Im Kino

Liebe, Luftkampf, Legendenbildung

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
02.05.2007. Die Extreme des Kinos: Sam Raimis "Spider-Man 3" ist einer der teuersten Filme aller Zeiten und randvoll mit Liebe und Luftkampf. Kein Budget hatte der deutsche Regisseur Carsten Gebhardt für seinen Episodenfilm "Wochentage" - und macht das beste daraus.
"Spider-Man 3", die zweite Fortsetzung der erfolgreichsten Comic-Verfilmung der jüngeren Hollywoodgeschichte, gehorcht einer einzigen Logik: der der Überbietung. Es gibt diesmal von allem - Liebe, Luftkampf, Legendenbildung - einfach mehr, sehr viel mehr sogar als in den ersten beiden Teilen. Am Anfang kommt man aus dem Staunen kaum mehr raus - darüber vor allem, dass der Film ohne Scheu vor Überladung ein Fass nach dem anderen aufmacht. Denn Peter Parker (Toby Maguire) kämpft an allen Fronten: Er wird aus der Luft, aus dem All, aus der eigenen Psyche, aus der Vergangenheit, in seinem Job bei der Zeitung und sogar in seiner Liebe zu Mary Jane (Kirsten Dunst) attackiert. Die Gegner und Feinde sind schwarz und glibbrig (eine digital animierte Ekelmasse aus dem All), spitzzähnig und beißfreudig (Schurke Venom, gespielt von Topher Grace), sandig und riesig (Schurke Sandman, gespielt von Thomas Haden Church) und auf Rache aus für den nach wie vor - und tot wie er ist - Forderungen stellenden Goblin-Vater (Teilzeit-Schurke Harry/New Goblin, wiederum dargestellt von James Franco).

Fragt sich nur: Wie macht man aus diesem Überangebot an Attraktionen einen Film, für den selbst die 140 Minuten, die er währt, recht knapp bemessen scheinen? Erfreulicherweise belässt es Sam Raimi, diesmal in Sachen Drehbuch unter anderem von seinem Bruder Ivan unterstützt, nicht bei der Methode "keep it simple", sondern packt diverse, teils heftige Charakterumschwünge und Ambivalenzen obendrauf. Wie überzeugend man das findet, hängt ein wenig von der Haltung zur in den ersten Teilen mit einigem Ernst ausgestellten Adoleszenz-Empathie ab. Wer bisher mit Peter Parker an Liebeskummer und Fadenproduktionspotenzproblemen litt und gerade dies die Superheldentalente balancierende Moment der Erdenschwere zu schätzen wusste, der wird diese Form von nur bedingt subtilem Realismus im dritten Teil gewiss ein wenig vermissen. Zu schnell wechselt die Stimmung hier von himmelhochschwingend zu tödlich betrübt und wieder zurück. Dies Hin und Her wird aber nicht in erster Linie psychologisch begründet, sondern durch den Glibberspinnen-Parasiten, der, wenn er seinen Wirt befällt, dessen böse Seiten zum Vorschein bringt.

Er tut dies auch bei Spider-Man, innerlich wie äußerlich. Wie in eine zweite Haut schlüpft Peter Parker, charakterlich verdüstert, in ein schwarzes Kostüm und legt, zur weiteren Demütigung der als Musical-Star gescheiterten Mary Jane, einen richtig fiesen Auftritt mit blonder Gespielin im Jazzlokal hin. Gewiss ist er als schwarze Spinne nicht er selbst - den Mut der Macher, mit dem Charakter ihres Helden fast ohne Netz und doppelten Boden zu experimentieren, muss man dennoch bewundern. Und durch diese mit parasitischer Hilfe hochbeschleunigte Charaktertransformation doppelt sich die Abenteuergeschichte doch noch - und gar nicht so simpel adoleszenzpsychologisch - zum Bildungsroman, aber unterm dem Genre angemessenen Gesetz, dass alles Innerliche zu auch äußerlich sichtbarer Darstellung gebracht werden muss. Und so geschieht es. Der innere Konflikt wird äußerer Kampf. Die verschattete Seele zeigt sich in der verfinsterten Spinnen-Montur. Noch Peter Parkers Einbildung, am Tod des Onkels schuldig zu sein, äußert sich als so ungreifbare wie riesenhafte Wiederkehr des Verdrängten. Und noch diese verkörperte Wiederkehr als Sandman ist von ambivalentem Charakter, ein Mörder, der seine Tochter liebt und selbst schwer trägt an seiner Tat - ohne dass dies seiner zerstörerischen Wut sonderlich Abbruch täte.

