Im Kino

Ins Diesseits erlöst

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
26.01.2011. Clint Eastwoods Film "Hereafter" rückt die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der jenseitigen Dinge sehr an den Rand. Er konzentriert sich nicht auf die großen Bögen, sondern aufs äußerst Konkrete. In Mike Leighs "Another Year" ist nur ein altes Ehepaar glücklich. Alle anderen wünschen sich ein anderes Leben.


George Lonegan (Matt Damon) hat eine Fähigkeit, die er als Fluch erlebt. Er ist ein Medium, das für andere Menschen, berührt er sie an den Händen, Kontakt mit deren verstorbenen Nächsten im Jenseits aufnehmen kann. Drei Geschichten erzählt Drehbuchautor Peter Morgan ("The Queen", "Frost/Nixon") um diese Gabe herum. Eine französische Fernsehreporterin namens Marie LeLay (Cecile de France) überlebt den Tsunami - den Eastwood sehr eindrucksvoll mit Spezialeffekten in Szene setzt - nur mit knapper Not nach Wiederbelebung. Ein kleiner Unterschicht-Junge in England verliert seinen Zwillingsbruder, der nach der Belästigung durch eine Gang vor ein Auto gerät. Und George Lonegan selbst ist auf der Suche nach Erlösung für sich selbst durch Befreiung von seiner Gabe.

Das alles klingt schlimm. Und in der Tat ist Peter Morgans Drehbuch mit Klischees vollgestellt. Einer der Protagonisten wird aus dem Jenseits - möglicherweise - in letzter Sekunde vor dem Schlimmsten bewahrt. In den Schweizer Bergen treffen wir eine Ärztin, die weise jeden Zweifel an der Gültigkeit der jenseitsverheißenden Nahtoderfahrung hinter sich hat. Böse ist eine Welt, die sich nur fürs Irdische (Francois Mitterand) interessiert und sich Erlebnissen der anderen Art gegenüber hartleibig zeigt. Vom Tsunami zu den Al-Quaida-Anschlägen in London wird eine Linie des Schreckens und der Traumatisierung gezogen. Alles wird über den Trost, den die Protagonisten aus dem Jenseits erhoffen, mit allem verbunden. Und der Film läst das Übersinnliche als Möglichkeit gelten, wenngleich er die Option, dass es sich vor allem um eine Gabe übermenschlicher Empathie handeln könnte, bewusst offen lässt.



Und doch ist "Hereafter" ein sehr schöner Film. Was einzig an Clint Eastwoods Haltung zu alledem liegt. Er inszeniert handwerklich souverän und dabei sozusagen agnostisch. Die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der jenseitigen Dinge rückt er sehr an den Rand. Der Film blickt programmatisch nicht weit über den Tod hinaus, das milchige Anderswo, das wir sehen, liegt in keiner paradiesnahen Ferne. Ausgemalt wird das Jenseits nur so weit, wie die Hoffnung der in dieser Welt Lebenden reicht. In Wahrheit geht es Eastwood einzig und allein um Näheverhältnisse. Um Einsamkeit, Verlust, Liebe, Nichtloslassenwollenundkönnen.

Das klingt immer noch schlimm. Ist es aber nicht, weil Eastwood mit Geduld, Ruhe, Mitgefühl auf seine Figuren sieht. Er entreißt sie dem Klischee, als das sie entworfen sind, indem er aufmerksam hinsieht. Unter seinem Blick gewinnt noch das Lachhafte Würde. Nichts Besonderes eigentlich ist die Episode, in der George Lonegan einen Kochkurs besucht und dort eine Frau namens Melanie (Bryce Dallas Howard) kennenlernt, die so wenig wie er selbst in sich ruht. Und doch gehören die Momente, in denen sie mit verbundenen Augen von einem Löffel, den er ihr zum Mund führt, Speisen probiert, zum Schönsten im Hollywood-Kino des vergangenen Jahres. Das Besondere und Bezeichnende ist: Eastwood konzentriert sich nicht auf die großen Bögen, sondern aufs äußerst Konkrete. Er kondensiert Gefühle zum Bild, ohne Sentimentalität, ohne Mätzchen.



So rücken einem die Figuren, übers im entscheidenden Augenblick stets verblassende Drehbuch hinweg, nahe. Wieder wird für George seine Gabe zum Fluch. Unglück und Verlust konzentriert Eastwood in einem Achsensprung um die im Treppenhaus sitzende Melanie. Kaum merklich ist dieser Riss in der konventionellen filmischen Textur. Mehr aber braucht es nicht. Das Spektakuläre des Tsunami und das Leise der Trauer berühren sich ohne Umweg über die Erpressung zu irgendwelchen Gefühlen in diesem Film.

Vollends absurd ist, erzählt man es nach, das Zusammenlaufen der Fäden am Ende. Auf der Londoner Buchmesse begegnen sich, wie von höheren Mächten geführt, die Protagonisten. Eastwood aber kümmert sich um das Höhere nicht und gewinnt aus der Ungerührtheit und Selbstverständlichkeit, mit der er auch das inszeniert, große Kraft. Die Erlösung ist dann kaum mehr von Realitätsresten motiviert. Kühn verzichtet "Hereafter" zum guten Ende fast vollständig auf alles Erklären und setzt - in kühner Abstraktion - Glaube, Liebe und Hoffnung einfach als Begegnung ins Bild. Marie und Marcus und George lassen das Jenseitige hinter sich und werden ins Diesseits erlöst.

