Im Kino

Ganz andere Kraft

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
25.11.2009. Michael Glawogger führt in seiner Josef-Haslinger-Verfilmung "Das Vaterspiel" vor, wie man aus einem wüsten Kolportage-Mix etwas Faszinierendes macht. Türkisches Arthaus-Kino zwischen ökolinkem Establishment und Istanbul ferner Bergwelt bietet Yesim Ustaoglu in ihrem vierten Film "Pandoras Box".


Wer denkt, es ließe sich mit den Mitteln des Trivialen, des Klischees, des Hanebüchenen, der Kolportage nichts Gültiges sagen, der irrt. Zwar denkt das Triviale, das Hanebüchene, das Klischee niemals selbst, denn es manifestiert sich darin - als Ausdruck dessen, was man ohne Nachdenken von einer Sache vermeint - gerade das Gegenteil eines Gedankens. Michael Glawoggers Verfilmung von Josef Haslingers Roman "Vaterspiel" führt jedoch eindrucksvoll vor, wie man aus etwas, das fast ausschließlich aus kolportagehaften Elementen besteht, einen spannenden Film macht.

Hanebüchen jedenfalls sind die Motive, die der Film - dem Buch, das ich nicht gelesen habe, vermutlich sehr treu - versammelt, nicht zuletzt in ihrer Häufung: Es gibt einen alten Nazi-Mörder aus Litauen, der seit Jahrzehnten in einem New Yorker Keller versteckt lebt; in mehreren Rückblenden - in die Jahre 1959 und 1967 - sieht man einen Mann (Ulrich Tukur), der erst zu Protokoll gibt, er könne den mutmaßlichen Mörders seines Vaters identifizieren, und der diesen dann persönlich in Chicago aufsucht; es gibt den Programmierer und Computerspieldesigner Rupert "Ratz" Kramer , der seinen Hass auf den Vater in Form eines Vatermord-Computerspiels auslebt; dem Verkauf des Spiels über eine dubiose Website gilt ein möglicherweise internetkritisch gemeinter Subplot; der Vater seinerseits ist ein hochrangig-verlogener SPÖ-Politiker, der, auch das bekommt man am Rande noch mit, über eine Putzfrauenaffäre stolpert und, dies noch, in eine finanziell ausweglose Situation gerät.

Es gibt eine Freundin von Rupert namens Mimi (Sabine Timoteo), die die Enkelin des Nazi-Mörders ist, keine Haare am Körper hat und ihn eines Nachts einfach so nach New York ruft; es gibt außerdem eine angedeutete Inzest-Beziehung zwischen den Politikerkindern, jedenfalls gibt es den einen oder anderen Kuss zwischen Rupert und seiner Schwester. Es kommen oft atemberaubend schlechte, weil ihren Gehalt auf dem Silbertablett vor sich hertragende Dialoge dazu, die noch eine so charismatische Darstellerin wie Sabine Timoteo zur Aufsagepuppe zu degradieren drohen. Gar nicht genug kriegen kann diese Geschichte (und auch der Film) mithin von alles anderes als zu Ende gedachter, dafür übergrob präparierter Schwermotivik. Es dürfte dabei, ginge alles mit jenen rechten Dingen zu, die man aus der Mehrzahl deutschsprachiger Filme kennt, nichts herauskommen als ein haarsträubend überfrachteter Mischmasch am Rande der schieren Exploitation.

Es kommt aber etwas ganz anderes dabei raus. Nicht, weil Drehbuchautor und Regisseur Michael Glawogger das Triviale zu veredeln versuchte durch hervorragendes Handwerk - dann wäre das Ergebnis Kunstgewerbe und saurer Kitsch. Und auch weder durch Sublimierung noch durch bewusstes Heraus- und Übertreiben der groben Giftstoffe, die im Trivialen unerlöst hausen. Nein, Glawoggers künstlerische Strategie sieht anders aus. Nicht in den Motiven selbst liegt der Reiz dieses Films, sondern darin, wie er sie als grob behauene Klischeeblöcke neben- und gegeneinander stellt. Und zwar unvermittelt. Genauer: unvermittelt zum Schein. Sehr abrupt folgen ausgedehnte Sequenzen aufeinander, die sich nach und nach erst zum Puzzlebild fügen. Und die auch in sich oft anders funktionieren, als die Regeln des Handwerks das fordern. Ganz exemplarisch zu beobachten ist das in Ulrich Tukurs Protokollaussage, die Glawogger die längste Zeit ohne Gegenschnitt zum menschlichen Gegenüber der Aussage filmt (nur das Tonband sieht man oft). Die Gravitas von Inhalt (Naziverbrechen) und Form (Tukurs schauspielerische Angestrengtheit) gehen auf diese Weise seltsam ins Leere, bleiben fast bis zuletzt ohne den Gegenschuss, nach dem die Grammatik der Szene immer stärker verlangt.



