Im Kino

Spektakel virtuoser Unschönheit

Die Filmkolumne. Von André Malberg, Sebastian Markt, Fabian Tietke
03.12.2020. Ron Howard inszeniert J.D. Vance' "Hillbilly Elegy" zwischen Industrieproletariat, Gewalt und Weißweinwahl als Rühr- und Lehrstück ohne Verhältnisse. Das Filmmuseum München zeigt in einer Retrospektive Werner Schroeters "Der Bomberpilot", eine erbarmunsglose Entlarvung der Lebenslügen in westdeutschen Biografien. Und ein Nachruf auf Daria Nicolodi, die mit jedem Lächeln so viel Klarheit schenkte.


Hillbilly Elegy von J.D. Vance erschien im Sommer 2016, knapp vor der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Teils hemdsärmeliges soziologisches Traktat, verpackt in die Memoiren von Vances eigenem sozialen Aufstiegs und die Geschichte seiner Familie, wurde es bald als ein Schlüsselwerk zum Verständnis dessen gehandelt, was in den USA gerade passiert war. Vance schilderte über drei Generationen hinweg mit exemplarischem Anspruch Freud und Leid einer herkunftsstolzen weißen Arbeiter*innenklassen-Familie, die den Bezug zu den Appalachen auch noch hochhält, nachdem die Großelterngeneration aus Kentucky nach Ohio ziehen um Arbeit in der Stahlindustrie zu finden. Vance, mittlerweile Investmentbanker mit konservativen politischen Ambitionen, sucht die Gründe für Probleme und Deklassierung in etwas, das er als Kultur begreift, und sieht Auswege, durchaus im Einklang mit seinem Weg, weniger in historisch wandel- und veränderbaren Strukturen als im (eigenen) Handeln.

Rechtzeitig zur Abwahl Trumps hat Ron Howard den Bestseller für Netflix verfilmt und möchte damit erklärtermaßen nichts erklären. Es wird in seiner Hand ein geradliniges Familienmelodram, ein Rühr- und Lehrstück. Die eingeschriebene Politik tilgt der Verzicht auf explizite Extrapolation freilich nicht.



Der Film begegnet J.D. zuerst in der Vignette eines kindlichen Sommerurlaubs bei der erweiterten Familie in Kentucky, eine sonnendurchtränkte und naturnahe Erinnerung an ein Paradies ruppiger Verbundenheit, die mit der Rückfahrt in das (Familien-) geschichtslosere Ohio endet, wo J.D. aufwächst. Wir treffen ihn wieder in Yale, wo er es nach einigen Jahren bei den Marines und einem Studium an der staatlichen Universität in Ohio zum Jurastudium geschafft hat. Das erste Studienjahr geht zu Ende, zwischen Prüfungen und den Sorgen um die Finanzierung des nächsten Semesters stehen Bewerbungsgespräche um begehrte Sommerpraktika in großen Anwaltskanzleien an. Mitten in einem noblen Netzwerk-Abendessen erreicht ihn die Nachricht eines akuten Drogenrückfalls seiner Mutter, die als Krankenschwester mit unsteter Beschäftigungsgeschichte medikamentenabhängig geworden war, und mittlerweile bei Heroin gelandet ist. J.D. kann nicht anders, als den Weg dorthin, wo Zuhause war und vielleicht noch ist, anzutreten, während sich an der Küste gerade seine zukünftige Karriere entschieden sollte. Von der schwierigen Rückkehr und dem Bemühen um das kaputte Leben seiner Mutter erzählt der Film, dazwischen zurückblickend in J.D.s Kindheit, im Versuch zu zeigen, wie wurde, was ist. Der gegenwärtige Moment, der vielleicht über das Gelingen eines Ausbruchs entscheidet, gegen die Macht der Vergangenheit.

