Im Kino

Enthemmung und Entgleisung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
31.08.2016. Verhandelt den Exzess der Formen kontrolliert: Eiichi Yamamotos Animationsfilmmeisterwerk "Die Tragödie der Belladonna", das mehr als 40 Jahre nach seiner Premiere eine Wiederaufführung erlebt. In Jonas Rothlaenders "Fado" gibt sexuelle Eifersucht solange keine Ruhe, bis sich eine atmosphärische Studie in Einsamkeit in ein klaustrophobisches Melodram verwandelt hat.

Wie jeder klassische Animationsfilm beginnt auch das von Eiichi Yamamoto 1973 inszenierte, von Manga-Meister Osamu Tezuka produzierte Meisterwerk "Die Tragödie der Belladonna" mit weißem Papier. Doch während die meisten Animationsfilme diesen Umstand gern verschweigen, legt "Die Tragödie der Belladonna" diese materielle Grundlage zu Beginn völlig offen. Dann kommt ein schwarzer Strich ins Sichtfeld, der Differenz und Komplexität schafft. Ähnlich wie im Fall der Emakimono, der japanischen Bilderrollen, die als historische Vorläufer der heutigen Manga gelten, entrollt sich der Film anhand dieser schwarzen Linie: Sie nimmt Gestalt an, wird komplexer, figürlicher. Bald kommen erste Farbtupfer ins collagierte Bild; wo zuerst schlichtes Weiß zu sehen war, entsteht bald ein Wimmelbild - auch wenn Bewegung zunächst allein der Kamera vorbehalten ist. "Die Tragödie der Belladonna" erarbeitet sich jedes Mittel des Animationsfilms Schritt für Schritt - nichts ist einfach nur zuhanden. Den narrativen Kontext bietet derweil ein Voiceover - "Die Tragödie der Belladonna" ist ein Erzähl-Film im eigentlichen Sinn des Wortes (man könnte vielleicht tatsächlich an die spezifisch japanische Kinotradition des Benji denken, des Kinoerzählers neben der Leinwand). Was zu Folge hat, dass er manchmal wie ein illustriertes Hörbuch wirkt - überraschenderweise allerdings dabei kein bisschen unfilmisch, ganz im Gegenteil: Die "Filmizität" liegt in der Verschränkung der Mittel, die nicht miteinander verschmelzen, wie das bei den Trickwelten der klassischen Disney-Filme der Fall ist, sondern die nebeneinander, aber zueinander im Bezug stehen.

Ein sonderbarer Film. Nichts erinnert an den Kulleraugen-Stil, mit dem man den japanischen Zeichentrickfilm im Westen für gewöhnlich in Verbindung bringt. Auch die ligne claire, für die insbesondere Tezuka steht, fehlt. Stattdessen: wasserfarbenartig-klecksige Flächen, Aquarell-Stil, kaum einmal ein nach Maßgaben eines realistischen Registers definierter Raum. "Die Tragöde der Belladonna" zeigt keine in sich ruhende Erzählwelt, sondern folgt den Erzählpartikeln und -verläufen assoziativ, in zur Abstraktion neigenden, oft mit dem Charme des Unfertigen spielenden Bildern. Dann: Am Jugendstil geschulte Schnörkel, wie mit Filzstift ausgefüllt wirkende Flächen, schließlich der grelle Primärfarben-Exzess der zu runden Flächen neigenden, psychedelischen Pop-Art etwa eines Peter Max, abwechselnd mit schrulligeren Bildern, die an Hokusais groteske Körper erinnern. Und trotzdem, das ist das wirklich Interessante, verhandelt "Die Tragödie der Belladonna" diesen Exzess der Formen geradezu kontrolliert: Nie setzt der Film einfach nur auf Enthemmung und Entgleisung - für einen Animationsfilm ist "Die Trägödie der Belladonna" oft sparsam im Umgang mit Bewegung. So wie er ein Erzähl-Film ist, ist er auch ein Bilder-Film: Oft erzählt er anhand von kommentierten, ruhenden Zeichnungen, die mal im Bilderrahmen bereits aufgehen, mal im panning shot - eben wie bei einer Bilderrolle - von der Kamera abgetastet werden. "Die Tragödie der Belladonna" ist ein höchst "unreiner" Film, in dem gerade die Spannungen enormen Reiz entwickeln: Er ist modern und grell, durch und durch Pop im Sinn einer zeitgenössischen Populär-Avantgarde, deren Grundsteine in den 60ern die Beatles gelegt haben, auch die musikalische Untermalung liegt auf der Höhe der (damalige) Zeit - irgendwo zwischen schwitzigem Prog und psychedelischem Jazz. Aber er bedient sich bei Stilistiken und Strategien, die 1973 schon historisch sind - und macht daraus einen 1A-Film für Tüten- und Löschblatt-Aficionados.


