Im Kino

Königin des nervösen Seitenblicks

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
10.10.2018. Um Kinder und Bücher, beziehungsweise den Mangel an beiden, geht es in Tamara Jenkins' schönem Netflixfilm "Private Life". Als begabter Genreregisseur erweist sich Brian Henson in seinem Puppennoir "The Happytime Murder".


Rachel (Kathryn Hahn) hat ein Buch geschrieben (leider schlägt der Verlag ein doofes Cover vor), aber sie und ihr Partner Richard (Paul Giamatti) haben keine Kinder. Cynthia (Molly Shannon) hat, trotz literarischer Ambitionen, kein Buch geschrieben, aber sie hat zwei Kinder. Eines davon ist Sadie (Kayli Carter). Die will auch Schriftstellerin werden, studiert dafür irgendetwas Literarisches auf einem College, bis auf ein paar Seiten Erlebnisbericht über Oralsex ist noch nichts Zählbares dabei herausgekommen. Andererseits ist sie noch jung und möglicherweise außerordentlich fruchtbar. Eigene Kinder will sie vorläufig nicht, aber sie ist, als sie danach gefragt wird, sofort bereit, für Rachel und Richards Kinderwunsch eine Eizelle zu spenden.

Kinder und Bücher: Da sind die beiden Währungen, die in diesem Film kursieren. Von beiden entstehen tendenziell zu wenig neue. Nichtgeschriebene Bücher werden gegen nichtempfangene Kinder aufgerechnet. Aber beide Währungen sind nicht gleichwertig. Die literarische Seite der Rechnung läuft eher nebenbei, im Hintergrund, mit: Immer mal wieder wird nachgefragt, wie es mit diesem und jenem geplanten Buch steht. Außerdem liegt in der New Yorker Wohnung von Rachel und Richard alles voll mit Büchern. Richard liest abends im Bett Karl Ove Knausgård. Nur kurz ist, wenn er die Lektüre kommentiert, das Cover zu sehen, der Film geht davon aus, dass sein Publikum, oder jedenfalls ein hinreichend großer Teil seines Publikums, das Buch auf Anhieb erkennt.

Die Bücher geben dem Film eine Textur, sie dienen als sozialer Kitt, etablieren ein Milieu und auch eine geheime Ökonomie; die Kinder dagegen geben dem Film seine Form, sie sind als Problem dauerpräsent und auch wenn ohne sie die Welt, die der Film zeigt, nicht dauerhaft bestehen kann, treiben sie die Menschen eher auseinander als zusammen. Oder zumindest: Kinder, die existierenden wie die fehlenden, verändern menschliche Beziehungen, und zwar unwiderruflich. Zum Beispiel hat sich das Sexualleben von Rachel und Richard, seit sie ihr ganzes Leben dem Kinderwunsch untergeordnet haben, radikal gewandelt. Die klassische Empfängnisoption hat sich bereits vor Filmbeginn erledigt, zur Auswahl stehen verschiedene Methoden der künstlichen Beruchtung und Adoption.

Konkret heißt das: Anstatt mit ihr zu schlafen, traktiert Richard Rachel mit Hormonspritzen. Und noch etwas später traktiert er sowohl Rachel als auch Cynthia mit Hormonspritzen. Danach liegen sie zu dritt nebeneinander auf dem Bett, gemütlich-abgeschlafft, warmes Licht auf ihren Gesichtern - vielleicht das einzige halbwegs harmonische Familienbild im Film. Cynthia wiederum bekommt es einfach nicht hin, sich angemessen für ihre jüngere Tochter zu freuen, als diese ihre ersehnte Collegezulassung erhält. Sie fängt, aus einem ganz anderen Grund, zu weinen an. Sie kann sich einfach nicht gegen die Tränen wehren.