Der Konflikt der Welten klingt schon beim Dinner an, wo J.D. sich von der Wahl zwischen zwei Weißweinen und der Besteckvielfalt überfordert fühlt, während das Tischgespräch beim Thema seiner Herkunft unangenehme Witze und peinliches Schweigen produziert. Hier wie andernorts setzt der Film auf im Kino zur Genüge ausbuchstabierte und leicht entzifferbare Zeichen kulturell kodierter sozialer Positionen: Abgewetzte Fahnen und überquellende Aschenbecher, Häuser, deren Zerfall sie nicht daran hindert Heime zu sein, Panoramen einer Industrie im Niedergang, Baseballkarten und häusliche Gewalt. Der junge (Owen Asztalos) und der erwachsene J.D. (Gabriel Basso) navigieren diese Welt in zurückhaltender Unsicherheit, umgetrieben von der Frage, welcher Anteil ihres Selbst sich aus der Welt ergibt, die sie umschließt.



Neben der desolaten aber herzensguten Mutter (Amy Adams) ist es vor allem die Großmutter - Mamaw - (Glenn Close) die viel Raum in den Erinnerungen, wie generell in J.D.s Kindheit einnimmt. Als Bindeglied zwischen der heileren Welt aus der sie selbst den Schritt herausgetan hat. Komplettiert durch die obligatorischen Homevideobilder der realen Personen über dem Abspann, die das Wunder der mimetischen Transformation nochmals verbürgen, sind diese Figuren vor allem Vorlagen für ein schauspielerisches Anverwandlungskino: ein hochkonsumierbares Spektakel virtuoser Unschönheit.

Das verschließt ihre Figuren nicht der Empathie, es hilft aber in einem geschlossenen Verweissystem auch nicht, dem Film das zu verleihen, was ihm am meisten fehlt: den Raum dafür, Beziehungen sichtbar zu machen, die andere wäre als ganz unmittelbare zwischen Personen, die einander Gutes wollen, auch wenn sie Schlechtes tun. In der Konvergenzmontage aus Vergangenheit und einer Gegenwart, die um Zukunft ringt, offenbaren sich schließlich J.D. und Memaw als einander verbundene Charaktere, die bereit sind einsame Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Jede Menge Gefühle und keine Verhältnisse, nirgends.

Sebastian Markt

Hillbilly Elegy - USA 2020 - Regie: Ron Howard - Darsteller: Amy Adams, Glenn Close, Gabriel Basso, Haley Bennett, Freida Pinto, Bo Hopkins - Laufzeit: 116 Minuten. "Hillbilly Elegy" auf netflix.

---



Carla, Mascha, Magdalena - drei Frauen, die im Nationalsozialismus selbstbestimmt als Varieté-Künstlerinnen Karriere machen. Nach einem Nervenzusammenbruch und einer Fehlgeburt orientieren sich die drei um. Carla zieht es ins polnische, damals von Deutschen besetzte, Sopot, um in Wiener Operetten aufzutreten. Magdalena nimmt Mascha unter ihre Fittiche und mit zu einer Sturmbannführerin der SS, die den beiden einen neuen Job verschaffen soll. Die beiden arbeiten als Kirchenrestauratorinnen, später gerät Mascha in die Hände eines "freizügigen Schauunternehmens" und Magdalena wird Reichsvolkshochschullehrerin. Als sie vom Selbstmord Hitlers erfährt, sieht die überzeugte Nationalsozialistin Magdalena keinen Sinn mehr in ihrem Leben und will sich umbringen. Sie wird von Mascha gerettet. "Aufwärts und voran!", zur Anpassung an die neue Zeit.

Werner Schroeters gut einstündige Filmcollage "Der Bomberpilot" von 1970 wird oft als Vorstudie zu seinem deutlich bekannteren "Nel Regno di Napoli / Neapolitanische Geschwister" betrachtet. Wie sich in der Wiederbegegnung mit dem Film zeigt, tut man ihm damit Unrecht. Das Filmmuseum München zeigt "Der Bomberpilot" im Rahmen einer Online-Retrospektive zu Werner Schroeter von Donnerstag bis Sonntag in seinem vimeo-Kanal.