Unrein ist er auch insofern, als es in ihm um erwachsene Themen geht: Um das Trauma einer Vergewaltigung, um körperliches Begehren, um das Motiv der phallischen Frau. Zugrunde liegt Jules Michelets 1862 in Frankreich veröffentlichte Abhandlung "La Sorcière", in der sich der Autor mit dem Satanismus und dem Hexenkult befasst. Die Hexen des Mittelalters deutet er als Form der Rebellion gegen die Zumutungen des Feudalismus und der katholische Kirche. Von der historischen Forschung ist das Buch längst überholt, doch gilt es als einer der ersten Texte, die Verständnis und Sympathie aufbringen für die Lage der betroffenen Frauen. Aus dieser Inspirationsquelle destilliert "Die Tragödie der Belladonna" eine Art "Jeanne d'Arc"-Stoff: Eine junge Frau, Jeanne, wird noch in der Nacht ihrer Hochzeit mit Jean von einem Baron brutal vergewaltigt. Ein phallisch geformter Geist verspricht ihr im Folgenden Erlösung - als sie sich auf ihn einlässt, gibt er sich als der Teufel zu erkennen, der Jeanne magische Kräfte verleiht, mit der sie sich am Baron und ihrem Dorf rächt. 1973, als die zweite Welle des Feminismus in voller Brandung war und sich das Exploitationkino mit Vorliebe Rape'n'Revenge-Stoffen zuwandte, liegt ein solcher Stoff wieder in der Luft.

Die Zeiten, in denen Kritiken zu Zeichentrickfilmen mit dem entschuldigenden Satz "Zeichentrick ist nicht nur Kinderkram" eingeleitet wurden, sind noch nicht allzu lange her, doch glücklicherweise überwunden. Dankenswerterweise ruft diese wieder ins Kino gebrachte, nach Kinemathekenrecherchen aufwändig rekonstruierte und in strahlenden Farben restaurierte "Belladonna" ins Gedächtnis, wie erwachsen das Animationskino auch schon vor solchen begütigenden Erklärungen gewesen ist, aus welchem Formenreichtum einmal geschöpft wurde: Die frühen 70er waren auch in diesem Segment der Filmproduktion eine Zeit des künstlerischen Aufbruchs. In Frankreich entstand René Laloux' faszinierender "Planète Sauvage", in Italien arbeiteten Bruno Bozzetto, den man in Deutschland vor allem wegen "Herr Rossi" kennt, und Osvaldo Cavandoli ("La Linea"), in den USA verbrüderte Ralph Bakshi den Zeichentrick mit der Subkultur der Metropolen - wenig später hielt der pop-anarchische 70-er-Geist sogar im bildungsbürgerlich aufgehobenen Gallien Einzug, in "Asterix erobert Rom", dem schönsten und witzigsten aller Asterix-Filme.