Man muss eine Situation eben nicht nur verstandesmäßig durchdringen, sondern auch die Kraft und Fertigheit haben, sich angemessen zu ihr zu verhalten. Die Differenz zwischen beidem ist auch die Differenz zwischen Selbst- und Fremdbild. Ausgespielt wird sie in Tamara Jenkins' Film primär als Komödie. Tatsächlich mobilisiert der Film gleich mehrere komische Modi, vermittelt über die drei Hauptdarsteller. Giamatti (der seine Manierismen diesmal glücklicherweise weitgehend im Zaum hält) ist für gutmütig-tapsigen Slapstick zuständig. Beim Samenspenden bleibt er mit heruntergelassener Hose auf halbem Weg zwischen Sessel und Pornofernseher stecken. Carter hingegen aktiviert permanente Fremdschäm-Attacken: Ihre bei jeder Gelegenheit munter drauflos plappernde Sadie hat ihr Studium längst gegen die Wand gefahren und zelebriert einen harmlosen, sogar einigermaßen liebenswerten Narzissmus, dem jede Lektüre, jeder Unikurs eben deshalb "pretty life-changing" vorkommt, weil eine echte Veränderung ihrer Lebensumstände nicht in Sicht ist.

Das Zentrum des Films, in komödiantischer wie in emotionaler, erst recht in energetischer Hinsicht, ist allerdings Hahn. Die ist seit langem ein noch viel zu geheimer Schatz des amerikanischen Kinos, hier hat sie jede Menge Platz. Wenn Giamatti eher ein deformierter Körper und Carter eher eine deformierte Psyche ist, dann wird bei Hahn beides ununterscheidbar: Rachel ist ein einziges Neurosenbündel, aber die Neurosen springen eben auch sofort immer auf ihren Körper über. Die Königin des nervösen Seitenblicks, der fahrigen Handbewegung, des aus dem Nichts heraus eskalierenden und auch gleich wieder kollabierenden Wutausbruchs.

Wie die verschiedenen komödiantischen Attraktionen nebeneinander her laufen, mal eher miteinander, mal eher gegeneinander arbeiten: das ist ziemlich großartig. Tatsächlich hätte ich den Film noch etwas lieber gehabt, wenn er sich noch ausschließlicher auf die Darstellerinnen und Darsteller konzentriert hätte. Jenkins zielt allerdings, ähnlich wie zuletzt Mike Mills in "20th Century Women", auf eine symphonische Form, die kleine, intime Beobachtungen mit einer weiteren, panoramahaften Perspektive verbindet (wobei es in "Private Life" weniger um einen historischen als um einen soziokulturellen Mehrwert geht). Wie bei Mills funktioniert das über den arg funktionalistischen Einsatz von home-movie-artigen Bildern und vor allem über Musik. Immer mal wieder brechen, meist unterlegt von perlenden, glasklaren Klaviermelodien (die Musikauswahl selbst ist super, das ist nicht das Problem), Montagesequenzen über den Film herein, die in fast schon aggressiver Manier auf das Innenleben der Figuren übergreifen.

Dabei hat der Film solche Momente der kunsthandwerklichen Verkleisterung gar nicht nötig. Die dramaturgische Struktur selbst sorgt bereits dafür, dass die Partikularneurosen nicht nur über sich selbst, sondern auch über die Welt, der sie entstammen, etwas erzählen. Rachel und Richard leben, seit sie gegen die Unfruchtbarkeit und das die Unfruchtbarkeit befeuernde Altern kämpfen, im permanenten Ausnahmezustand. Aber der Ausnahmezustand bildet seine eigenen Routinen aus: Die wiederkehrenden Hormonspritzen, Szenen im Wartezimmer, Szenen im Behandlungszimmer, der Gynäkologe, der erst Rachel, später Cynthia unverbindlich freundlich anlächelt, bevor er sich an ihnen zu schaffen macht. Auch der Anästhesist reißt, wenn er die Patientinnen vor der OP einschläfert, immer denselben faden Witz.

Lukas Foerster

Private Life - USA 2018 - Regie: Tamara Jenkins - Darsteller: Kathryn Hahn, Paul Giamatti, Kayli Carter, Molly Shannon, Denis O'Hare, John Carroll Lynch, Emily Robinson - Laufzeit: 123 Minuten.

"Private Life" ist seit dem 5.10. auf netflix verfügbar.


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Zu Beginn fährt die Hauptfigur, der abgehalfterte Privatdetektiv Phil Philips, in seinem gepflegten, dunkelgrünen Oldtimer durch die Straßen von Los Angeles, per Voice-Over mit melancholischer Abgeklärtheit über die BewohnerInnen der Stadt sinnierend. Philips ist eine von vielen Puppen, die in der Welt des Films - nicht allzu friedlich - mit den Menschen zusammenleben. Das ist ein doppelter Coup: Zunächst, weil es in dem Film um Spannungen zwischen Menschen und Puppen geht, dann aber auch, weil die Art, mit der "The Happytime Murders" dem (Neo-)Film Noir Referenz zollt, mit ausschließlich menschlichen DarstellerInnen im Jahr 2018 wohl nur noch abgeschmackt wirken würde.

