Im Kino

Jene letzte Zärtlichkeit

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Sebastian Markt
04.10.2019. Rainer Komers Film über "Barstow, California", eine Kleinstadt in der Mojave Wüste, kreist um eine Person, die nie zu sehen, aber zu hören ist: den lebenslänglich inhaftierten Dichter Stanley "Spoon" Russell Jackson. Jose Luis Torres Leiva erzählt in seinem Film "Death Will Come and Shall Have your Eyes" erzählt von der Liebe und vom Sterben.


Ich wuchs in der Mojave auf
in einer kleinen Stadt
im Herzen der Hochwüste.
Der einzige Ort, an dem ich war
bevor sie mich hierher brachten.
Ich stand auf der Crooks Street
und sah die Berge an, die mich umgaben.
Sie waren die ganze Welt für mich.
Wie naiv ich war.

Spoon Jackson: Herz der Hochwüste
übersetzt von Rainer Komers

Barstow ist eine Kleinstadt in Kalifornien, mitten in der Mojave-Wüste, ungefähr 20.000 Menschen leben dort. Die Stadt hat bessere Zeiten erlebt, das sieht man in den vignettenhaften Bildern, die der Film zu einem Kaleidoskop montiert, das hintergründig eine soziale Geographie erahnen lässt, und man hört es in den Erzählungen der Leute, mit denen Komers sich unterhält. Eine Bar hat nicht mehr viel Kundschaft, jetzt wo der Highway verlegt wurde, und sie in einer Sackgasse steht, an einer Wand des Gastraums hängt eine Galerie mit den Fotos der Stammgäste, die nicht mehr leben. Aus einem Pickuptruck erzählt ein Mann von der Eisenbahnbrücke, die mit Hilfe eines New-Deal-Programms gebaut wurde, und bald nicht mehr stehen wird. Von der Industrie, die hier einmal bedeutend war, ist nicht mehr allzuviel übrig und der junge Mann, der eine Gruppe älterer Leute in einer Szene herumführt, spricht vom Boraxabbau hauptsächlich im Präteritum. Die nahegelegene Miene dient als Tourismusattraktion. Der größte ökonomische Faktor in der Region ist eine riesige Ausbildungsbasis der US Army. Im Film hat sie einen Auftritt als Kulisse einer Übung, die eine Patrouille in einem arabischen Städtchen simuliert. Die angespannte ökonomische Situation im Homeland und ferne Kriege rücken eng zusammen.

Kein Bild gibt es in dem Film von Stanley "Spoon" Russell Jackson, die Person, um die der Film dennoch kreist wie um ein unabbildbares Zentrum. Kein Bild, aber eine Stimme. Bevor sie zu hören ist, bevor noch etwas zu sehen ist in Rainer Komers Film (das erste Bild wird von der Wüste sein), hört man aus dem Off einer schwarzen Leinwand das metallische Klirren und Schlagen von Schlüsseln und eisernen Türen. Nicht in Barstow, wo er geboren wurde und aufgewachsen ist, sondern im Solano State Prison befindet sich Spoon Jackson. Er verbüßt dort eine lebenslängliche Haftstrafe, zu der er 1978 als 20-Jähriger verurteilt wurde und aus der er, außer durch Begnadigung, nicht vorzeitig entlassen werden kann. Life without the Possibilty of Parole nennt das amerikanische Rechtssystem diese Strafe. Jackson begann im Laufe seiner mittlerweile 42-jährigen Haftstrafe zu schreiben. Einen Band seiner Gedichte hat Komers, der seit Jahren mit Jackson in brieflichem Kontakt steht, ins Deutsche übersetzt: "Felsentauben erwachen auf Zellenblock 8". In "Barstow, California" ist es weniger die Lyrik, als Jacksons Autobiographie "By Heart", die dem Film seinen erzählerischen Kern bietet. In einer durchdringenden, sonoren Stimme ist die prätentionslose, eindringliche Schönheit dieser Prosa an verschiedenen Stellen des Films aus dem Off zu hören, der inhaftierte Afroamerikaner hat sie im Gefängnis eingelesen.



