tochter, Pelin, entführt, sie anschließend an einen Nachtclub verkauft, wo sie sich prostituieren muss und wo ihr zu allem Überfluss vielleicht auch noch diverse Organe entnommen werden. Auf diese Hypothese kommen die beiden Detektive nicht aufgrund ihrer Kombinationsgabe, sondern aufgrund ihrer Kenntnis der Filmgeschichte. Denn die Geschichte vom gefallenen Mädchen in den Fängen der Unterwelt hat das türkische Kino wieder und wieder erzählt, in unzähligen Variationen.

Die Sechziger und Siebziger Jahre, in denen derartige Melodramen wie am Fließband produziert wurden, waren das goldene Zeitalter der türkischen Filmindustrie, die damals, nach der italienischen die zweitproduktivste Europas war. In den Achtzigern und Neunzigern brach der Markt dann fast komplett zusammen - etwas später als in den westeuropäischen Ländern, aber dafür umso gründlicher. In den letzten zehn Jahren jedoch gelang dem türkischen Kino ein erstaunliches Comeback: Die einheimischen Produktionen haben sich, mit neuen Stars und neuen Genres, ihr Publikum zurückerobert, sowohl 2010 und 2011 waren die fünf erfolgreichsten Filme des jeweiligen Jahres türkische Produktionen.

Der neue Kinoboom hat auch Ärgernisse hervorgebracht, insbesondere die inzwischen offen antisemitische "Tal der Wölfe"-Serie, getragen aber wird er von spielerischen, liebevoll gemachten Komödien. Die besten dieser Comedy-Blockbuster drehen der Regisseur Hakan Algül und sein Star Ata Demirer. Kaum irgendwo auf der Welt werden derzeit Filme gemacht, die so zärtlich mit ihren Figuren umgehen, wie "Eyyvah Eyvah", der Nachfolger "Eyyvah Eyvah 2" oder "Berlin Kaplan?" (der neueste Film des Teams, der noch immer in mindestens einem Berliner Kino zu sehen ist) es tun.



Deren Qualität hat "Sen Kimsin?" nicht, dazu sind sowohl seine Geschichte, als auch seine Bilder zu eng gestrickt, dazu weiß der Film immer etwas zu schnell Bescheid darüber, was die Aufgabe und die Wesensart seines Personals ist. Eine schöne, dynamische, elegant gefilmte Komödie ist dem jungen Regisseur Ozan Aç?ktan aber dennoch gelungen: "Sen Kimsin?" ist ein Film voller Missverständnisse, Verfolgungsjagden und falscher Bärte, in dem dennoch gelegentlich Raum bleibt für schöne Nebenfiguren wie einen Teeverkäufer, der vergeblich versucht, im Detektivbüro Schulden einzutreiben.

Mit der hard-boiled-Parodie des Beginns hält sich der Film glücklicherweise nicht allzu lange auf, es geht dann eher um Tekin selbst. Der Hauptdarsteller Tolga Çevik ist ein Körperkomiker, kein Tollpatsch im engeren Sinne, eher ein verhinderter Meister der Selbstinszenierung, der sich in immer neue Posen zu werfen versucht und dabei nicht an Unvermögen, sondern an übersteigertem Ehrgeiz, an einer inneren Ungeduld scheitert. Wenn er sich wie eine Cartoonfigur unter einem tief hängenden Balken hindurch biegt, zeigt Çevik außerdem, dass in ihm ein großer Slapstickschauspieler steckt, einer, der auch im Stummfilmkino gut aufgehoben gewesen wäre - ein Potential, das der Film ansonsten leider etwas verschenkt.

