Im Kino

Slasher in Verkleidung

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt
01.06.2023. Ti West erzählt in "Pearl" die Vorgeschichte der Hauptfigur seines Retro-Slashers "X": Ein junge Frau, eingesperrt auf einer Farm im Texas des Jahres 1918, träumt davon, ein Star zu werden. Daraus wird nichts, zu groß ist ihre Mordlust. Dafür erzählt West die Geschichte seiner nach den Sternen greifenden Psychopathin wie ein klassisches MGM-Musical, im Farbenrausch-Look der Technicolor-Ära.


Texas im Jahre 1918. Der Alltag von Bauerntochter Pearl (Mia Goth) ist durch karge Aufgaben geprägt: Sie muss die Tiere füttern, das Viehgehege ausmisten, den Hof schmeißen. Für etwas Abwechslung vom Trübsal sorgt lediglich ein Alligator namens Theda, bei dessen Tümpel die junge Frau nicht nur heimliche Verschnaufpausen einlegt, sondern auch allerhand Unliebsames entsorgt. Pearl wächst in pandemischen Zeiten auf, die Spanische Grippe wütet als unsichtbarer Todbringer, unter Menschen traut man sich gerade noch mit Stofffetzen über Mund und Nase. Ihre Eltern kamen einst aus Deutschland in die Vereinigten Staaten. Der Vater ist jetzt unheilbar krank, der frisch angetraute Ehemann wurde eingezogen und bekämpft an der Front die Streitkraft des Deutschen Kaiserreichs. Man ahnt, dass das Disziplin und Gehorsam predigende Elternhaus, unter dessen mangelnden Entfaltungsmöglichkeiten Pearl sichtlich leidet, den Krieg auch als Verteidigung des amerikanischen Exils gegen die überwundene Heimat versteht - und somit als eine familiäre Pflicht unter vielen.

Krankheiten und Kriege kümmern Pearl nur am Rande. Sie will der Einöde entkommen und ein Star werden, um jeden Preis: Auf der Bühne oder der Kinoleinwand, hinaus in die Welt ("Eines Tages werden alle meinen Namen kennen!"). Die asketisch strenge Mutter verbietet es ihr indes, eigenen Träumen nachzujagen, und auch ein örtlicher Talentwettbewerb bringt der am Boden zerstörten Pearl nicht den gewünschten Erfolg. Im letztjährigen Retro-Slasher "X" ließ die erste Begegnung mit der Figur noch vermuten, dass der darin rund 80-jährigen Pearl eine schillernde Karriere glückte, bevor sie dem Wahnsinn anheimfiel. Die Tanzeinlagen der zurechtgemachten Greisin wirkten wie theatralische Erinnerungen an verblichenen Ruhm, das blutige Treiben um sie herum wie eine durchgeknallte Affektreaktion auf seine Unwiederbringlichkeit. Tatsächlich scheint Pearl die elterliche Farm jedoch nie verlassen zu haben: In der Vorgeschichte erzählt Regisseur Ti West die Figur als verhinderte Showbiz-Größe voll eskapistischer Hirngespinste und Mordgelüste.

Pearls Wunsch nach Glanz und Gloria ist von Beginn an mit einer abgründigeren Form des Begehrens verschaltet. Auf dem Bauernhof, der ihre Lebensbühne wird, übt die unfreiwillige Farmerin große Posen (das Publikum: Kühe und Ziegen) und schwingt erratisch die aus "X" bekannte Mistgabel (bereits nach wenigen Filmminuten sticht sie wie von Sinnen auf eine süße Gans ein). Pearls ersten und vermutlich einzigen Blick hinter die Kulissen des Showgeschäfts gewährt ihr ein Filmvorführer im Projektionsraum des lokalen Kinos. Dort bekommt sie frühe Gehversuche sexuell expliziter Bewegtbilder, sogenannte "stag films", zu sehen und verbringt eine Nacht mit dem namenlos bleibenden Bohemien. Ihre Mutter hat Pearl zu diesem Zeitpunkt bereits in Flammen gesetzt und die Kellertreppe hinuntergestoßen - eine großartig hysterische Szene. In der Darstellung des entfesselten, von sexuellem und blutigem Verlangen getriebenen Wahnsinns der Titelfigur liebäugelt Ti West mit Camp-Erwartungen, verfällt aber niemals in Manierismen. Sein unmöglicher Star bewegt sich zwischen Absurdität und Sentiment, Komik und Melodramatik: Pearl ist, was selten geworden scheint: eine genuine Kreation des Kinos.