Ekkehard Knörer

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Was würde helfen? "Ein anderes Leben", meint eine Frau fortgeschrittenen Alters mit leerem, hoffnungslosem Gesicht zu der Therapeutin Gerri (Ruth Sheen). Die Frau, die keinen anderen Ausweg sieht als ein anderes Leben und also gar keinen, taucht später im Film nicht mehr auf. Das Gespräch macht schon am Anfang klar: Nicht alles kann bearbeitet, besprochen, geheilt werden, manchmal ist einfach alles zu spät. Mehr als ein "Bis nächsten Dienstag" kann Gerri ihr nicht mit auf den Weg geben.

Gerri und ihr Mann Tom, ein Baugeologe, stehen im Zentrum des neuen Films des Briten Mike Leigh. Ein Großteil von "Another Year" spielt in ihrer gemütlichen Wohnung in London. Das glücklich alternde Paar erhält Besuch von einer Reihe meist weit weniger glücklich alternden Bekannten und Verwandten. Der Sohn Joe taucht auf, zuerst ohne, dann mit Freundin. Gerris Arbeitskollegin Mary macht zunächst einen aufgekratzten Eindruck, aber im Verlauf des Films erwischt es sie am schlimmsten. In Abwesenheit eines Mannes in ihrem Leben kauft sie sich ein kleines, rotes Auto, mit dem sie freilich, schon bevor sie ein Glas Wein nach dem anderen trinkt, kaum geradeaus eine Straße entlang fahren kann.



Lesley Manville (Im Bild in der Mitte) gibt einerseits eine Bravourvorstellung als Mary: Ihr Spiel besteht aus kleinen, nervösen, stets leicht exaltierten Bewegungen, als suche sie in jedem Moment aufs neue nach dem auf sehr grundsätzliche Art verloren gegangenen richtigen Verhältnis zu ihrer Umgebung. Andererseits bleibt Manvilles Spiel als Technik sichtbar, drängt sich in den Vordergrund und kommuniziert auf Dauer doch vor allem die eigene Brillanz. Insoweit das ein Problem ist, ist es allerdings eines des gesamten Films. Manvilles Spiel unterscheidet sich nur graduell, nicht grundsätzlich, von dem der übrigen Castmitglieder. Wer - wie tendenziell auch der Rezensent - allergisch reagiert auf ausgestellte Schauspielkunst, der wird wohl ganz allgemein mit dem psychologischen Realismus des Mike Leigh nicht völlig glücklich werden.

Dann gibt es Ken, einen Jugendfreund des Ehepaars, der einen denkbar ungesunden Lebensstil pflegt. Wenn er raucht, scheint er die Zigarette, die viel zu klein ist für seine massive Hand, gleich verschlucken zu wollen. Er isst viel und alles außer Salat, sein Alkoholproblem ist noch offensichtlicher als das Marys. Überhaupt ist "Another Year" auch ein Film über den strukturellen Alkoholismus des britischen Mittelklasse, da wird mehr gesoffen als beim Südkoreaner Hong Sang-soo. Kens T-Shirt-Aufschrift bringt das Problem gerade deshalb auf den Punkt, weil sie nicht stimmt: "Less thinking... more drinking". Wenn das klappen würde, gäbe es in der Tat in der Welt Mike Leighs weniger Probleme, leider funktioniert die Gleichung nicht, das erfährt insbesondere Mary wieder und wieder.



Leighs Film schreibt die Begegnungen des Ehepaars mit diesen und einigen anderen Figuren auf recht konventionelle, aber deswegen nicht uninteressante Art in den Fluss des täglichen Lebens ein. "Another Year" verwendet die vier Jahreszeiten als Ordnungsprinzip. Wie nicht wenige andere Autorenfilmer sucht Leigh eine formale Rundung, eine Idee von Totalität nicht in der Schließung des Plots, der dem Leben gegenüber offen bleiben muss, sondern im zyklischen Fortschreiten der Zeit. Dem Ehepaar als Refugium und zugleich dem Film als organische Kontrastfolie zu den Verwerfungen im Beziehungsgeflecht dient ein Schrebergarten am Stadtrand, dessen Bewirtschaftung "Another Year" durch einen Erntezyklus - vom Frühling bis in den Winter verfolgt.

Jeder der vier Abschnitte weist ein leicht unterschiedliches Beleuchtungsschema auf, wobei vor allem die abschließende Winterepisode ästhetischen Eigenwert gewinnt und dem Film noch einmal eine interessante Wendung verschafft. Hier wechselt "Another Year" zunächst den Schauplatz; das Ehepaar besucht gemeinsam mit seinem Sohn Toms Bruder Ronnie, der in einer kleinen, karg eingerichteten Arbeiterwohnung in Derby lebt. Das kalte, bläuliche Licht, in das die gesamte Sequenz getaucht ist, passt sehr gut zu Ronnie und den Überresten seiner proletarischen Biografie, von denen er umgeben ist. Zwar kommt auch Ronnie dann auf eine Weile mit ins heimelige Mittelklasse-London. Aber Tom und Gerris bürgerliche Heimstatt gewinnt in den Szenen in Derby ein Außen, das doch etwas anderes ist als nur die gezähmte, parzellierte Natur des Schrebergartens.

Lukas Foerster

Hereafter. USA 2010 - Regie: Clint Eastwood - Buch: Peter Morgan - Darsteller: Matt Damon, Cecile De France, Jay Mohr, Bryce Dallas Howard, Frankie McLaren, George McLaren, Thierry Neuvic, Marthe Keller

Another Year. GB 2010. Großbritannien 2010 - Regie: Mike Leigh - Darsteller: Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville, Oliver Maltman, David Bradley, Karina Fernandez, Martin Savage, Peter Wight, Imelda Staunton, Phil Davis