Es geht auch um das Träumen von einem anderen Leben. Andauernd stellen sich die Figuren in dem Film gegenseitig die titelgebende Frage "Sen kimsin?", "Wer bist Du?". Ein wirkliches Interesse am Gegenüber aber hat kaum jemand, es geht lediglich um die Suche nach Bestätigung der eigenen Projektionen. Und niemand stürzt sich so enthusiastisch in die eigenen Hirngespinste wie Tekin, der sich von so etwas banalem wie der Wirklichkeit grundsätzlich nicht aus der Bahn werfen lässt, den schon eine Sonnenbrille in die funky Siebziger zurückbefördern kann. Die Melodramen im Kopf sind längst auch im türkischen Kino überzeugender als die in der Aktualiät; dass der arme Tekin am Ende tatsächlich die reiche Pelin bekommen könnte, das glaubt außer ihm selbst niemand mehr. Die - ohnehin eher dilletantisch und halbherzig durchgeführte - Verschwörung, hinter der selbstverständlich kein organmafiöse Zuhälter steckt, sondern (das ist wirklich kein nennenswerter Spoiler) die Auftraggeberin Suzan selbst, scheitert dann auch nicht an der Deduktionskraft des Detektivs, sondern an der unberechenbaren Sturheit, mit der sich der Detektiv in seine eigenen Fantasien verbeißt.

Lukas Foerster

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In Jared Hess' bislang letztem Film "Gentlemen Broncos" möchte ein junger Provinznerd Science-Fiction-Autor werden. Was ihm vorschwebt, sind fantastischste Space-Opera-Szenarien mit wild anzusehenden Kriegern in abstruser Kleidung, die sich auf fernen, kargen Planeten mit noch wilderen Spacelords anlegen. Naivste Gigantismus-Fantasien, im fertigen Film als filmisch umgesetzte Trash-Snacks mit einigem Gewinn eingestreut, gegen die sich selbst schon der frühe Perry Rhodan als Vorstudie zu Kubricks "2001" und anderer avancierter Science Fiction ausnimmt; eine für das - ja ohne weiteres ernstzunehmende - Genre so peinliche wie amüsante Erinnerung an ihren literarischen Ursprungsmoment zwischen naiver Abenteuer-Bubenliteratur mit Motiven aus ins Weltall versetzten exotistischen Nautikfantasien und einer unbekümmerten Weiterentwicklung von Rittergeschichten und dem Fundus von Mythos und Phantastik.

Auch der "John Carter"-Stoff, den der ansonsten vor Computern arbeitende Pixar-Regisseur Andrew Stanton in seinem ersten Live-Action-Film mit kolportierten 250 Millionen Dollar Einsatz auf die Leinwand wuchtet, entspringt dieser literarischen Ursprungsgemengelage: Entwickelt hat ihn Edgar Rice Burroughs am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Dass der Stoff eine gewisse motivische Nähe zu Burroughs berühmtester Figur Tarzan aufweist, darf nicht wundern, schließlich entstanden Carter und Tarzan etwa zeitgleich unter quasi-industriellen Arbeitsbedingungen. Beide Figuren sind gewissermaßen Exilanten mit übergroßen Fähigkeiten in einer ihnen an sich von Grund auf fremden Umwelt, die sie zu ihrem Territorium erklären: Was Tarzan der Dschungel ist, ist dem Erdenmann John Carter der Mars, von den Marsbewohnern "Barsoom" genannt, wo der US-Bürgerkriegsveteran Carter seine in der neuen Umgebung übermenschlichen Kräfte nicht nur im Kampf zwischen zwei verfeindeten Lagern einsetzt, sondern auch das Herz einer Prinzessin für sich gewinnen kann.

Fantastische Raumgleiter stehen hier im harten Kontrast zum barock-antik wirkenden Inventar der Palastanlagen und der ebenso an die alten Römer erinnernde Kleidung der Marsbewohner adeliger Herkunft, deren Intrigen wiederum direkt Cäsar, Mark Anton und Kleopatra abgeschaut sind. Daneben gibt es Bestiarien aller Art - das sympathischste Stück: eine Art reptilienartiger, übergroßer Dackel als Carters Sidekick -, exotisch klingende Marssprachen und eine profund lächerliche Erklärung, warum Carter mit einem Mal die fremde Sprache zu verstehen in der Lage ist.