Der Rassismus derer aus Fleisch und Blut gegenüber denen aus Plüsch wird schon am Anfang thematisiert und später in einer Weise ausbuchstabiert, die klar macht, dass die Puppen die Rolle von AfroamerikanerInnen einnehmen. So war Phils Bruder Larry einst Darsteller in der "Happytime Gang", der ersten Fernsehserie, die fast ausschließlich mit Puppen besetzt war, ließ sich aber seitdem sowohl das Blau seines Fells bleichen, als auch seine Nase umoperieren, um menschlicher auszusehen. Wie er fallen auch andere, die einst in der Serie mitspielten, einer brutalen Mordserie zum Opfer. Philips nun muss sich mit Connie Edwards (Melissa McCarthy), die in seinen alten Tagen als Polizist seine Partnerin war, wieder zusammenraufen, um die Morde aufzuklären - und zugleich muss er sich seinem Trauma stellen, einem tragischen Unfall im Dienst, der einst seinem Leben eine entscheidende Wende gab.



Dass potenziell niedliche Puppen gar nicht niedliche Dinge tun, ist im Kino nichts Neues. So ließ etwa Peter Jackson in "Meet the Feebles" schon 1989 seine mechanischen Puppen nicht nur tanzen, sondern auch vögeln, kotzen, Drogen nehmen und auf verschiedenste Weise gemein zueinander sein. Und auch die durch "Muppets Show" und "Sesamstraße" berühmt gewordene Jim Henson Company besitzt mit Henson Alternative! schon seit 2007 eine Abteilung, die ausschließlich dafür zuständig ist, Stoffe für Erwachsene mit den charakteristischen Puppen zu produzieren. Dass dieses Konzept in "The Happytime Murders" im Großen und Ganzen aufgeht, verdankt sich sowohl der phantasievollen Gestaltung der Puppen selbst (mein Favorit: ein Bodybuilder in Venice Beach) als auch der ausgestellten Lust am Schmutz und Schmier der kleinen Parallelwelt, in die die Menschen die Puppen drängen und die von der Tagline des Films durchaus treffend auf den Punkt gebracht wird: "No Sesame, All Street". In den Hinterräumen eines Sexshops wird ein bizarrer Porno mit einer aus allen Eutern spritzenden Kuh gedreht. In dreckigen Gassen hausen Puppen in Zelte zusammengepfercht und in zwielichtigen Bars dröhnen sie sich mit lila glitzerndem Puder zu.

Darüber hinaus zeigt sich Brian Henson, Sohn von Jim und heutiger Präsident von dessen Firma, als begabter Genreregisseur. Eine Barschlägerei, in der Melissa McCarthy eine Gruppe abgehalftert versiffter Puppengangster vermöbelt, ist mit überraschend brachialer Wucht inszeniert. Und wenn Phil per Querschläger einen Vater vor den Augen seiner Tochter tötet, dann wird dieses Trauma nicht nur geschickt als narratives Zentrum des Films etabliert; die Szene wird auch überzeugend, mit gehöriger Tragik, ins Bild gesetzt.

Leider ist gerade McCarthys Auftritt eher ein Wermutstropfen. Die Karriere einer der interessantesten amerikanischen Komikerinnen der Gegenwart scheint, das zeigte zuletzt schon der von ihrem Mann Ben Falcone inszenierte "How to Party with Mom", auf einem künstlerischen Plateau angekommen zu sein. Ihr Leinwandimage der taffen, nie um einen Spruch verlegenen und an gesellschaftlichen Benimmregeln ziemlich uninteressierten Frau wird langsam repetitiv, interessante neue Facetten kann sie ihm nicht mehr hinzufügen. Dass hier unter der harten Oberfläche ein weicher - oder zumindest: sehr verletzlicher - Kern liegt, macht die Sache nicht wirklich besser.

Nicolai Bühnemann

The Happytime Murders - USA 2018 - Regie: Brian Henson - Darsteller: Melissa McCarthy, Maya Rudolph, Joel McHale, Elizabeth Banks, Bill Barretta - Laufzeit: 91 Minuten.