Im Kino

Schleudergriff-Manöver

Die Filmkolumne. Von Friederike Horstmann, Karsten Munt
01.04.2020. Kino zum Streamen: Dante Lams Radrenn-Hongkong-Actionfilm "To the Fore" bietet taktisch durchexerziertes Chaos. Der Pulsmesser ist dabei der letzte Anker vor der unkontrollierbaren Bildanarchie. Auch Joseph Loseys "The Servant" von 1963 verschiebt unsere Wahrnehmung - mit Zerrspiegeln, schrägen Piranesi-Perspektiven und britischer Moorhuhn-Grandezza.


"Ich habe schon ewig nicht mehr geschwitzt", sagt Shi-Yao (Luodan Wang) als sie das erste Mal seit Monaten wieder auf ihr Rennrad steigt. Für Radsportler, auch wenn sie die professionelle Karriere fürs Erste hinter sich gelassen haben, ist das ständige Training eine körperliche Pflicht. Eine Pflicht zum Schwitzen, die Shi-Yaos einzige Möglichkeit zu sein scheint, ihrem Reha-Alltag zu entkommen. Die Tour ist allerdings weniger ein gemütliches Radeln gegen den Lagerkoller, wie es in der kontaktgesperrten deutschen Realität gerade gepflegt wird, sondern ein verbissener Kampf gegen den eigenen Körper. Nach nur wenigen Metern zieht das Tempo zu einem Schnittrhythmus an, der in wenigen Augenblicken dutzende Details vorbeifliegen lässt: Schweiß über der Augenbraue, Oberschenkel, Füße, Vorderrad, Hinterrad, und schließlich Shi-Yaos Körper, der neben dem Rad am Boden liegt.

Die kurze Pflichtausfahrt wird zu einer Sequenz, die mehr Spektakel bietet, als ein highlight reel aus 50 Jahren Tour de France. Die bekannten visuellen Eindrücke des Radsports werden von Dante Lam mit dem großen Kalibern des Actionfilms pulverisiert. Die Aufnahmen von gleichmäßig über die Straße rollenden Pelotons, die mitunter zu den Sehenswürdigkeiten und die schöne Naturlandschaft abschweifen, weichen dem übertakteten Rhythmus seines hemmungsloser Hochglanz-Straßenrennens: Im Hauptfeld wird gedrängelt, bis die Körper übereinander purzeln; bei der Abfahrt werden Felssteine übersprungen und auf den letzten Kilometern wird der Puls im Sprint schreiend bis über die 200er-Marke getreten.

"To the Fore" ist reines Spektakelkino, das sich zwar von den Räuber-und-Gendarm- und Militärspielchen, die Lams aktuelle Werkphase prägen, ab- und der Welt des Sports zuwendet, allerdings nur, um ihr den gleichen Stempel des taktisch durchexerzierten Chaos aufzudrücken. In der Welt des Radsports ist die Ordnungs- und Messeinheit, an der Lam seinen Film ausrichtet, die Pulsanzeige. Eingebunden in ein ständiges Wechselspiel aus zitternden Gesichtern, auf und ab fliegenden Schenkeln und schreienden Fahrern, ist der Pulsmesser der letzte Anker vor der unkontrollierbaren Bildanarchie. Die ersten Sequenzen auf der Rennstrecken zeigen deutlich, dass Regisseur und Sujet ein gutes Paar abgeben. Im Radsport geht es um die Kontrolle über die Geschwindigkeit. Eine Rolle, die Lam ausfüllt wie ein Teamchef, der vom Bildschirm aus Puls, Wattzahl, Geschwindigkeit und potenziellen Gegenwind überwacht, um seine Fahrer den Daten entsprechend in den perfekten Tritt zu bringen.