Nicht nur hier tut Glawogger das Erwartbare nicht. Und zwar ergibt sich auf der Handlungsebene ein zuletzt recht lückenloser Zusammenhang. Wie die Puzzlestücke, aus denen der Film sich zusammensetzt, dennoch nicht recht zueinander passen, darin liegt sein eigentlicher Clou. Es hat das mit der Umstandslosigkeit und Unverfrorenheit zu tun, mit der die Orts- und Handlungswechsel ins Bild gesetzt sind. Vieles ereignet sich raschen Schnitts wie aus dem Nichts: Bei einer großartig desorientierend inszenierten Autofahrt durch dichten Schnee begegnet Rupert unversehens seiner Schwester (un-verfroren, un-versehens, un-vermittelt; "Das Vaterspiel" bezieht viel Kraft aus dem un-). Sie hat ihren sie ständig betrügenden Mann verlassen, sie hat ein Reh überfahren, sei kauert, die beiden sagen die üblich schwergängigen Dialogsätze auf, sie sitzen im Auto, es schneit, sie frieren, sie küssen sich wieder, weiter erklärt wird aber nichts - eigenartiges Zwischenreich zwischen Realem und Irrealem.

Selbst die eher blöde Idee mit Mimis Haarlosigkeit, eine übrigens harmlose "Krankheit", nutzt Glawogger, um die Figur mit ihren ständigen Perückenwechseln in eine Art Shifter zu verwandeln; sie wird so zur Figur, die nicht nur - eher aufdringlich - als menschlicher Wandersplitter konzipiert ist, sondern sie recht buchstäblich auch den Text des Films als ständiges Irritationsmoment durchquert und immer wieder aufreißen lässt. Und dann bricht sie am Ende erbost abrupt weg aus der Geschichte und wird nicht mehr gesehen. Andere Szenen wirken, wie aus dem Roman gerissen, in dem sie möglicherweise noch säuberlich eingebettet waren, und mit ihren durchs Herausreißen entstandenen irregulär-scharfen Kanten in einen erratischen Film-Szenen-Block umgesetzt. Gegen Ende etwa der Vater, der nun selbst das Vaterspiel spielt und sich darin als vervielfältigte Hassfigur wegpustet. Oder auch, wie Glawogger immer wieder unvermittelt die Filmrealität durch wegzuschießende Videospielvaterfiguren infiltriert und so das Filmbild - fast etwas unkontrolliert, denkt man - in andere Register hinüberspielt. Überhaupt ist es gerade dieser Eindruck des zeitweiligen Kontrollverlusts, der den versammelten Trivialitäten das Haarsträubende nimmt. Beziehungsweise wird das Haarsträubende als genuin interessantes Verstörungsmoment so erst produktiv.

Zuerst und zuletzt macht den Film aber eins zu einer wirklich aufregenden Sache: die Musik der Komponistin Olga Neuwirth und die Art, wie Glawogger sie offensiv einsetzt. Man mag insbesondere der Musik wegen nicht glauben, dass die große ARD-Weichspülmaschine DEGETO, die sonst bei jeder leisen Andeutung von Dissonanz die große Geldbörse sofort wegsteckt, hier mitproduziert hat. Neuwirths grandios harsche, laut-kalte Neutöner-Musik verschleiert und verkleistert nichts, sondern bringt das Unvereinbare als Unvereintes zusammen. Sie jagt dem ganzen Motivschmarren jedesmal, wenn sie auftritt, einen solch heillosen Schrecken ein, dass sich der Film selbst in der Antäuschung von Plot-Plausibilität und dümmlicher Figurenpsychologie davon nie und nimmer erholt. Neuwirths Musik sorgt dafür, dass einem der Film vor den Augen verschwimmt, dass einem der Boden unter den Füßen vibriert. Sie ist der unkittbare Riss, den Glawoggers auch sonst sehr schön zerklüftetes "Vaterspiel" im Herzen trägt. Sie ist nicht der einzige, aber doch der wichtigste Grund dafür, dass dieser Film, der fast ausschließlich aus Klischees zusammengebaut scheint, unberechenbar bleibt. Nicht das, was er über Naziverbrechen, Väter und Söhne, Inzestwunsch oder Umgang mit Schuld zu sagen hat, ist von Interesse. Wie er auf höchst eigenwillige Weise das Nichtzusammengehörige und per se sogar Dumme konstelliert und so auch dem Dummen eine ganz andere Kraft gibt - das ist es, was am "Vaterspiel" fasziniert.

Ekkehard Knörer

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Nesrin hat Schwierigkeiten sexueller Natur mit ihrem Mann Faruk und Schwierigkeiten pädagogischer Natur mit Sohn Murat, der dem Zugriff der Familie zu entfliehen sucht. Ihre jüngere Schwester, die Journalistin Güzin, einst radikale Aktivistin, jetzt im ökolinken Establishment angekommen, hat noch weniger Glück mit Männern. Das eigentliche schwarze Schaf der Familie ist Bruder Mehmet, ein Slacker, der tagaus tagein bekifft auf seinem Sofa sitzt und die Miete nicht bezahlen kann. Kurz und gut: Es geht in Yesim Ustaoglus viertem Spielfilm "Pandoras Box" um eine problemgesättigte, westlich und urban geprägte Mittelschichtsfamilie aus Istanbul, eine Familie, wie man ihr im türkischen Arthauskino hier nicht zum ersten Mal begegnet.