Der "Tragödie der Belladonna" war seinerzeit kein Erfolg beschieden - das Berlinale-Publikum reagierte indifferent, die Produktionsfirma ging bankrott, der Film fristete ein Schattendasein als Kultfilm bei DVD-Labels für Spezialisten. Umso schöner, dass er heute wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrt: Yamamotos Film ruft schlagartig in Erinnerung, welche reichen Paletten des künstlerischen Ausdrucks einem Animationsfilm zur Verfügung stehen und welchen immensen Verlust es darstellt, wenn ästhetischer Fortschritt in diesem Genre heute fast ausschließlich an der fotografisch-realistischen Qualität computeranimierter Fellbehaarung antropomorpher Wesen bemessen wird. Eine Tragödie, fürwahr.

Thomas Groh

Die Tragödie der Belladonna - Japan 1973 - Regie: Eiichi Yamamoto - OT: Kanashimi no Beradonna - Laufzeit: 93 Minuten.

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Ein Abend in einer Lissabonner Bar. Einfach nur Spaß will sie haben, meint die für einen Arbeitsauftrag nach Portugal ausgewanderte deutsche Architektin Doro (Luise Heyer) zu dem ihr hinterher gereisten Fabian (Golo Euler). Fabian nickt stumm und lächelt dabei freudlos. "Spaß haben" ist ein Konzept, das er schon grundsätzlich kaum versteht, und das erst recht kein Sinn ergibt, wenn er mit ansehen muss, wie seine Ex-Freundin Doro an Frisur und Kleidung ihres Kollegen Francisco (Albano Geronimo) herumnestelt. Wie ein Vogel sieht Fabian aus - aber ganz sicher nicht wie ein Spaßvogel. Eher wie ein übellauniger, langhalsiger, schmalgesichtiger Reiher.

Wenig später sitzen Doro und Francisco gemeinsam im Auto. Sie lächeln sich an, ein Kameraschwenk offenbart, dass seine Hand auf ihrem Knie liegt. Am Anfang des Films ist noch nicht ganz klar, ob derartige Szenen, bei denen Fabian nicht anwesend ist, innerdiegetisch real sind, oder ob sie nur im Kopf des Eifersuchtsvogels stattfinden. Es dauert allerdings nicht allzu lang, bis man erkennt, dass es in Jonas Rothlaenders "Fado" schlicht keine Realität gibt, die außerhalb der psychotichen Subjektivität Fabians liegt, dass also auch der "entlarvende" Kameraschwenk lediglich Teil eines Krankheitsbilds ist. Für mich hatte sich in dem Moment, in dem der Film das vereindeutigt, auch die Frage erledigt, ob mir nun lediglich die Hauptfigur, oder doch der ganze Film auf den Geist geht.

Denn da passt tatsächlich kein Blatt Papier dazwischen: Film und Protagonist fallen in eins, im (erst einmal) Guten wie im (zunehmend) schwer Erträglichen. Beide scheinen zunächst von einer gewissen ungerichteten Neugier durchwirkt, wenn sie gemeinsam durch Lissabon streifen. Der Film hat einen guten Blick für die Farben und Stimmungen der Stadt (vor allem in den Nachtszenen: das gelbe Licht, das von Steinfassaden und Kopfsteinpflaster sanft schimmernd reflektiert wird); und der hochgewachsene, blasse Fabian passt erst einmal durchaus zur matten Schönheit Lissabons. Zur portugiesischen Melancholie, die im gelegentlich auf der Tonspur präsenten, aber nie plakativ über die Bilder geklatschten, eher geisterhaft die mediterrane Luft durchwehenden Fado ihren typischen Sound hat. Wenn Melancholie ein Stück Tod ist, das ins Leben hineinragt, dann beschreibt das auch gut Fabians nicht mehr ganz diesseitige Konstitution: Der Tod einer Patientin, die ihn an Doro erinnert, treibt den Arzt erst nach Portugal.


