Im Kino

Die Liebe im Tun

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Janis El-Bira
11.03.2021. Falsche Väter, falsche Ehemänner, falsche Menschen, echte Gefühle: Werner Herzogs Film "Family Romance LLC" zielt mitten hinein ins Herz der Zivilisation. Melville Shavelsons Komödie "Hausboot" von 1958 punktet mit Tempo, Witz, einem tolpatschigen Cary Grant und einer hinreißenden Sophia Loren.


Wahrscheinlich muss man in tiefste Höhlen gestiegen und über den höchsten Wipfeln der Regenwälder geflogen sein, mit Bären gerungen und Wüsten durchquert haben, um den Menschen als größte Verunsicherung zu begreifen. Dabei war das in den Filmen von Werner Herzog auch vor ihrem Abbiegen in jene wundersame, unheimlich produktive Spätphase eigentlich nie anders. Abgründiger noch als alle Schluchten und putziger als jedes tanzende Huhn bevölkern seit jeher Menschenwesen Herzogs romantische Filmlandschaften. Menschen, wie man sie sich kaum ausdenken könnte - oder eben ausschließlich. Stets ist in Herzogs Begegnungen am Ende der Welt die Begegnung mindestens ebenso wichtig wie der heilige Schauer ihrer extremen Rahmung zwischen den Extremphänomenen der Natur.

Folgerichtig ist da nur, dass Herzog auch in seinem jüngsten nicht-dokumentarischen Film "Family Romance, LLC" die Pracht japanischer Kirschblüten gleich zu Beginn beiseite wischt, um sich ganz den Menschen zuzuwenden, die in Tokios Parks ein sonderbares Spiel spielen. Ein Mann spricht ein Mädchen an, erklärt sich zu dessen lange abgetauchtem Vater. Mahiro, das Mädchen, sagt, sie freue sich, ihn wiederzusehen. Sie machen Fotos. Der Mann, er heißt Yuichi, posiert mit den Zweigen der Kirschbäume um die Schultern. Später fahren er und Mahiro Tretboot, sie wird ihm von ihrer Mutter erzählen, vom ersten Verliebtsein. Er gibt sich verständnisvoll, atmet tief und seufzend ein, bevor er die unsteten Dinge des Lebens kommentiert.

Wacklig sind die Handkamerabilder, die "Family Romance LLC" einen dokumentarischen Anschein verleihen. Schein ist auch - man errät es schnell - das vermeintliche Vater-Tochter-Verhältnis von Yuichi und Mahiro. "Family Romance" ist eine Firma, die Menschen gleichsam vermietet, damit sie gegen Bezahlung und auf Zeit anderer Leute Eltern, Freunde, Geschwister spielen. Deshalb ist auch Yuichi nicht ausschließlich Mahiros Spiel-Vater, sondern zum Beispiel auch "Vater" einer jungen Braut, deren alkoholkranker eigentlicher Vater es nicht zur Trauung geschafft hat. Die Firma soll es in Tokio tatsächlich geben. Ihr Geschäft ist ein Schein, der eben gerade kein bloßer ist. Weil sich im Spiel etwas wie von selbst preisgibt, das sich viel schwieriger dort ausdrücken ließe, wo Denken, Fühlen und Handeln identisch sind. Weil die Liebe im Tun vielleicht mehr nützt als in Gedanken.



Im Herzeigen des Nicht-Identischen innerhalb seiner Beziehungsverhältnisse erweist sich "Family Romance LLC" als intellektuelles und sinnliches Vergnügen zugleich. Ziemlich komisch ist es jedenfalls, wenn etwa Yuichi als gemieteter Kumpel eines Bahnangestellten dessen Schuld an einem zu früh abgefahrenen Zug auf sich nimmt und durch ein archaisches Unterwerfungsritual zu tilgen vermag. Schön ist, wie Yuichis Performances stets eine Veränderung des Ist-Zustandes bewirken: Der Schaffner behält seinen Job, die Braut wahrt ihr Ansehen und Mahiro findet zwar keinen Vater, vielleicht aber einen Freund und auf jeden Fall ein Stück weiter zu ihrem Teenager-Selbst. Nichts daran ist ganz richtig, aber deshalb ist auch nicht gleich alles falsch. Schwebend heißt der Aggregatzustand all dieser Begegnungen.