Zum Werkzusammenhang von "Barstow, California" gehören zwei kürzere dokumentarische Arbeiten, die Komers als Teil einer Trilogie über den Amerikanischen Westen begreift. Diese beiden anderen, kürzeren Filme, "Nome Road System" von 2004 und "Milltown, Montana" von 2006, sind in der Form anderen Arbeiten Komers wie "Ruhr Record" (2014) oder "Kobe" (2006) näher: dichte Montagekunstwerke über Orte, an denen Komers, auf der Tonspur mindestens so sehr wie auf der Bildebene, das Verhältnis von Landschaften und menschlichen Anstrengungen ausmisst. Auch über die Differenz der Form verbindet die Filme eine Auseinandersetzung mit dem Westen als kultureller Landschaft, der die mythischen Sujets filmisch einholt, und in ein nüchtern und zugleich lyrisches Tonbild verwandelt, in dem nie gewesene Vergangenheit und uneinholbare Gegenwart übereinanderliegen.

Es gibt ein wiederkehrendes Bild in "Barstow, California", das eine Geologin einer Studierendengruppe an einer Felsenformation zeigt. Sie erläutert, in den Äonen umfassenden Dimensionen der Erdgeschichte, welche Vorgänge die Geografie der kargen Berge geformt haben, die Barstow umgeben, und an die Jackson im Knast immer noch denkt. Einen Querschnitt durch die Zeiten legt auch Komers, von der longue durée der Wüstenlandschaft und ihren jüngeren Überformungen durch Menschenhand zu den kürzeren Konjunkturen sozialer Verwerfungen und den an einem individuellen Erfahrungshorizont bemessbaren Erinnerungen Jacksons.

Die Entscheidung, kein Bild, auch keine Fotografie von Jackson in den Film zu setzen, sei sowohl den Umständen - den Restriktionen der Gefängnisverwaltung - geschuldet, als auch eine ästhetische Setzung gewesen, erzählte Komers in der Diskussion auf der Duisburger Filmwoche, wo der Film letztes Jahr mit dem Arte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet worden ist. Die bildliche Abwesenheit und stimmlich-erzählerische Präsenz Jacksons haben einen gespenstischen Effekt, der die allgemeine Gegenwart und die besondere Vergangenheit in einen wechselseitigen Austausch bringen, und die schmerzliche Abwesenheit eines Lebens verdeutlichen, das vorher schon prekär war und jetzt von gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen ist.



Zwischen den Worten und den Bildern stellt sich ein Zusammenhang her, der unmittelbar oder mittelbar sein kann, aber immer eine Lücke sichtbar lässt, die die Zeit und das Gefängnis geschaffen haben und die der Film nicht auslöschen kann. Jacksons Erzählungen handeln von einer schwierigen Jugend vor einem Horizont von Armut und Gewalt, aber auch von dem später gefundenen Sinn - vielleicht sogar Glück -, der nicht dem Gefängnis geschuldet ist, sondern der Möglichkeit, sich die in die ferne gerückte Welt sprachlich anzuverwandeln. Ob das Erzählte in die Nähe des Bildes rückt oder entfernter bleibt: Es existiert ein Abstand über Zeiten und Orte hinweg, ein Bruch, der ein filmischer ist, aber auch ein zutiefst persönlicher.

Komers ergänzt die Spurensuche durch Begegnungen mit einigen der 14 Brüder Jacksons. Zwei stapfen einmal über eine Brache, an der das Haus ihrer Kindheit stand. Einer findet ein Rohr, das ein Teil des Kamins gewesen sein könnte, meint er zumindest. Eher vom Klo, meint der andere. "Zu irgendwas gehört es ja. Ein Überrest," insistiert ersterer. "Kannst es ja mit nach Hause nehmen", antwortet lakonisch letzterer. Überreste großer Geschichte und kleiner Geschichten montiert Komers, in Bildern, die ins Detail gehen und aus ihrem konkreten Zusammenhang herausweisen. Ein Porträt eines Ortes, das sich nach verschiedenen Richtungen aufspannt, vom Sosein seiner Gegenwart, zu der Geschichte, die ihn hat werden lassen, vom Lauf der Dinge zu einem ganz konkreten Lebenslauf, konzentriert um einen Menschen, der fehlt. Was, wenn man es auch nicht nach Hause mitnehmen kann, die Zeit lange überdauert, die man im Kino verbringt.

Sebastian Markt

Barstow, California - Deutschland 2018 - Regie: Rainer Komers - Laufzeit: 76 Minuten.