"Spider-Man 3" erzählt unendlich viel und das gelingt, weil der Film das bisher Geschehene zum einen umstandslos als bekannt voraussetzt, zum anderen ein noch einmal entspannteres Verhältnis zur eigenen Mythologie entwickelt - ohne dass ihm ein Fauxpas passierte wie der Verweis auf Ebay im zweiten Teil, der die schöne Illusion einer gegenwartsnahen, aber doch entschieden fiktionalen Parallelwelt schnöde zerstörte. Am schönsten zeigt sich das diesmal, wenn Spider-Man zum Ehrenbürger New Yorks ernannt, das ganze öffentlich gefeiert wird und Peter Parker bei der Gelegenheit allzumenschliche Eitelkeiten offenbart. Spidey ist für diesen Moment ein Popstar, nicht anders als, sagen wir, der Papst oder Knut - und dass die Filmemacher diese reflexive Pointe mit ihres Helden fast kindlicher Charakterschwäche kurzschließen, das bringt das Gelingen der "Spider-Man"-Serie vielleicht am besten auf den Punkt: Sie spielt mit dem Mythos und nimmt ihn doch Ernst. Sie ist ziemlich klug, aber selten zu clever. Und sie findet, wenn es sein muss, den richtigen Ton fabulatorischer Unschuld, ohne darum den Betrachter oder die Figuren für dumm verkaufen zu müssen.

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"Spider-Man 3" ist, in absoluten Zahlen und ohne Inflationsbereinigung, mit einem offiziellen Budget von 258 Millionen Dollar der teuerste je gedrehte Film. Der Zufall will es, dass in derselben Woche - wenn auch nicht am selben Tag, da Sony Pictures es sich leistet, das jüngste Spinnen-Werk außer der Reihe am Dienstag in die Kinos zu bringen - ein quasi ohne Budget, am äußersten Rand noch des deutschen Kinobetriebs entstandener Film wie Carsten Gebhardts "Wochentage" anläuft. Und der ist in wirklich jeder Hinsicht das Gegenteil von Sam Raimis mit Handlung, Action, bunten Bildern, Schnitten und Spezialeffekten randvoll gepacktem Spektakel. In vielen seiner wenigen Einstellungen gibt es wegen Düsternis wenig zu sehen oder nichts; es wird viel geschwiegen, es wird sich wenig bewegt. Die Heldin ist eine Figur, die keine Geschichte bekommt, nicht einmal einen Namen. Nichts wird einem hier als Betrachter zusammengereimt, nicht auf Kurzweil will der Film hinaus, sondern aufs Vergehen der Zeit an sich, das Dabeisein bei Geschehen, an das einen nichts fesselt.

Sehr buchstäblich ist der Titel zu verstehen. "Wochentage" ist ein Film, der in Episoden zerfällt, ins freilich nicht chronologische Tag für Tag einer Woche. Die über Jahre sich erstreckende Entstehung ist "Wochentage" anzusehen. Den Kurzfilm "Dienstag" drehte Gebhardt 1998, die weiteren folgten Jahr für Jahr bis 2004. Die Haupdarstellerin bleibt dieselbe, aber sie wird älter, es ändert sich auch die Frisur. "Dienstag", der Ausgangspunkt, findet sich nun auch am Beginn des Langfilms. Wir sehen, durch die Scheibe einer Duschkabine erst, eine junge Frau (Zoe Naumann). Sie ist - zunächst - allein in einem Zimmer. Der Fernseher läuft, es gibt kein Tageslicht. Plastiktüten auf dem Boden, daraus nimmt sie ein Handtuch, ein Unterhemd. Auf dem Boden auch ein Farbeimer, sie greift hinein, die Kamera zeigt in einer Nahaufnahme den Arm, die Farbe. Sie holt ein Päckchen aus dem Eimer, mit Drogen, sie holt eine Waage aus einer weiteren Tüte, wiegt das Pulver ab und füllt es messerspitzenweise in zwei kleine Tüten, die sie in das an der Wand hängende Erste-Hilfe-Schränkchen legt. Dann kommt ein Mann, auch er fischt nach dem Drogenpäckchen. "Scheiße, es ist feucht", schimpft er. Die Frau, der Mann, sie sprechen wenig, sie ringen miteinander, dann liegen sie nebeneinander auf dem Boden, wie erschöpft. Eine Erklärung, eine Pointe, ja, eine Geschichte im engen Sinne gibt es nicht.