Nur einmal scheint Herzog dabei der sanften Verrücktheit staunend zu erliegen: wenn Yuichi ein Hotel besucht, in dem überaus menschlich wirkende Roboter hinter der Rezeption die Gäste begrüßen. Selbst hier aber öffnet das Abschweifen auf stumpfe Robotergesichter und elektrifizierte Fischmaschinen im Aquarium ganz eigene Assoziationsräume. Und irgendwie schaut Herzog, dessen bewusst fremder Blick den einzigartigen Reiz seiner Filme genauso ausmacht wie ihre Grenze, an den üblichen Japan-Klischees sowieso vorbei. Ein "Japan-Film" steckt in "Family Romance LLC" natürlich trotzdem, ein Liebesfilm sowieso - vor allem aber eine weitere Expedition: Nicht zu den Rändern der Welt, sondern mitten hinein ins Herz der Zivilisation, wo die Menschen in ernsten Spielen unablässig unterwegs sind.

Janis El-Bira

Family Romance LLC - USA 2019 - Regie: Werner Herzog - Darsteller: Ishii Yuichi, Mahiro Tanimoto, Miki Fujimaki, Takashi Nakatani - Laufzeit: 89 Minuten. "Family Romance LLC" auf Mubi.

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Ein Junge mit seiner Mundharmonika. Zum kugelrunden Muster des Teppichs dreht er sich im Kreis. Der Vorspann ist knallbunt, verschiedene Farbfilter liegen über den Bildern. Dazu gibt es das Hauptdarsteller*innen-Paar Sophia Loren und Cary Grant als supersüße Strichfigürchen, wie von Kinderhand gemalt. Doch von Anfang an geht es in diesem Hollywoodfamilienfilm auch um Traumatisches und den kindlichen Umgang damit: "I hate everybody. I hate everybody in the whole wide world."

Der Rechtsanwalt Tom Winters (Grant) kehrt nach dem Tod seiner Exfrau zu seinen drei Kindern, Elizabeth (Mimi Gibson), David (Paul Petersen) und Robert (Charles Herbert), zurück, die die letzten Jahre im Landhaus ihrer Tante Carolyn (Martha Hyer) lebten, um sie mit zu sich nach Washington zu nehmen. Die Kinder sind von dieser Idee zunächst absolut nicht angetan. Bei der Sightseeing-Tour durch die Hauptstadt steht ein Konzert auf dem Programm. Während der alternde Maestro Arturo Zaccardi dirigiert, ist seine Tochter Cinzia neben der Bühne (Auftritt: Sophia Loren in olivgrünen Kleid und mit braungebrannter Haut, vom Rot um sie herum vortrefflich akzentuiert) höchst erfreut über die Respektlosigkeit, mit der Robert und seine Mundharmonika dem Hochkulturgenuss begegnen.

Im überaus temperamentvollen Streitgespräch zwischen der jungen Frau und ihrem Vater nach der Aufführung erkennen wir auf den ersten Blick den Grund für die Zuneigung, die Cinzia den renitenten Kindern entgegenbringt; ist sie selbst doch mit 22 hauptsächlich Tochter, die aufbegehrt gegen einen so dominanten wie eifersüchtigen Vater, aus dessen Schatten zu treten ihr nicht gelingt, und der auch vor körperlichen Züchtigungen nicht zurückschreckt, um sie an dem Platz zu halten, den er für den ihren hält.