Die Montage, für die gleich drei Cutter verantwortlich zeichnen, hält den Takt auch im Chaos der Straßenstrecken, Bahnrennen und Bergabfahrten mit punktgenauer Präzision. Die permanente Pulsmessung dient gleichzeitig als Gradmesser der erbarmungslosen Logik des Profisports, die der Film langsam entfaltet. Anhand der Daten, die in Training und Wettkampf aufgezeichnet werden, bestimmen Promoter und Manager, wer den Sprung in die höhere Klasse schafft. Ein System, das den Konkurrenzdruck für die Protagonisten, den hitzköpfigen Sprinter Ming (Eddie Peng) und den gutmütig, melancholischen Ausdauerspezialisten Tian (Shawn Dou), zur Zerreißprobe ihrer Freundschaft macht. Der permanente Leistungsvergleich, dem sie als Teamkameraden ausgesetzt sind, greift bald auch in ihr Privatleben über. Beim Buhlen um die Gunst von Shi-Yao späht man einander plötzlich auch neben der Strecke auf den Pulsmesser.

Der seichte Komödien-Tonfall, der abseits der Strecke herrscht, täuscht nicht darüber hinweg, dass der Wettkampf nach und nach das gesamte Leben der jungen Athleten durchdringt. Jede Form von Berührung und Beziehung wird ihm unterworfen. Mings erste romantische Annäherung an Shi-Yao ist gleichzeitig ein Überholmanöver aus dem Windschatten. Die regelmäßigen Begegnungen mit seiner Mutter sind ein von wenigen Worten unterbrochenes Saufduell. Die Fahrer scheinen in einer hochkontrastigen, plastinierten Welt gefangen, die bis in den letzten Winkel mit Werbefahnen von Radherstellern und Sportausstattern zugestellt ist. Eine Welt, deren Abgründe Lam andeutet, ohne ganz mit ihr brechen zu wollen. Dafür bietet sie ihm, selbst beim Abstieg in die Gosse einfach zu viel ästhetischen Rohstoff.

Das Sinnbild dieses Dilemmas ist Tians Abstieg. Nach einem Doping-Skandal findet er sich schließlich, ein Hochglanz-Sportmagazin in der Hand, im Rinnstein des koreanischen Busan wieder. Seine Wettschulden muss er beim "Kampfsprint" genannten Keirin-Rennen abstotterten. Die Wettkämpfe sind eine Art Bahnrennen mit Knastregeln. Innerhalb des Rings der Bahn wird geschoben und gedrängelt, außerhalb werden Wetten platziert. Selbst ganz unten scheint in "To the Fore" noch Glanz und Glamour durch. So werden die Strukturen des Profisports auch nicht überwunden, sondern vielmehr von den menschlichen Qualitäten der Protagonisten durchdrungen. Lams ungebremstes Pathos macht es möglich, dass Achillesfersen, die auf der Rennstrecke reißen, mit Hilfe von freundschaftlichen Gewebespenden wieder geflickt, und Freundschaften im härtesten aller Radrennen mit einem Schleudergriff-Manöver zurückerobert werden. Auch ein schönes Bild für das Ende des Kontaktverbots.

Karsten Munt

To the Fore - Hongkong 2015 - OT: Po feng - Regie: Dante Lam - Darsteller: Luodan Wang, Eddie Peng, Shawn Dou, Choi Si Won - Laufzeit: 125 Minuten. To the Fore bei Netflix.

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"I'm a gentleman's gentleman, and you're no bloody gentleman!", erklärt der zunehmend besitzergreifende Butler Barrett (Dirk Bogarde) seinem adeligen Arbeitgeber Tony (James Fox). In a nutshell artikuliert diese Zuschreibung einen Schwund an aristokratischer Autorität. "The Servant" ist ein großartiges Kammerspiel über Klassenhegemonie, über Mechanismen von Macht und Manipulation. Kunstvoll arrangiert der Film Gruppenbilder, zu immer neuen Konstellationen. Bei den Übergängen von einem Bild zum anderen stehen angestaubte Privilegien und Prinzipien permanent zur Disposition, Hierarchie- und Hegemonialverhältnisse werden verhandelt und wechseln sprunghaft.

