Im Kino

Klassenkämpferischer Kern

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Friederike Horstmann
04.06.2014. Marcin Malaszczak nimmt sich in "Sieniawka" viel Zeit für Geräusche, Räume, Gesten, Gänge und Gesichter, die er in einer polnischen Psychiatrie vorfindet. Camille Delamares "Brick Mansion" ist B-Movie-Quatsch, der jedoch wegen eines agilen David Belle und seiner Solidarität mit sozial Ausgestoßenen für sich einnimmt.

Schon die ersten Einstellungen verdeutlichen, dass der Regisseur Marcin Malaszczak nicht beabsichtigt, seinen Film "Sieniawka" auf erzählerisch genaue Anschlüsse auszulegen. Vielmehr artikuliert sich in den ungewöhnlichen Bildern und narrativen Splittern ein Widerstand gegen eine fluide Erzählung und lineare Strukturen: Vor einem Torbogen deponieren zwei Männer einen in ein rosafarbenes Laken eingewickelten Menschen und verschwinden schnell. Der Körper scheint zu atmen. Immer lauter werden Rauschen und Rattern auf der Tonspur. Ein Förderband transportiert Geröll. Ein räselhafter Raumfahrer in weißer Kleidung mit schwerem Helm schreitet durch einen Birkenwald mit verrosteten Pipelines und blickt dann auf ein verkarstetes Industriebrachland, eine Art dystopische Science-Fiction-Szenerie.

Fast eine Viertelstunde vergeht, dann erst wird der Titel des über zweistündigen Films eingeblendet: "Sieniawka". Er ist auch der Namen eines Dorfes irgendwo in der polnischen Peripherie, nahe den Grenzen zu Deutschland und Tschechien. In diesem unwirklichen Grenzgebiet liegt auch eine psychiatrische Anstalt. In minutenlangen Plansequenzen vermisst Malaszczak die Räume der Psychiatrie und ihrer Umgebung, den Alltag der ausschließlich männlichen Bewohner. Deren gegerbte Gesichter sind in den dunklen Innenräumen meist verschattet und die verwaschenen Filmfarben stumpf und erdig. Manchmal scheint auch ein braun-rotstichiger Farbfilter über dem Film zu liegen. Die langen Einstellungen zeigen zumeist ältere Männer in wortkargen Gesprächen, rauchend, ausdruckslos in den Raum starrend, schlafend, dösend, durch lange Korridore schlurfend oder zu lauter Techno-Musik tanzend. Alles wirkt auffallend altmodisch, wie aus einer anderen Zeit, die braun-beigen Wollpullover, die Kunstblumen und Rüschengardinen, das Essen aus Emaille-Eimern.

Merkwürdig herausgefallen aus jedweden Beziehungen wirken auch die Bildkompositionen. Ausgeklügelt, stilisiert und streng kadriert entschleunigen die tableauartigen Einstellungen den Rhythmus. In einer zunächst starren Einstellung erfasst die Kamera einen rückenansichtigen Mann, der auf einem Klavier spielt. Dissonante Klimperakkorde erklingen vereinzelt im Raum zu den nicht weniger eigenwillig gesummten Tönen. Die Kamera verharrt minutenlang, schwenkt dann langsam durch den spärlich beleuchteten Aufenthaltsraum über schlafende oder dösende Zuhörer auf einem Sofa, verweilt momenthaft auf einem Mann, dessen Oberkörper sich vor- und zurückbewegt, um dann ihren immer noch gleichmäßigen Schwenk fortzusetzen über weitere rückenansichtige Männer, bis sich einer umdreht, in die Kamera blickt und lächelt. Nachdem diese kurz innehält, schwenkt sie zu einem langen Flur. Die langsamen, gleichmäßig gleitenden Kamerabewegungen verschieben die gewohnten Raumkoordinaten und insistieren auf eine eigene Zeitlichkeit. Fast alles erscheint durch diese schlurfenden Schwenks gleich wahrscheinlich. Gleichzeitig scheint die Kamera in ihren tastenden wie auch zielgerichteten Bewegungen die Gesten und Gewohnheiten der Bewohner zu kennen. Malaszczak selbst führte die Kamera und verbrachte für seinen Film mehrere Monate in der psychiatrischen Anstalt.


Die ohnehin schon einsilbigen Wortwechsel der Bewohner werden oft durch Umgebungsgeräusche aus dem akustischen Außen unterbrochen. Malaszczak nutzt den Ton. Nicht um mit den Bildern eine deckungsgleiche Verbindung herzustellen, sondern um die Rahmung der Bilder zu überschreiten, um den Schein des bloß Dokumentarischen und eine mentale Kartografie der Bilder freizulegen. Obgleich ein großer Teil der Einstellungen mit Originaltönen unterlegt zu seinen scheint, verselbstständigt sich deren Lautstärke eigenwillig. Zusätzlich wurden die Bilder mit avantgardistischer Musik von John Maus unterlegt. Immer wieder werden auch aus dem Off der Bilder Störgeräusche produziert: knallende Türen, knarrende Böden, verbale Ausbrüche und menschliche Geräusche wie Husten, Schnarchen, schweres Schnaufen. Dem Blick entzogen, entfaltet sich etwas Unsichtbares, eine Kakophonie im Psychiatriealltag. Der soziale Schauplatz zeigt auch die Durchsetzung von Interessen und den Kampf um Verteilung. Beim kollektiven Rauchen im halbdunklen, qualmig verhangenen Raum wird um die streng rationierten Zigaretten gefeilscht, wird geschnorrt und ungeduldig gewartet, um die letzten Züge zu inhalieren. Die Glut der wie Joints weitergereichten Zigaretten leuchtet im Dunklen des Raumes. Andere Einstellungen rekurrieren auf die Geschichte des Kinos. Das Volleyballspiel der Männer mit unsichtbaren Bällen stellt einen filmhistorischen Zusammenhang zur Schlussszene in Antonionis "Blow Up" her. Ein ehemaliges, nun zerfallendes Kino aus der Zeit des Kommunismus wird aufgesucht.