"Dienstag", den Kurzfilm, hat Carsten Gebhardt vom Tagesfilm zum Wochenfilm erweitert. Nicht aber, wie man es bei der Verlängerung von Kurz- zu Spielfilmen oft erlebt, indem er Leerstellen ausfüllte und den nicht auserklärten Figuren Hintergründe, Vorgeschichten und Plotverwicklungen hinzufügte. Sehr konsequent belässt er es auch in den weiteren Filmen beim Skizzenhaften. Man sieht die junge Frau in der Disco und dort dann in einem Hinterzimmer im Dunkeln. Sie liegt anderntags mit einem Mann im Bett, lacht mit einem wiederum anderen Mann, bekifft oder betrunken, über einen nicht sehr komischen Witz. Sie fährt, in einer fast surrealen Episode, mit einem der bisher schon vorgekommenen Männer an die Ostsee und einen Schnitt später sehen wir sie in tunesischen Sanddünen. Am längsten und dialogreichsten ist der Sonntag geraten. Die junge Frau kommt an einem menschenleeren Provinzbahnhof an, gerät in der Bahnhofskneipe mit einem Blinden ins Gespräch, der eine Forelle gefangen hat. Gemeinsam brechen sie dann auf zu ihrer Großmutter, die Rouladen im Kühlschrank hat. Sie reden über dies und das und dann sitzen sie zu dritt im Garten, essen die aufgewärmten Rouladen. Die Kamera ist erst nah dran, dann blickt sie von ferner aufs Sonntagsglück zu dritt. Mehr passiert nicht und eben darum ist das ein schöner Versuch über den geglückten Tag.

Versuche sind das alles, Skizzen, Entwürfe. Nicht alles gelingt, nicht jeder poetisch gemeinte Dialogsatz sitzt, manches ist vielleicht sogar ein bisschen peinlich. (Aber das Peinliche ist immer die andere Seite des Riskierten, des Ungewohnten. So viel ist gegen das Peinliche, wo es sich dem Mut zum Abseitigen verdankt, manchmal gar nicht zu sagen.) Aber hat man erst mal begriffen, dass es hier um Momente geht und Stimmungen, nicht darum, irgendwo hinzugelangen, sondern darum, einfach dabeizusein, Menschen zuzusehen, von denen man nicht mehr weiß als das, was man sieht, dann lässt man gerne los und lässt sich gerne ein auf das, was geschieht. Nichts wird in "Wochentage" mit Bedeutung aufgeladen über den Moment hinaus, der sich ereignet und vergeht. Umso gespannter darf man blicken und sehen und sehen wollen und sich neugierig treiben lassen im Strom der Dinge, die passieren oder auch nicht.

Wo "Spider-Man" überaus gekonnt auf die Spannungsstruktur der Achterbahn setzt, lädt "Wochentage" den Betrachter sehr entspannt dazu ein, nichts zu wollen und einfach den Bildern zu folgen. Selten stellt einem der Filmstartzufall zwei entgegengesetzte Pole des Kinos so exemplarisch vor Augen. Es ist, als verbände sie nichts. In Wahrheit liegt die ganze Welt des Kinos zwischen diesen Extremen.


Spider-Man 3. USA 2007 - Regie: Sam Raimi - Darsteller: Tobey Maguire, Kirsten Dunst, James Franco, Rosemary Harris, J.K. Simmons, Thomas Haden Church, Topher Grace, Bryce Dallas Howard, Daniel Gillies, Ted Raimi, Adrian Lester - FSK: ab 12 - Länge: 139 min.

Wochentage
. Deutschland 2006 - Regie: Carsten Gebhardt - Darsteller: Zoe Naumann, Peter Moltzen, Alexander Höchst, Marko Dyrlich, Marcel Klose, Peter Kurth, Barbara Ansorg, Carola Sigg, Daniel Proa, Vera Wolf, Jan Mixsa, Max Schönherr, Olaf Held - Länge: 90 min.