Schroeters "nicht ganz seriöse Nazi-Operette" folgt den drei Frauen in einer Reihe lose miteinander verbundener Szenen vom Nationalsozialismus bis in die Wirtschaftswunderjahre. Die Szenen wechseln wie bei einer Revue, die meisten sind unterlegt mit Musik von Schlager bis Oper. Mit minimalem Budget produziert, greift Schroeter auf einfache Tricks wie die Trennung von Bild- und Tonebene, minimalistische Ausstattung, menschenleere Schauplätze und Loops zurück. So wird Carlas Sängerinnen-Karriere in Sopot in einer Konditorei inszeniert. Während Carla Torten richtet, läuft auf der Tonspur Gesang. Ein junger Verehrer tritt ein, legt Blumen vor sie hin. Carla träumt von einer Romanze mit Bootspartie, doch als sie zum Rendezvous eilt, liegt der junge Mann tot auf einer Motorhaube. Manches ist im Rückblick zu formelhaften Avantgardismen erstarrt, denen im Rückblick eine zähe Exaltiertheit eignet. Doch sobald der Film an narrativem Fluss gewinnt, verliert sich dieser Zug und "Der Bomberpilot" wandelt sich zu einer der im bundesdeutschen Kino raren filmischen Darstellungen von Frauen, für die der Nationalsozialismus ein zentraler Teil ihrer Biografie ist.

Die drei Frauen begegnen sich wieder im Foyer einer Stadthalle bei einem Bruckner-Konzert. Magdalena und Mascha sind unterdessen Stenotypistinnen. Als Carla anfängt, von einem Auftritt in Wien von 1943 zu schwärmen, weist Mascha sie zurecht: "Du bist so vergangenheitsbezogen." Sie hingegen hat große Pläne, will eine Position in der Frauenbewegung, will es "in Amerika zu etwas bringen, das der Rassenintegration nahe kommt". Also setzen die Nazi-Ladys alles daran, es nach Amerika zu schaffen. Das gelingt ihnen schließlich. Auch die Schlager wechseln nun ins Amerikanische.



In Texas auf einem Air-Force-Stützpunkt angekommen, sinniert Magdalena: "Uns war zumute wie Emigranten zumute sein musste, wenn sie in irgendeinem fremden Land alles hinter sich ließen, ihre Bindungen, die Fehler der Vergangenheit." Die Nationalsozialistin sieht sich als Emigrantin, die vor der Zukunft, die ihr in Deutschland verbaut ist, in die USA flieht. Die drei posieren fleißig für amerikanische Wochenschauen, "um so die Positionen, die wir uns verdient hatten, durch unsere Öffentlichkeitsarbeit zu erringen." Mit großer Beiläufigkeit stellt Schroeter in diesen Szenen in den USA die deutsche Täter-Opfer-Umkehr bloß. Die drei Frauen handeln, als hätten sie auch nach dem Ende des Krieges ein Anrecht auf die ungebrochene Fortsetzung der Karriere, die sie sich durch Opportunismus während des Nationalsozialismus erarbeitet zu haben glauben. Ein Foto aus Nazitagen beendet schließlich die Amerikafantasien der drei. Zurück in der Bundesrepublik besinnen sie sich auf ihre Wurzeln und entwickeln ein Kabarett-Programm für US-Offiziere.

Bei der Wiederbegegnung mit Schroeters Film fällt die Nähe zu Rainer Werner Fassbinders "Die Ehe der Maria Braun" auf. Während sich Fassbinder jedoch auf die Geschichte einer Liebe und den Opportunismus der Maria Braun konzentriert, ist Schroeter in der Entlarvung der Lebenslügen in westdeutschen Biografien deutlich erbarmungsloser. Schwer zu sagen, ob dies oder die formalen Schwächen und seine Unausgeglichenheit der Rezeption einst mehr im Weg stand. Einen neuerlichen Blick lohnt der Film allemal.

Fabian Tietke

Der Bomberpilot - BRD 1970 - Regie: Werner Schroeter - Darsteller: Carla Aulaula, Mascha Elm, Magdalena Montezuma, Werner Schroeter, Daniel Schmid - Laufzeit: 65 Minuten. "Retrospektive Werner Schroeter" auf dem vimeo-Kanal des Filmmuseum München. Der Bomberpilot ist vom 3.-6.12. zu sehen.