Obwohl sich im Umfeld der Figur bald weitere Leichen stapeln und dabei manch kreatives Mordwerkzeug zum Einsatz kommt, dienen dem Film die Genrestrukturen eher als Kulisse. Genau wie sein Vorgänger (bzw. Nachfolger) ist "Pearl" ein Slasher in Verkleidung, der sich filmhistorische Motive spielerisch aneignet, statt sie postmodern zu durchdringen - Augenzwinkern liegt dem ewigen Horror-Romantiker und Regisseur Ti West trotz aller Bescheidwissen signalisierenden Beherrschung des Materials angenehm fern. Dass er der Vorgeschichte seiner nach den Sternen greifenden Psychopathin ausgerechnet die dekorative Anmutung eines klassischen MGM-Musicals verleihen würde, war nicht zu erwarten: Pearl killt und kreischt im Farbenrausch-Look der Technicolor-Ära, als habe man Bette Davis' "Baby Jane" in die Welt des "Wizard of Oz" versetzt. Einprägsam arbeitet das visuelle Konzept des Films mit ästhetischen Dissonanzen (prächtige Tristesse, farbenfroher Blutzoll), die Ti West bis zum grandiosen Schlussbild durchhält. Die komplett unterschiedlichen Referenzvorbilder markieren außerdem deutliche Kontrapunkte zu "X".

Als zitatgespicktes Schenkelklopferkino eignet "Pearl" sich erfreulicherweise nicht, vielmehr rufen die vertrauten Bezüge auf wohliges Kintopp von anno dazumal Irritationen hervor: In der allgemeinen Musikalität des Films - seinem omnipräsenten, außerordentlich melodramatischen Soundtrack oder den lebhaften Gestaltungsideen (Split-Screens, Übergange mit Irisblenden) - klingt zwar das alte Hollywood der Vincente Minnellis oder Douglas Sirks an, doch ganz zu sich findet der Film vor allem beim obligatorischen "Texas Chain Saw Massacre"-Verweis, den Pearl gegen Ende auffährt. So kann die bunte Formverliebtheit unter Ti Wests abermals unberechenbarer Regie jederzeit in blutigen Wahnsinn umschlagen, weil das Schöne nicht nur konsequent durchs Hässliche tänzelt, sondern sich ganz ungeniert in ihm einrichtet. Immer wieder gelingen dem Film hinreißend schamlose Höhepunkte, etwa die ziemlich derangierte Szene, in der Pearl auf dem Heimweg plötzlich hemmungslosen Sex mit einer Vogelscheuche hat.

Solche Showstopper-Einlagen gehen vor allem auch aufs Konto der Hauptdarstellerin Mia Goth, deren zentrale Over-the-Top-Performance die Lieblichkeit des Vintage-Chics zunächst affiziert und schließlich komplett aus den Angeln hebt, als der Erlösung versprechende Filmvorführer dem Wahnsinn hinter seiner flüchtigen Affäre auf die Schliche zu kommen droht. Niemand könne ihr etwas vormachen, versichert die beim Lügen ertappte Pearl dem schönen Freigeist, empfinde sie doch "Dinge sehr tief". Es ist ein seltsam berührender Moment, weil er einerseits gewaltige Klüfte zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Figur offenbart, um andererseits sowohl Goth als auch West die Gelegenheit zu verschaffen, ihre reizvolle Mischung aus Abscheu und Witz auszuspielen. Trotz deutlich gezogener Verbindungslinien zu "X" steht "Pearl" auf eigenen Füßen und dürfte innerhalb der bald zur Trilogie ausgeweiteten Erzählung eine Sonderstellung einnehmen. Der aktuell gedrehte "MaXXXine" wird sich erneut auf die Spuren des ebenfalls von Mia Goth gespielten Porno-Starletts Maxine Minx aus "X" begeben - im hoffentlich nicht minder brillanten Abschluss dieser wunderbar bizarren Filmreihe.

Rajko Burchardt

Pearl - USA 2022 - Regie: Ti West - Darsteller: Mia Goth, David Corenswet, Candi Wright, Matthew Sunderland, Emma Jenkins-Purro - Laufzeit: 103 Minuten.