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An welchem Punkt in der Geschichte einer Liebe ein Film einsetzt, verändert alles. In José Luis Torres Leivas zärtlichem "Death Will Come and Shall Have your Eyes", der in der gewohnt starken Vitrina-Sektion des Filmfest Hamburg zu sehen ist, setzt die Geschichte an, als die Liebe am stärksten und das Leben am zerbrechlichsten ist. Ana hat Krebs im Endstadium, Maria kümmert sich um sie. Die beiden Frauen ziehen erstmals zusammen, verbringen ihre letzten Stunden umschlungen, sich in die Augen blickend. Verlust und Liebe treffen sich. Am Ende tanzen einige Jugendliche am Strand. Sie hören nicht, als gesungen wird: "When it comes to love, everything's a beginning…"

Schatten von Blättern tanzen auf der Haut, das Atmen fällt schwer. Eine letzte Zigarette zwischen den Bäumen. Kurze Ausbrüche der Verzweiflung. Dann wieder Stille. Die Behandlung wird eingestellt. Der Versuch, in Frieden zu sterben. Die Pflege und der Weg in den Tod werden als anhaltende Nähe erzählt. Beinahe utopisch bei aller Traurigkeit. Tatsächliche Wunden oder Geschwülste spart der Film aus. Torres Leiva beschränkt sich auf Tränen, Wut und Zittern. Zwar wird Ana einmal gesagt, dass sie dünn geworden sei, aber die Körperlichkeit der Erkrankung bleibt unsichtbar. Stattdessen wagt der Film drei Ausflüge in den Urwald. Die beiden Frauen treffen sich in der Fiktion, in dem, was man vom Begehren erzählen kann. Emotionen, die sich in die Landschaften einschreiben. Dadurch etabliert der Film eine Ebene, die unabhängig vom Herzschlag überlebt. Ein losgelöster Film über das würdevolle Sterben.

Im Urwald herrscht jener sanfte Gesang der Zikaden, den man etwa auch aus den Filmen von Apichatpong Weerasethakul kennt. Die Frauen erzählen sich Geschichten. Es ist kein Eskapismus, sondern vielmehr eine stellvertretende Verhandlung der eigenen Ängste und Lüste. Erzählt wird die Begegnung einer älteren Frau mit einem scheinbar wilden Mädchen, das in der Natur aufgewachsen ist und eine sexuelle Explosion zwischen zwei Männern, die sich zufällig im Wald treffen. Dazwischen schlendert ein Puma durch das Gras. Die Symbolkraft ist hier und da etwas bemüht, überdeutlich, aber dennoch entsteht ein ehrlicher Teppich aus entgegengesetzten Gefühlen. Man könnte das Ausleben von Sexualität in Zeiten des Sterbens auch schnell polemisch umsetzen, aber darum geht es Torres Leiva ganz und gar nicht.



Als Film über die Berührung zwischen den Lebenden und den Sterbenden greift "Death Will Come and Shall Have your Eyes" ein Thema auf, dass es im Kino meist nur als Klischee zu sehen gibt. Er umgeht sämtliche Fallen, indem er Liebe und Sterblichkeit gleichermaßen über die konkrete Berührung von Körpern erzählt. Sich haltende Hände, sich stoßende Schultern, sich touchierende Wimpern. Der Tod liegt zunächst zwischen den beiden Frauen, die zu Beginn nur selten beide im gleichen Bild zu sehen sind. In einer Szene verschwindet die sterbende Ana beinahe in einer Unschärfe. Nur die Tränen ihrer Freundin halten sie im Bild. Später liegt der Tod im wahrsten Sinne des Wortes mit den beiden Frauen. Insbesondere Amparo Noguera als hilflose, sich kümmernde Frau berührt in ihrer Mischung aus Apathie und Stolz, Sanftheit und Trauer.

Bleibt das Bild des Todes selbst. Im Titel, der auf einem Gedicht von Cesare Pavese basiert, ist es das Bild von Augen, aber er besagt auch, dass diese Augen ein nutzloses Wort werden würden. Im Film passiert das Sterben Off-Screen. Es äußert sich in einer Bewegungslosigkeit. Ein Körper wird abgeschwenkt. Ein anderer steht machtlos, schaut und schenkt schließlich jene letzte Zärtlichkeit, die - und das zeigt der Film eindrücklich - ein ganzes Leben bedeuten kann.

Patrick Holzapfel

Death Will Come and Shall Have your Eyes - Chile 2019 - OT: Vendrá la muerte y tendrá tus ojos - Regie: José Luis Torres Leiva - Darsteller: Julieta Figueroa, Amparo Noguera - Laufzeit: 86 Minuten.