Im Kino

Liebeskranker Bücherwurm

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
29.07.2015. Ein wunderschöner, das Genre reflektierender Western ist John Maclean mit "Slow West" gelungen. In Naomi Kawases "Still the Water" stehen sich großspurige Themen und kleinformatige Schönheiten unversöhnlich gegenüber.

"Es war einmal": So beginnen Märchen. Doch dann: "Im Jahr 1870, um genau zu sein." So beginnen Märchen gerade nicht. Eine Form wird angedeutet, eine Erwartungshaltung etabliert, nur um sie sofort wieder zu unterlaufen: Märchen sind im ahistorisch diffusen Zeitraum verortet, irgendwann, irgendwo in einer Zeit jenseits unseres Zugriffs oder einer genauen Datierbarkeit. Und schon gar nicht im Sinn eines historischen Berichts festlegbar. Damit gibt uns John Macleans tolles Langfilmdebüt "Slow West" schon im ersten, noch ganz ohne Bild gesprochenen Satz eine gedankliche Notiz für das Folgende mit auf den Weg: Hier wird eine Form, ein Genre zur Hand genommen, um dann sehr beiläufig und ohne viel Aufregung Dinge damit zu machen, die man nicht erwarten würde, ohne den vorgegebenen Rahmen je wirklich zu verlassen. Auch wenn es kein Märchen ist, ist es eben schon: ein Vexierbild der Form.

Das erste Bild zeigt dann einen nächtlichen Sternenhimmel: Der 16-jährige Jay (Kodi Smit-McPhee) liegt in der Prärie des Wilden Westens, deutelt in der Masse der nächtlichen Lichtpunkte herum, identifiziert Sternbilder und schießt - pew, pew, pew - mit der Pistole imaginär am Oriongürtel entlang. Mustererkennung auch hier: Eine Zuschreibung von Bedeutung, die dem Gegenstand allerdings gar nicht wesentlich ist (als ob die Sterne Alioth, Mizar und Benetnasch von einem Bär je auch nur gehört hätten oder die am Firmament sich abspielenden Dramen mit Begriffen wie Drache oder Pegasus nur irgendwie erfasst wären). Aber auch: Jay als Hans Guck-in-die-Luft, der noch, wenn er mit dem Rücken fest auf dem Boden liegt, sich eher in seinen Projektionen und Wolkenschlössern tummelt, als sich für die Erde direkt unter ihm zu interessieren. Man könnte sagen: Ein Romantiker, also einer, dem Sympathie und Emphase des Publikums gehören sollten.

Eine Projektion ist es auch, die ihn, Sohn einer schottischen Adelsfamilie, von den grünen Hügeln seiner galanten, alteuropäischen Heimat hierher, in die vor Hitze glühende Steppe des Wilden Westens und dessen Zauberwälder gebracht hat: Ein Mädchen, Rose (Caren Pistorius), die ihre Vergegenständlichung schon im Namen trägt: Eine Blume, die es zu pflücken gilt, ein Symbol. Mit ihr ist er in Schottland herumgetollt, in ihr sieht er seine wahre Liebe (auch wenn sie von ihm als "kleinem Bruder" sprach), dann ist sie mit ihrem Vater in die USA ausgewandert, wohin ihr der liebeskranke Bücherwurm nun folgt: Schmächtig, mit vielen gelehrten Formulierungen auf den Lippen und einigem Buchstabenwissen, das ihm freilich nichts bringt, wenn ihm die verdreckten Galgenvögel, die die Prärie des jungen Staates bevölkeren, die Knarre unter die Nase halten.

Auftritt Michael Fassbender als Silas Selleck, ein von Restbeständen ethischen Bewusstseins geplagter Kopfgeldjäger, der in dem Naivling erst eine leichte Geldquelle sieht - der Schutz gegen Entlohnung ist rasch vorgeschlagen - und schließlich auch, nachdem er sieht, dass auf Rose samt Vater ein saftiges Kopfgeld ausgesetzt ist, einen nützlichen Idioten.


Teils Kopfgeldjäger-Thriller (natürlich gibt es Konkurrenz), teils Geschichte von galantem Rittertum, teils, eben auch, klassischer Western und lakonisch-spröde Komödie - und nicht zuletzt sanfte Genremythen-Subversion, die, wie in den ersten Minuten des Films, Vorannahmen und Erwartungen immer wieder als ungültig bloßstellt: "Slow West" ist das schöne Beispiel eines intelligenten, verspielten, sicher auch "kleinen", aber dennoch mit viel Liebe ans Werk gehenden Westerns, der sich der Geschichte des eigenen Genres (und der eigenen Position darin) stets bewusst ist.

