Im Kino

Verdammt komplex

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann
23.11.2022. "Guillermo del Toros Pinocchio" bewegt sich in einem dichten Netz aus Referenzen und erzählt dabei gleich drei Geschichten: Eine Abenteuergeschichte, eine Vater-und-Sohn-Geschichte und eine Geschichte von Krieg und Faschismus. Dabei treiben Del Toros wild wuchernde Fantasiewelten immer dort die schönsten Blüten, wo er sie auf das reale Grauen der Geschichte treffen lässt.


Seit den Anfängen seiner Karriere arbeitet der aus Mexiko stammende und inzwischen in Hollywood als Filmemacher und -produzent erfolgreiche Guillermo del Toro an seiner großangelegten eigenen Populärmythologie. Jeder neue Film - zumindest jeder gelungene - spinnt diese einerseits fort, während er andererseits einen staunenden Blick auf die Vielfalt und schiere Größe erlaubt, die dieses ehrgeizige Projekt inzwischen angenommen hat.

Nun also hat Del Toro seine komplett animierte neue Version von "Pinocchio" gedreht - der erstmals 1883 als Buch des florentinischen Autors, Schriftstellers und Politikers Carlo Collodi veröffentlichten Geschichte um einen lebenden "Holzbuben", die die Populärkultur des 20. Jahrhunderts so maßgeblich beeinflusste, dass man das Buch heute mitnichten gelesen haben muss, um die Puppe zu kennen, deren Nase wächst, wenn sie lügt, und die sich danach sehnt, ein "richtiger" Junge zu werden. Das ist nicht zuletzt deshalb ein Glücksfall, weil der Filmemacher auf eine Vorlage trifft, die mit seinem Schaffen viel gemein hat, insbesondere dann, wenn die Lust daran, der Fantasie freien Lauf zu lassen und munter vor sich hin zu fabulieren, den Sieg davonträgt über die stets etwas dick aufgetragene Moral von der Geschicht. "Guillermo del Toros Pinocchio": Das bedeutet u. a., dass sich die bekannte Geschichte eingebettet findet in ein weit gesponnenes Netz der Referenzen und (Bild-)Zitate, die vom alten Ägypten bis Freud reichen, vom Alten bis zum Neuen Testament und - wir befinden uns in einem Animationsfilm - von Walt Disney bis "South Park".

Was bei Collodi nicht zuletzt durch seine Schlichtheit fasziniert, wird bei Del Toro verdammt komplex und vertrackt. Das Buch beginnt mit einer Szene, die verblüffend an die amerikanischen Buddy Movies der Achtziger erinnert: Der Tischlermeister Kirsch schenkt dem befreundeten Holzschnitzer Geppetto einen sprechenden Holzscheit - und bei dieser Gelegenheit geraten die beiden Männer in Streit, hauen einander nicht ein-, sondern gleich zweimal gehörig auf die Fresse, um sich danach ewige Freundschaft zu schwören. Del Toros Version hingegen erfindet eine ausgeklügelte psychologische Backstory zu Geppetto, den wir zu Beginn als gebrochenen, verbitterten Mann kennenlernen, für den die lebende Marionette auch deshalb ein Segen ist, weil sie an die Stelle seines geliebten Sohnes tritt, der durch einen Sprengkörper eines Weltkriegsbombers - Del Toro verlegt die Geschichte in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts - ums Leben kam. Ein Verlust, den der Vater auch viele Jahre später nicht verkraftet hat: In einem der vielen herzzerreißenden Bilder des Films kauert er im strömenden Regen auf dem Grab seines Sohnes und versucht vergeblich seinen Schmerz in Schnaps zu ertränken.



Die Erzählung des Films funktioniert auf mindestens drei Ebenen: Eine wilde Abenteuergeschichte trifft auf eine psychologische Erzählung, in deren Verlauf sich verschiedene Wesen mit Vaterfiguren aussöhnen und/oder sich von ihnen emanzipieren müssen. Pinocchios wichtigste Gefährten auf seiner weiten Reise sind ein kleiner Affe, der sich gegen seinen Besitzer, einen raffgierigen, mit meterlangen Verträgen bewaffneten Zirkusdirektor durchsetzen muss, und ein kleiner Junge, der lernen muss, seinem hundsgemeinen Faschisten-Vater die Stirn zu bieten. Schließlich ist da noch eine politische Erzählung, weil Del Toro Pinocchio und die Bande von Außenseitern, die er im Verlauf der irrwitzige Haken schlagenden Handlung um sich sammelt, mit Krieg und Faschismus konfrontiert. Wie für sein aufsehenerregendes Werk "The Devil's Backbone" und seinen größten Arthaus-Erfolg "Pan's Labyrinth" - die beide im Spanien unter Franco spielten - gilt auch für "Pinocchio", dass Del Toros wild wuchernde Fantasiewelten immer dort die schönsten Blüten treiben, wo er sie auf das reale Grauen der Geschichte treffen lässt.