---



Daria Nicolodi
fährt in einem winzigen Fiat 500 vor, doch aus dem Verdeck auf die Straße schält sich zunächst David Hemmings - die Beifahrertür klemmt gelegentlich, besonders oft in ungelegenen Momenten wie diesem vor der Bar, die man gemeinsam angesteuert hat. Das kann den kleinen Mann auf großer Ermittlungstour mit dem ihm eigenen Drang nach Wichtigkeit - man muss doch etwas Bedeutendes beobachtet haben - nicht aufhalten. Sie erhebt sich ebenfalls durch die Dachluke, winkt dann allerdings in einer eigensinnigen Mischung aus kokett und scheu mit den Fingern und fährt davon. Allein, selbstbewusst und ohne Detektivanhängsel. Eine für den Kriminalplot von Dario Argentos "Profondo rosso" (1975) eher nachrangige Szene, für mich jedoch einer von zwei entscheidenden Eindrücken, die mein Bild von Nicolodi durch meine filmische Sozialisation hindurch geprägt haben. Ergänzt wurde es alsbald durch ein komplett konträres: In "Schock", dem letzten Kinofilm des auch Argento als Lehrmeister prägenden Mario Bava, verharrt Nicolodi nicht frei schwebend zwischen Außenwirkungen, sondern ist als Dora Baldini gefangen in Haus und Alltag sowie konstant am Rande des finalen Zusammenbruches. Was mir an diesem Film als jungem, zum Zeitpunkt unserer Erstbegegnung tief in einem depressiven Brunnen ohne Boden hockenden Menschen nachhaltig, auch über die eigene Fortentwicklung hinaus, nahe ging, war die Stärke, die Unabhängigkeit, die Dora vermittels ihrer Darstellerin sich trotz offenkundiger Depression und tief verwurzelter Verstörung in der Bildkadrierung erobert.

Beides strahlte unmittelbar aus der Person Daria Nicolodi heraus, aus der zarten, aber ungemein kalkulierten Kraft jedes Blickes, jeder Bewegung, jedes Ausbruchs. "Schock" ist einer der wenigen Filme, deren Affektwirkung tatsächlich allein mit dieser spezifischen Besetzung so perfekt funktionieren kann, wie er es nun einmal tut. Dieser in seiner auf heutige Sehgewohnheiten fast asketisch wirkenden Jump-Scare-Präzisionsarbeit ungemein verstörende Film ist gleichsam eines der warmherzigsten, reflektiertesten Porträts von psychischer Erkrankung im Genrekino; weil er präzis die Übergänge von der im Kopf verankerten Würde des Weiterfunktionierens zu den eigenen Unterwelten auslotet, in die wir tief geschwächt früher oder später alle zu rutschen drohen. Und in diesen Unterwelten findet sich: Hysterie - die echte, nicht die, die nicht mehr ist als freischwebender Urteilsspruch des Mitfühlens nicht williger Männer.



Daria Nicolodi war eine Schauspielerin, die - ob ihre Figuren nun als stark oder schwach gezeichnet waren - weitestgehend unbehelligt von der ausgeprägten Maskulinität auf der sie umgebenden Leinwand existieren konnte. Als Frau, vielmehr jedoch als Mensch, dessen Macken und Eigenheiten nur ihm selbst gehören. Außerweltlich absent ist jedes erotische Knistern zwischen Nicolodi und Hemmings, gelegentlich flirten die beiden ungelenk wie Schulkinder; der Mann hingegen, der Dora Baldini zu dem machen sollte, was sie nicht ganz sein kann, lebt nur mehr in Rückblenden weiter. Lange verblichen ist er, während sie sich hält.

Nicolodi dürfte es wohl auch gewesen sein, die als Mitautorin die hinreißende Esoterik, das nerdige world building in "Suspiria" (1977) hineinwehte - in ihre bekannteste Zusammenarbeit mit dem vorher mit hochkomplexen Thrillern berühmt gewordenen Argento, den sie kurz vor "Profondo rosso" geheiratet hatte. Die Hexenzirkel, das Metaphysische, der Mensch in einem übergeordneten Uhrwerk - diese Dinge sollten ihre weitere Karriere prägen. Man spürt sie bereits früher, an Daria Nicolodi haftet eine spezifische Fremde als Abwehrschirm - vor den Mitmenschen, auch jedoch vor der sie umgebenden Welt. John Steiner und David Hemmings, die in jedweder Hinsicht nicht übermäßig großen, doch umso mehr von ihrer Ausdeutung der Geschehnisse überzeugten Männer aus "Schock" und "Profondo rosso" verstehen sie nicht, können es gar nicht. In erster Linie scheitern sie intellektuell, erst dann auch emotional. Es fehlt ihnen eine Wahrnehmungsebene, die über das Evidente und Nachspürbare hinausgeht. Das geht weit über den alten Männerallgemeinplatz "Mann versteht euch Weiber ja nicht!" hinaus.