Im Kern ist "Slow West" auch eine Auseinandersetzung mit dem alten Genremythos von der Landnahme, der sich in der Eroberung der Frau spiegelt: Wer das Land durchkreuzt und meistert, pflückt am Ende auch die Rose. Am Ende, in einem der schönsten und dramastischsten, vor allem aber: melancholischsten Shoot-Outs des Genres seit Jahren, singt Fassbender vom "Preis", um den Männer, die Waffen aufeinander richten, kämpfen, während der Film auf Rose schneidet. Nur dass es sich in einem Film, in dem es allen romantischen Gesten zum Trotz immer noch eine Wendung in der Wendung gibt, damit nicht hat: Am Ende steht eben nicht die Befriedigung des romantischen Überschusses, sondern die Einsicht ins solidarische Bündnis einer Patchwork-Familie.

Man glaube kein Wort, wenn Leute davon sprechen, dass der Western, das älteste und einst vitalste Genre des Kinos, tot sei. Er mag quantitativ lange nicht mehr im alten Maßstab liefern. Aber am Ende ist es die Qualität, die zählt. Und mit Filmen wie "Meek"s Cutoff", "The Homesman", "Gold", "Das finstere Tal", "The Salvation", jetzt eben "Slow West" und den noch kommenden, sehr hoffnungsvoll stimmenden Kandidaten "The Hateful Eight" (Tarantino) und "The Revenant" (Iñárritu) zeigt sich, dass sich eines der schönsten Genres der Filmgeschichte schon seit geraumer Zeit in einem großartigen, aufregenden, golden durchstrahlten Indian Summer befindet.

Thomas Groh

Slow West - Großbritannien, Neuseeland 2015 - Regie: John Maclean - Darsteller: Kodi Smit-McPhee, Michael Fassbender, Ben Mendelsohn, Caren Pistorius - Laufzeit: 84 Minuten.

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Es beginnt wuchtig: Meerwasser türmt sich auf, Wellen schäumen und rauschen ohrenbetäubend. Nach drei Einstellungen hat sich das Meer freilich schon beruhigt, der malerisch-herbe Strand - "Still the Water" spielt und ist gedreht auf Amami-Oshima, einer winzigen Insel im Süden Japans, fernab der urbanen Ballungsgebiete - schimmert im Morgenlicht, die Spuren der Naturgewalt noch in ihn eingeschrieben, als Pfützen. Dann wird eine Ziege geschlachtet, in Großaufnahme durchtrennt ein Messer die Tierhaut, rotes Fleisch klafft. Eine erste Gewalttat, die, wie eine kultische Handlung, Kultur von Natur scheidet, und die sagt: Wo Menschen sind, ist Unheil. Wenige Szenen später findet der junge Kaito die Leiche eines tätowierten Mannes im Meer treiben.

Kaito ist ein linkischer, zurückhaltender Schüler, der mit seiner alleinerziehenden Mutter lebt. Die ist oft nicht da, wenn er nach Hause kommt. Sie ruft ihn dann an, um ihm zu sagen, dass das Essen im Kühlschrank steht. Er hat, während sie ihm das erzählt, die Mahlzeit bereits entdeckt und aufgewärmt. Vermutlich geht es beiden vor allem darum, ein paar Worte zu wechseln. Die Mutter hat wechselnde Liebhaber, der Tote im Meer vom Anfang war, erfährt man bald, einer davon. Der Vater ist in die Großstadt gezogen, in einer tollen Szene besucht Kaito ihn und findet einen prekär lebenden Tätowierer vor, begleitet ihn durch eine Tokyoter Slacker-Nacht, an deren Ende sie gemeinsam ein Schwimmbad besuchen, bevor er zurück fliegt. Zu sagen hat Kaito seinem Erzeuger wenig. Das ist einfach ein weiterer tätowierter Mann, der ein paarmal mit seiner Mutter geschlafen hat.

Wo bei Kaito alles Zerrissenheit, Verlust, Gehemmtheit ist, steht seine resolutere, neugierigere Mitschülerin Kyoko mit beiden Beinen sicher auf der Erde - wobei man andererseits kaum glauben kann, dass ihre tolle Darstellerin Jun Yoshinaga schon über 20 Jahre alt ist; bei Kawase wirkt sie wie die personifizierte jugendliche Neugier. Kyoko ist Teil einer funktionierenden Großfamilie, fühlt sich im Elternhaus (entspanntes Beisammensein auf der Veranda, das sich organisch in musikalische Darbietungen fortsetzt) und auch sonst wohl in der Welt. Gleich in einer der ersten Szenen gleitet sie elegant und dynamisch durch das türkis schimmernde, warme Pazifikwasser. Die Kleider behält sie dabei vorerst noch an, als sie wieder auftaucht, steht Kaito am Strand, er, der ihr kaum einmal offen in die Augen schauen kann, fährt sie mit dem Fahrrad nach hause, ihre Bluse trocknet im Fahrtwind.