Gleich zu Beginn des Films werden die Geschwister mit der anderen Türkei konfrontiert: Ihre Mutter, die in einem abgelegenen Bergdorf in der Provinz lebt, ist verschwunden, gemeinsam machen sie sich auf die Suche. Irgendwo im Niemandsland bleibt das Auto stehen, es gibt keinen Handyempfang. Im Landgasthof kann nur Mehmet seinen Klassendünkel überwinden und trinkt mit den Lastwagenfahrern, seine Schwestern sitzen abseits und wünschen sich weit, weit weg. Alles gefilmt in schön komponierten, ruhigen, langen Einstellungen. Etwas ausgebleicht sind die Farben dieses Films selbst hier, in der üppigen Natur. Gut aussehen tut "Pandoras Box" immer.

Wenig später ist Nusret, die Mutter wiedergefunden. Ihre Kinder nehmen die offenkundig demente alte Frau mit nach Istanbul. Der Großteil des Films spielt dann hier: In Istanbul, mal in den gutbürgerlichen Vororten mit ihren phallisch gen Himmel strebenden Neubauten, mal in den heruntergekommenen engen Gassen der älteren Stadtviertel. Nacheinander kümmern sich Nesrin, Güzin, Mehmet und schließlich der junge Murat, der fürs Slackerleben sichtlich weniger geeignet ist als sein Onkel, um Nusret. Die uriniert auf den Teppich in Nesrins Wohnzimmer, wehrt sich gegen Körperpflege und entflieht verwirrt ihren Aufpassern. Allerdings hat sie dazwischen immer wieder helle Momente, in denen sie Weisheiten von sich gibt, die die unterschiedlich gearteten Lebenslügen ihrer Nachkommen treffsicher enttarnen.



Mit diesen Weisheiten fangen die Probleme dieses Films zwar nicht an, aber sie bringen sie auf den Punkt. Wie unaufdringlich und zurückhaltend "Pandoras Box" auch fotografiert ist: diese Bilder fügen sich nie zu einem auch nur ansatzweise freien, offenen Film. Wie im in dieser Hinsicht noch ärgerlicheren Vorgänger "Waiting for the Clouds" emanzipieren sie sich nie vom thematischen Korsett, das Ustaoglu schnürt. Jede Szene ist psychopathologisch überdeterminiert, jede Figur ein Problem, das vom Film zwar nicht gelöst, aber wieder und wieder ausgestellt, präpariert werden will. Und deshalb begnügt sich "Pandoras Box" auch nicht damit, die alzheimerkranke Mutter vom Lande als Katalysator für die bourgeoisen Psychosen der Urbanität zu benutzen (das ist vielleicht das grundlegende Problem dieser Sorte Film: Sie benutzen ihre Figuren und eine andere Art, sich zu diesen Figuren zu verhalten, kommt ihnen gar nicht in den Sinn), zusätzlich wird Nusret als altersweises Orakel missbraucht (dieses Missbrauchen ist dann das, was aus dem Benutzen fast zwingend folgt), das die Bilder noch einmal verdoppelt. In diesen Szenen wird Nusret endgültig keine eigene Subjektivität mehr zugestanden, nicht einmal mehr die pathologische des Alzheimer-Eigensinns.

Die schönsten Szenen des Films - und die einzigen, die seiner Arthaus-Entfremdungsteleologie wenigstens teilweise entkommen - stehen am Ende. Es geht wieder aus der Stadt hinaus, in die Berge, die Bilder dürfen endlich einfach nur sein, sie werden neugierig und entdeckungsfreudig, bevor sie etwas bedeuten, beziehungsweise ein von außerhalb ihrer selbst kommende Bedeutung festnageln müssen. Ein wenig erinnern diese letzten Bilder an einen der schönsten türkischen Filme der letzten Jahre: Özcan Alpers "Sonbahar", ein Film, der nur aus solchen Bildern besteht und der zeigt, das solche Bilder auch in soziologischer und psychologischer Hinsicht die reicheren sind. Fast hätte ich hier abschließend geschrieben: "Aber Bilder wie diese finden in Deutschland nicht ins Kino". Dieses eine Mal belehrt mich ein Blick auf die Startliste eines besseren: "Sonbahar" startet am 10.03.2010. Ein Datum, das man sich schon heute im Kalender anstreichen sollte.

Lukas Foerster

Das Vaterspiel. Deutschland / Österreich / Frankreich 2008 - Regie und Buch: Michael Glawogger - Darsteller: Helmut Köpping, Sabine Timoteo, Ulrich Tukur, Christian Tramitz, Itzhak Finzi, Samuel Finzi, Michou Friesz, Otto Tausig

Pandoras Box. Türkei / Frankreich / Deutschland 2008 - Originaltitel: Pandora'nin Kutusu - Regie: Yesim Ustaoglu - Darsteller: Tsilla Chelton, Onur Ünsal, Derya Alabora, Övül Avkiran, Osman Sonant, Tayfun Bademsoy, Nazmi Kirik