Dort angekommen fällt ihm allerdings doch nichts besseres ein, als seine Ex, die sich von ihm eben wegen seiner Eifersucht getrennt hatte, zu stalken. Und wenn die beiden dann recht schnell wieder zusammenkommen, hat sich seine fixe Idee, dass Doro etwas mit Francisco hat, damit noch lange nicht erledigt. Ganz im Gegenteil: Erst recht registriert er jetzt jede auch noch so kleine Geste körperlicher Zuneigung, erst recht lenkt er jetzt jedes einzelne Gespräch auf Doros Kollegen. Doros stets sofort aggressiv-explosive Reaktion verweist auf jahrelang angestaute Frustration. Für den Film heißt das: Was als offen, die Weltsicht eines traurigen Flaneurs evozierende atmosphärische Studie in Einsamkeit beginnt, verengt sich alsbald auf ein klaustrophobisches Eifersuchtsmelodram. Das als solches nicht schlecht funktioniert, vor allem, weil Rothlaender ein Gespür für Körper hat: In den mit einigem gestalterischen Aufwand erarbeiteten Sexszenen funktioniert das Zusammenspiel der beiden Hauptfiguren besser als in den teils zu sehr auf Informationsökonomie abgestellten Dialogen.

Konsequent ist das alles durchaus. Insbesondere ist auch konsequent, dass der Film, nachdem er dem Sex Szene für Szene die anfangs noch durchscheinende Restintimität ausgetrieben hat, zu schlechter letzt bei einem kalt pornografischen, voyeuristischen Dispositiv landet. Sexuelle Eifersucht gibt keine Ruhe, bis sie das Bild selbst hergestellt hat, das sie die ganze Zeit fürchtet: ein anderer Schwanz im Mund der begehrten Frau. Man kann überhaupt die Rücksichtslosigkeit bewundern, mit der "Fado" sich auf die Irrationalität von Eifersucht einlässt. Auf eine Eifersucht, die alles, was sie sich nicht einverleiben kann, zur Nebensache macht. Weshalb der Film der beruflichen Tätigkeit Doros, und auch dem Sozialarbeiter-Job, den Fabian eher aus einer Laune distanzierter Indifferenz heraus annimmt, jeweils kaum mehr als eine Handvoll Einstellungen widmet. Gerade soviele, dass man das Bemühen erahnen kann, zwischen diesen weit divergierenden Beschäftigungen ein soziales Panorama des Krisen-Portugals aufzuspannen; das gehört zu jenen glücklicherweise eher wenigen Aspekten des Films, in denen die Relevanzzwänge des Förderkinos durchscheinen. Und obwohl das Geschlecht des Protagonisten sicherlich nicht willkürlich gewählt ist, ist "Fado", ebenfalls glücklicherweise, kein Problemfilm über beschädigte Männlichkeit geworden; schon, weil der Ortswechsel von Deutschland nach Portugal die Hauptfiguren weitgehend von sozialem Feedback abschneiden.

"Fado" ist zweifellos ein Film, der weiß, was er will. Ein Film, der außerdem hier und da interessante Widerhaken setzt, zum Beispiel, wenn er Francisco als einen ziemlich unerträglichen Typen mit arrogantem Arschloch-Dauerlächeln entwirft, also als jemand, der einem auch ohne Eifersuchtsexzesse aus guten Gründen unsympathisch sein darf. Ich muss allerdings gestehen, dass ich um die ganzen Beziehungsklebrigkeiten trotzdem gerne einen großen Bogen gemacht härre, dass ich viel lieber gemeinsam mit Fabian in den bleichen Texturen, gedeckten Farben und erotischen Ambivalenzen Lissabons verloren gegangen wäre.

Lukas Foerster

Fado - Deutschland 2015 - Regie: Jonas Rothlaender - Darsteller: Golo Euler, Luise Heyer, Albano Jeronimo, Pirjo Lonka, Duarte Grilo - Laufzeit: 101 Minuten.