Die Opposition, in die Naomi Kawase ihre beiden Hauptfiguren einspannt, ist erst einmal eine ziemlich absolute. Sie ist das in die Elemente und auch in die (halbwegs) traditionelle Lebensweise integrierte nature girl, er ein von Gott und der Welt verlassener, sich in seiner eigenen Haut unwohl fühlender Sonderling - eigentlich: ein typisches Großstadtkind, dessen ontologische Entfremdung vom Wahren, Guten, Schönen vor der atemberaubenden Naturkulisse Amami-Oshimas nur umso offensichtlicher wird.


Es lässt sich kaum leugnen, dass der Film, wenn man ihn von dieser Seite betrachtet, ein ziemlich reaktionäres Programm hat. Das durch Kawases Hang zum Symbolismus und zum Elementaren nicht unbedingt erträglicher wird. Master-Metapher ist, darauf verweist schon der Titel, das Wasser. In dem bewegt sich Kyoko, siehe oben, wie ein Fisch, Kaito dagegen scheut das Element fast wie eine Katze. Analog begreift sie Tod und Sex als integralen Teil des Lebens, er dagegen hat Angst vor der Leiche im Wasser, und die aggressive Sinnlichkeit seiner Mutter schreckt ihn erst recht ab - den eindeutigen Avancen Kyokos entzieht er sich und murmelt: "Ich verstehe die Frauen nicht, alle wollen sie Sex". Sieht man "Still the Water" als jenen großformatigen Film voller großformatiger Themen, als der er höchstwahrscheinlich gemeint ist, als ein metaphysisch und naturreligiös angehauchtes Epos über Sex und Tod, Mann und Frau, Alt und Jung, Land und Stadt, gutes Wasser und böses Wasser, dann kann man aus gutem Grund skeptisch werden; und sich spätestens beim fast schon camptauglichen Finale entgeistert an den Kopf greifen.

Was in einer solchen Lesart allerdings ganz und gar nicht aufgeht: Der ungezwungene Rhythmus des Films sowie die fragile Textur seiner Bilder. Lange verfolgt Kawase den Alltag der beiden Protagonisten ohne allzu viele dramaturgische Zuspitzungen, beobachtet sie in alltäglichen sozialen Situationen. In der szenischen Auflösung, auch in der Arbeit mit den durchweg großartigen Darstellern, ist der Film alles andere als großspurig. "Still the Water" ist ein Film, der stets bereit ist, sich von kleinen Natur- oder auch von in Gesichtern eingeschriebenen Gefühlsschönheiten ablenken zu lassen, der aufmerksam den Geschichten der Alten zuhört und geduldig die Ängste der Jungen erträgt. Die Kamera sucht dazu nach Bildern, die nicht auf wertende oder wenigstens kontrollierende Distanz gehen, die sich, in Mikrobewegungen, oder auch - in Bezug auf den erzählerischen Gehalt - unverhältnismäßigen Großaufnahmen, von ihren Objekten affizieren lassen. Der Blick auf die Figuren kennt auch in intimen Momenten keine Scheu (wobei Kawase, anders als in einigen früheren Werken, die Grenze zur Gefühlspornografie nie überschreitet), ihm haftet jedoch stets etwas Unsicheres, Tastendes an.

Interessant ist der Film auch deshalb, weil sich diese beiden Aspekte nicht gegeneinander ausspielen lassen (wie das manche bei den wenigstens auf den ersten Blick verwandten Filmen Terrence Malicks versuchen). Die Feinheiten der Inszenierung erretten so wenig den symbolistischen Overkill, wie die gespreizte Naturmystik die sorgfältigen und zutiefst humanistischen Figurenzeichnungen desavouiert. Der Riss lässt sich auch nicht an bestimmten Szenen festmachen, sondern zieht sich durch jede einzelne Einstellung; jedes einzelne Bild illustriert ein antimodernes Vorurteil - und ist gleichzeitig Zeugnis eines offenherzigen Blicks auf die Welt, der zu diesem Vorurteil in einem absoluten, nicht vermittelbaren Widerspruch steht.

Lukas Foerster

Still the Water - Japan 2014 - Originaltitel: Futatsume no mado - Regie: Naomi Kawase - Darsteller: Nijiro Murakami, Jun Yoshinaga, Miyuki Matsuda, Tetta Sugimoto, Makiko Watanabe - Laufzeit: 121 Minuten.