Es geht Nicolodi nicht um Fragen, sondern um Klarheiten. Jedes Lächeln, jedes Lachen, die stolze Haltung der immerhin 175 Zentimeter transportieren es. Die Antworten liegen frei, man muss sie nur sehen wollen. Für den einen kommt jede Erkenntnis zu spät, der andere darf am Ende lernen, in einem Initiationsritus auf Leben und Tod, der eine romantische Zuneigung zu ihr erweckt - zu ihr wie sie ist, nicht wie er sie sehen mag. Sehen ohne Hindernisse, das ist immer wichtig: Weniger auf die Zuneigung der Kamera angewiesen als viele andere, zuvorderst auch Männer, ist ihre für von Kinolustobjekten verwöhnte Augen zu dünne, durch weite Kleidung bis zum Knabenhaften überdehnte Statur eine, die Selbstachtung ausstrahlt, nicht Arroganz, wie die Herren auf der Leinwand erst vermuten. Einige ihrer Darbietungen haben etwas distinkt Geschlechtsloses an sich, einen unberührbaren Individualismus als Sein-Zustand, der einfach da ist, frei ist, keine Lektionen anstrebt. Selbst dann, wenn sie wie in "Phenomena" (1985), der letzten Kooperation mit Argento zu Ehezeiten, eine der so grausamen Mutterfiguren ihres langjährigen Partners interpretiert.



Oft vollziehen sich um Nicolodi herum Riten der sich erweiternden Wahrnehmung, manchmal entpuppt sie sich als Böse im Gestus einer Guten, dann als Schutzengel aus der abgeschüttelt gewähnten Kindheit. In "Paganini Horror" schließlich, den sie 1989 mit Luigi Cozzi, dem anderen großen, zugunsten des anhaltenden Geniekults um den Meisterregisseur künstlerisch weitestgehend vernachlässigten Mitkopf hinter den Filmwelten Argentos schrieb, ursprünglich als letzten Teil von dessen verehrter Mütter-Trilogie, erscheint sie in tragender Rolle vollkommen unabhängig von Raum und Zeit. Lose eingebettet in flüchtige Thesen von der Sphärenharmonie, dem schon im antiken Griechenland von Theorien umwitterten Klang des sich bewegenden Universums, ist hier alles Teil von etwas, das sich jenseits der Grenzen menschlichen Erfassens befindet. Der aus der Ewigkeit des Alls geglittene Rächer mit der messerbewehrten Geige, das von einem elektrostatischen Schutzfilm umkapselte Herrenhaus, Nicolodi als Lockvogel wie zentrales Instrument für ewiglich weiterlaufende Reinigungs- und Strafprozesse schlechter Menschen - all dies ist Teil einer überspannt-verwegenen philosophischen Reichhaltigkeit, die gewiss einhundert Doktorarbeiten nicht ausreichend ergründen könnten.

Geistige Abgeschiedenheit dieser Art begründete Daria Nicolodis singuläre Außenwirkung und machte sie zu einer der würdevollsten Personen des Kinos. Ihre letzte Kinorolle, einmal mehr für Argento, fasst diese Facetten schon auf der narrativen Ebene treffend zusammen: Sogar im lustvollen Splatterschmand von "La terza madre" (2007), dem gemeinhin verhassten wahren Abschluss der Mütter-Trilogie, schwebt sie als astrale Erscheinung aus einer anderen Zeit, eines gänzlich anderen Koordinatensystems herum.

Heute mahnen junge, kluge Stimmen vermehrt dazu, sich von den Ansprüchen einer aus Männerperspektive gestrickten Ordnung zu lösen, unabhängig zu machen. Daria Nicolodis Figuren trafen diese Entscheidung schon vor vielen Jahrzehnten in einem Raum jenseits des unseren. Wir sollten ihnen dennoch nacheifern, denn ihre Haltung wird das weltliche Ende ihrer Schöpferin überdauern.

André Malberg

Rest in Peace Daria Nicolodi, 19.6.1950 - 26.11.2020