Zwischen all dem angehäuften Pulp-Plunder erahnt man zwar, warum die rund 30 Jahre lang von Burroughs gemelkten "Barsoom"-Szenarien zentrale Stichwortgeber für Frank Herberts "Wüstenplanet" oder George Lucas' "Star Wars" waren. Fraglich bleibt dennoch, ob auf ein schon in "Barbarella" (1968), spätestens in "Flash Gordon" (1980) und schließlich auch nachdrücklich in "Gentlemen Broncos" (2009) nurmehr unter dem Vorzeichen von Camp, Trash und Ironie verhandelbares Produktionsdesign 2012 tatsächlich noch mit Prunk und Glorie insistiert werden sollte, nur weil heutige Digitaltechnologie es ermöglicht. "John Carter" bebildert den Ursprung eines Genres, das dessen entscheidende Impulse längst schon weiterverarbeitet und verfeinert hat: Beim ersten "Star Wars" über den Umweg des japanischen Samuraifilms hin zu einer realistischen Texturästhetik einer abgewetzt verstaubten Welt, bei "Barbarella" und "Flash Gordon" in einer ironischen Auslotung von Lächerlichkeitspotenzialen. "John Carter" erklärt diese Genregeschichte jedoch für ungültig - und dies in einer teils elend plump rakontierenden Plotmaschinerie, die gerade mittig zu nicht enden wollenden Dialogisierungen des Geschehens ausartet, als ob man in effektgestütztes Blockbusterkino nur deshalb geht, um einen Plot erzählende Menschen in halbnahen Einstellungen zu sehen: Das Blockbusterkino, das sich gerade durch seine Raumdynamisierungen und eine atemlose, nach vorn drängende Erzählweise auszeichnet, schmurgelt hier zum Drehbuchknecht im Kammerspiel zusammen.

Weit ärgerlicher ist aber die bezeichnend einfallslose 3D-Inszenierung: Auf der gerade zuende gegangenen Berlinale konnte man mit Tsui Harks "Flying Swords of Dragon Gate" ein atemberaubendes, elektrisierendes Beispiel dafür sehen, wie eine adäquate 3D-Inszenierung heute aussehen könnte: Der Hongkong-Regisseur geht einige Schritte weit auf Distanz, hält seine Kamera unbedingt tiefenscharf und modelliert die Körper seiner Darsteller damit aus dem Raum regelrecht heraus. Das Ergebnis ist tatsächlich ein neuer Erzählraum von ungeheuer plastischer Präsenz. Bei "John Carter" indessen wurde die zweite Kameralinse auf ein Set gebracht, an dem eigentlich ein 2D-Film entstehen sollte: Gefilmt wird oft in Halbnahen, mit einem klar definierten Schärfebereich, der sauber die unscharfe vordere und die unscharfe hintere Bildebene vom eigentlichen Geschehen abhebt: Der 3D-Effekt als Budenzauber im verqueren Bild, glatter Betrug am Zuschauer. Kaum einmal, dass man den Blick im weiten Raum einer Panoramaeinstellung gleiten lassen kann - obwohl sich doch gerade die karge Mars-Landschaft für solche Money-Shots anbieten würde. 3D ist hier, da offenkundig als bloßes Ticketverteuerungsgimmick eingesetzt, Disziplinierung des Zuschauers: Zugerichteter Blick statt Schauenkönnen. Nichts also, was man sich ansehen sollte.

Thomas Groh

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Außerdem diese Woche neu:

"Barbara" von Christian Petzold. Hier unsere Berlinale-Kritik.
"Haywire" von Steven Soderbergh. Hier unsere Berlinale-Kritik.

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Sen Kimsin? - Türkei 2012 - Regie: Ozan Aç?ktan -Darsteller: Tolga Çevik, Köksal Engür, Pelin Körmükçü, Zeynep Özder, Toprak Sergen, Zeynep Özder, Çetin Altay, Orçun Cevher, Hikmet Günay - Länge:105 min.

John Carter - Zwischen zwei Welten - USA 2012 - Originaltitel: John Carter -Regie: Andrew Stanton - Darsteller: Taylor Kitsch, Lynn Collins, Willem Dafoe, Samantha Morton, Mark Strong, Ciarán Hinds, Dominic West, James Purefoy, Daryl Sabara, Polly Walker - Länge:132 min.