So begegnen sich mit der Frau und dem Jungen, den sie Roberto nennt, zwei nächtliche Ausreißer*innen auf der Flucht vor ihren Vätern im Ruderboot auf dem See. Das bunte Treiben auf dem Jahrmarkt, auf dem sie ihm anschließend zeigt, wie man richtig Pizza isst, beim Ringe werfen betrügt und tanzt, ist ein erster Höhepunkt des Films. Weil Tom ein Kindermädchen und eine Bleibe sucht, landen Cinzia, er und die drei Kinder schließlich auf einem alten, heruntergekommenen Hausboot. Jede Menge Arbeit muss getan und allerlei emotionale Verwicklungen entwirrt werden, damit aus einer schwimmenden Bruchbude irgendwann ein schmuckes Zuhause und aus dem fünfköpfigen Gespann eine Familie werden kann.

"Hausboot" (1958) ist ein Klassiker aus einer Zeit, in der sich Hollywood, aufgrund der Konkurrenz des sich ausbreitenden Fernsehens, in einer seiner zyklischen Krisen befand. Regie-Routinier Melville Shavelson, der gemeinsam mit dem Produzenten Jack Rose auch das Drehbuch schrieb, begegnete den neuen Herausforderungen mit makellosem Handwerk: Der Film ist temporeich und pointiert geschrieben, mit der ein oder anderen Punchline, die man sich als Poster rahmen und an die Wand hängen möchte, die im besonders scharfen VistaVision gefilmten prachtvollen Bilder stehen ganz im Dienst der Erzählung, aber die Kamera von Ray June lässt sich doch zwischendurch auch immer wieder Zeit zum Schwelgen - in den tobenden nächtlichen Gewittern, der tollen Ausstattung (klares Highlight: ein Waschsalon in Weiß und Pastell wie aus dem 1950er-Bilderbuch) oder der Technicolor-blauen Nacht, die der Film seinen Figuren als Rückzugsort bietet.



Das interessanteste an all dem ist aber, dass es unter der durchgestylten Oberfläche heftig am Rumoren ist. Der Film ist nicht nur Produkt einer Krise, er erzählt auch von einer, von großen Umwälzungen des menschlichen Zusammenlebens. Zunächst ist alles deutlich psychoanalytisch grundiert: Carolyn, die in der zweiten, der Romanzenhälfte, als Cinzias Nebenbuhlerin um Toms Gunst auftritt, gesteht ihm letztlich, dass sie in ihn verliebt ist, seit sie vier Jahre alt war - bevor ihr ihre Schwester zuvorkam. Um zu Tom zu finden, muss Cinzia auch die Hass-Liebe zu ihrem Vater überwinden. Und warum der dreizehnjährige David sich zunächst heftig dagegen sträubt, dass die Italienerin seine neue Mutter wird, bleibt weder Rätsel noch Andeutung. Überall gehen freundschaftliche, familiäre und erotische Gefühle fließend ineinander über oder liegen miteinander im Clinch. Die Paar- und Familienbildung, die die Konvention des Genres verlangt, ist in erster Linie ein großer Haufen Sublimierungsarbeit, die vielen kleinen Konflikt, die es beizulegen gilt, summieren sich letztlich zu einem großen von Patchwork und Ödipus.

Auch die Chemie zwischen den Figuren stimmt; vor allem, aber nicht nur, zwischen Grant und Loren. Er, wie so oft: ein ziemlicher Tollpatsch in Liebesdingen. Sie: stets bereit überzuschäumen (in einer Szene antwortet sie auf einen Klaps auf den Hintern mit einem verdienten Martini ins Gesicht), versteht es dabei doch, dem Italienerinnen-Klischee eine berührende Verletzlichkeit zu geben. Es macht großen Spaß, diesen Figuren dabei zuzusehen, wie sie langsam zusammenwachsen - bis am Ende ein Junge auf seiner Mundharmonika den Hochzeitsmarsch bläst.

Nicolai Bühnemann

Hausboot - USA 1958 - Regie: Melville Shavelson - Darsteller: Cary Grant, Sophia Loren, Martha Hyer, Mimi Gibson, Paul Peterson, Charles Herbert - Laufzeit: 110 Minuten. Streamingmöglichkeiten für "Hausboot" bei justwatch finden.