"The Servant" entwirft anhaltend ambivalente Figuren. Zwar könnte man ihnen allerlei Adjektive anhängen: vom schnöseligen, lazy lebensuntauglichen Upperclass-Playboy über den gewieften, zunächst servilen, dann despotischen Diener hin zur lasziv-lolitahaften Haushaltshilfe mit bebenden Stotterlippen und voluminös toupierter Turmfrisur. Aufgehen wollen sie in diesen Etikettierungen jedoch nicht. Vielmehr lässt Regisseur Joseph Losey in seinen inszenatorischen Bravourstücken die einzelnen Beziehungen in multidimensionale Verhältnisse aufspringen und setzt darüber hinaus Positionen der Wahrnehmung durch finstere Schattenspiele, anamorphotische Einstellungen und aus den Angeln gehobene Bilder in Bewegung.

"The Servant", sagt Losey, "ist ein Film ohne Boden. Immer tut sich hinter einem Raum noch ein zweiter auf." Die gesamte Architektonik des Hauses ist kreisförmig angelegt, in jedem Raum gibt es mehrere Ein- und Ausgänge. Visuell gerät der Raum in Wucherungen - durch verworrene Topografien, schräge Piranesi-Perspektiven und verdoppelnde Zerrspiegel. Die Bilder von Loseys Kameramann Douglas Slocombe haben etwas Abgründiges: Kurze Brennweiten bewirken eine Verstärkung der tief in den Raum gestaffelten Fluchtlinien. "The Servant" ist ein klaustrophobischer Film, der beinahe nur in Innenräumen spielt. Einzelne Einstellungen sind so gebaut, dass nichts flach und überschaubar ist. Die opulente Ausstattung mit Geldadel-Distinktionsnippes dient der Betonung dieses Effektes.

Vor allem das völlig vollgestopfte Wohnzimmer wirkt in seiner ganz und gar unwirtlichen Zurichtung mit britischer Moorhuhn-Grandezza unwirklich und aus der Zeit gefallen: Überall üppige Kristallkrüge, plüschige Fauteuils, großformatige Ölgemälde, bemalte Paravents und ausladende Gardinen. Während die Kamera die Gesichter in bizarren Großaufnahmen und konvexen Parabolspiegeln geradezu anzieht, tauchen im Fluchtpunkt der Einstellung jeweils Durchblicke auf Fenster, Nischen oder andere Zimmer auf. Im oberen Geschoss, wo Barrett wohnt, blickt die Kamera immer wieder durch das Geländer des Treppenabsatzes hindurch hinauf, sodass die Etage wie vergittert erscheint und ein souveräner Zugriff auf den Raum verweigert wird. Blumenbouqets blockieren im Bildvordergrund den Blick auf die Figuren. Loseys Räume entstehen aus der Störung herkömmlicher Ordnungen.

Die unverhohlen schneidenden, von Harold Pinter stammenden Dialoge stehen in komplexen Kommentierungsverhältnissen zu den raffinierten Kameraeinstellungen. Pinter weiß: "Language is a highly ambiguous business." In seinem brillanten Drehbuch wird nicht nur das britische Klassensystem akribisch seziert, sondern auch eine spätkolonialistische Arroganz freigelegt. Die kongeniale Kollaboration von Pinter und Losey entfaltet sich hier zum ersten Mal und bringt für den Blacklist-Flüchtling Losey, der wegen des Vorwurfs "unamerikanischer Umtriebe" von der HUAC-Hexenjagd erfasst wurde und nach einem Arbeitsverbot in den USA nach England emigrierte, den internationalen Durchbruch. Zwischen manierierter Salonkomödie und delirierendem Psychothriller lässt sich "The Servant" in keine Filmschublade sortieren. Als gespenstisch grimmige Gesellschaftssatire zeichnet der Film Dienstherrschaft nicht nur als Dünkel aus, sondern kritisiert sie als Selbstentmachtung.

Friederike Horstmann

The Servant - GB 1963 - Regie: Joseph Losey - Darsteller: Dirk Bogarde, Sarah Miles, Wendy Craig, James Fox - Laufzeit: 116 Minuten. The Servant bei MUBI.