So frei Del Toro mit der Geschichte umgeht, so sehr er sie sich aneignet, er erfasst darin ihren Geist. Tatsächlich ist auch bei Collodi der muntere episodische Quatsch um die Streiche der lügenden Marionette geerdet durch einen Blick auf die Härten des Lebens der Armen im ausgehenden 19. Jahrhundert: Das Buch spielt in einer Welt, die bevölkert wird von allerlei Getier, das sprechen und sich auf so absurde wie menschliche Weise beknackt verhalten kann - aber auch von Menschen, die sich entscheiden müssen, ob sie oder ihre Kinder etwas zu essen bekommen, ob sie selbst eine Jacke besitzen sollen, die sie im Winter wärmt, oder ihre Kinder eine Schulfibel. Auch die heute irritierende Brutalität des Buches findet sich bei Del Toro wieder, wenn auch in anderer Form. Die Figur der sprechenden Grille etwa, die als reisender Schriftsteller und Off-Erzähler durch den Film führt, wird im Buch, kaum dass sie auftritt, von Pinocchio mit einem Holzhammer erschlagen.



Es ist kein leichtes Unterfangen, über einen Film zu schreiben, der so übervoll ist von schönen Details und verrückten Einfällen. Pinocchio muss ein ums andere Mal mit einer sphinxartigen Totengöttin verhandeln, die die unsterbliche Puppe bei sich im Jenseits behalten will. Während einer ziemlich durchgeknallten Bühnenshow stößt er Il Duce höchstpersönlich mit krudem Fäkalhumor gehörig vor den Holzkopf. Schließlich muss er ein riesiges Meeresungeheuer in die Luft sprengen, in dessen Magen verschluckte Menschen ein tristes Dasein fristen.

Psychologisch geht es bei Del Toro nicht darum, dass der Holzbube durch Heldenhaftigkeit und das Erlernen von Anständigkeit zum normalen Menschenkind wird, sondern darum, dass er selbst und Geppetto ihn schließlich als das akzeptieren, was er ist: ein eigenständiges Individuum aus Holz - und damit mehr als ein Sohn-Ersatz für den Holzschnitzer. "Guillermo del Toros Pinocchio" ist eine Geschichte darüber, dass die gebrochenen Guten sich zusammenreißen und -raufen müssen, um allerlei menschliche und andere Monster zu besiegen. Doch in alle comicartig überzeichnete Heldenhaftigkeit seiner Figuren legt Del Toro eine große Spur Vergeblichkeit, weil weder das Bestehen ihrer Abenteuer noch die dafür nötige Trauma- und Beziehungsarbeit sie von den basalen Tatsachen des Lebens dispensiert. Am Ende werden sie gewonnen haben und vereint sein - und dennoch irgendwann sterben müssen.

Tröstlich schließlich, dass der Film in einer Welt spielt, in der es nach dem Tod möglich ist, im Reich zwischen den Welten bis ans Ende aller Tage mit ein paar Gesellen Karten zu spielen; es gibt noch ein wichtiges Detail, das diesen Pinocchio optisch von seinen Vorgängern unterscheidet. Früher hatte die Marionette meist eine runde hölzerne Nase, die, wenn sie log, einfach immer länger wurde. Bei Del Toro hingegen wächst ihr, sagt sie Unwahres, ein riesiger Ast aus dem Gesicht, der seinen Gefährten in einer Szene dazu dient, einen Abgrund zu überqueren. Dass die Lügen, die sich einer ausdenkt, so sehr wuchern, wachsen und gedeihen können, dass sie einem Wege in neue Welten eröffnen, ist ein schönes Bild nicht nur für Guillermo del Toros ausufernde Populärmythologie, sondern für die narrativen Künste überhaupt.

Nicolai Bühnemann

Guillermo del Toros Pinocchio - USA 2022 - OT: Pinocchio - Regie: Guillermo Del Toro, Mark Gustafson - Laufzeit: 114 Minuten.