Der Film nimmt sich viel Zeit dafür, Geräusche zu hören, Räume zu durchmessen, Ausdruck von Gesten, Gängen und Gesichtern zu erkunden, in unendlich langsamen Kamerafahrten die Dinge abzutasten, zu beobachten. Wie genau zeitliche und räumliche Relationen zu denken sind, bleibt unklar. Aus narrativen Splittern von fiktionalisierenden und dokumentarischen Elementen, aus ihren Schichtungen und Überlagerungen eröffnet der Film einen Möglichkeitsraum. In der vage umrissenen Erzählung wird nicht nur das Stationsleben fokussiert, sondern werden auch geografische, politische und filmhistorische Hintergründe freigelegt. Dabei gibt es immer wieder Irritationen und Brüche, zwischen Dokumentarischen und Fiktionalem, zwischen Bild und Ton.

Friederike Horstmann

Sieniawka - Deutschland, Polen 2013 - Regie: Marcin Malaszczak - Darsteller: Stanislaw Cheminski, Jerzy Szlosar, Stefan Syszka, Franciszek Zajdel - Laufzeit: 126 Minuten.

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Detroit, Sehnsuchtsort spekulativ-dystopischer Fantasien aus dem Geiste des B-Movies: Bereits im 80s-Klassiker "RoboCop" bildete die notorisch verfallende Pleite-Metropole die Kulisse für einen besorgten Blick in eine mögliche, dräuende Zukunft der USA. Und auch in "Brick Mansions" kulminieren soziale Ängste in einem Bild von Detroit, das die Erosion des Amerikanischen Traums unter dem Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen und sozialem Ausgleich sinnfällig ausbuchstabiert: Ein Viertel im desolatest-möglichen Zustand, die titelgebenden Brick Mansions, ist wegen Kriminalität und Armutsrate der obersten Stadtführung nicht nur so sehr ein Dorn im Auge, dass es mit wuchtigen Mauern abgeschirmt werden muss, sondern auch, weil Grund und Boden nach Vertreibung der Bewohner und Planierung deren Häuser genügend Raum für eine neue, deutlich profitablere Mega-City abgeben könnte. Ein Haufen Investoren und ein korrupter Bürgermeister beschließen einen teuflischen Plan, in dem nicht nur der führende Drug Lord der Brick Mansions, Tremaine Alexander (RZA), sondern auch der sich agil wie ein Flummi durch den urbanen Dschungel bewegende Straßenaktivist Lino (David Belle), vor allem aber der Cop Damien Collier (Paul Walker) sowie eine aus altrussischen Beständen gemopste Massenvernichtungswaffe eine Rolle spielen.

Was in anderen Händen einen düsteren, harten, dreckigen Film abgegeben hätte - man denkt vielleicht kurz an John Carpenters "Klapperschlange", wo es auch um ein abgeriegeltes urbanes Settings im Endstadium des Verfalls ging -, wird bei Luc Besson (Drehbuch) und Debütant Camille Delamarre (Regie) zu einem Hüpf-und-Hops-Film mit fitten Männerkörpern, blöden Sprüchen und allerlei infantilen Zugeständnissen: Braucht man wirklich noch einen grimmigen Über-Bösewicht mit Finstermiene, der bei jedem Schritt und Tritt ein viehisches "Huuuargh!" von sich gibt? Immerhin: Gute bis sehr gute Noten gibt es für die Actioneinlagen, in denen zwar ausgerechnet der kürzlich bei einem Autounfall verstorbene, hier als Hauptattraktion in Szene gesetzte Paul Walker eher ungelenk im Bildkader steht, während allerdings David Belle insbesondere im ersten großen Setpiece - gut unterstützt von einer großzügigen Inszenierung, die die Aufmerksamkeit weniger auf sich, als auf das Spektakel eines den Raum souverän beherrschenden Körpers lenkt - bei Sprüngen durch Leitern und Fenster und über Mauern für großes Aufsehen und viel Freude sorgt.


Seinen klassenkämpferischen Kern verbrät der Film im Modus jecken B-Movie-Wahnsinns, der in der völlig überkandidelten Vorstellung mündet, dass ein skrupellos auch in seinen eigenen Reihen mordender Drogenkönig nach hinreichend Einsicht und Fraternisierung tatsächlich noch so etwas wie ein charismatischer Obama aus der Gosse werden könnte. Ein auch mit dem Irrsinn der hier versammelten, aus unteren Videothekenregalen geplünderten B-Movie-Tropen korrespondierender Quatsch, dem man es - trotz manchem Leerlauf im dramaturgischen Gefüge - aber immerhin zugute halten kann, dass er sich bei aller vergaloppierten Wirrheit mit Mut und beeindruckender Konsequenz auf die Seite der sozial Ausgestoßenen und willfährig sich selbst Überlassenen schlägt. Nicht die verkehrteste Position, die insbesondere auch im - heute oft so elend aufs Mittelschicht-Mittelmaß zugeschnittenen - Genrekino schon mal deutlich selbstverständlicher war.

Thomas Groh

Brick Mansions - Frankreich 2014 - Regie: Camille Delamarre - Darsteller: Paul Walker, David Belle, RZA, Gouchy Boy, Catalina Denis, Ayisha Issa, Carlo Rota - Laufzeit: 90 Minuten.

Außerdem diese Woche neu: "Boyhood" von Richard Linklater. Hier unsere Kritik von der Berlinale 2014.