Im Kino

Ein durchdenkenswertes Konstrukt

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Michael Kienzl
09.11.2017. Rahul Jains mythisch aufgeladener Dokumentarfilm "Machines" vereinigt Kontemplation und Empörung. In George Clooneys "Suburbicon" wird Rassismus plausibel vom Raum her gedacht, der Grundton bleibt freilich resignativ.
"Sie sind da. Aufstehen!" Die jungen Männer, die eben noch auf einem Berg mit Stoffen herumgelungert sind, springen hoch und schauen verschüchtert zu den Eindringlingen. Es soll nicht so aussehen, als würde hier nicht gearbeitet werden. Wenn Regisseur Rahul Jain und sein Kameramann Rodrigo Trejo Villanueva eine Textilfabrik im westindischen Gujarat besuchen, bleibt ihre Präsenz nicht unbemerkt. Immer wieder blicken die Angestellten kurz in ihre Richtung. Und obwohl den Darstellern des Dokumentarfilms "Machines" bewusst ist, dass sie gefilmt werden, offenbart sich die maximale Menschenfeindlichkeit dieses Orts vor allem dann, wenn sie das für einen Moment vergessen.

Ähnlich wie die aus dem Umfeld des Sensory Ethnography Lab in Harvard entstandenen Produktionen ist "Machines" weniger an einem klassisch dokumentarischen Ansatz interessiert als daran, die Distanz zu seinem Gegenstand aufzuheben. Wie Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor in "Leviathan" oder J.P. Sniadecki in "The Iron Ministry" wirft uns auch Jain unmittelbar in ein mythisch aufgeladenes Szenario. Überfordert von den vielen Sinneseindrücken taumelt die Kamera durch die dunklen Gänge der dreckigen Fabrikhalle. Überall rumpeln die Maschinen, flackern die Neonröhren, türmen sich die Stoffe auf, spannen sich die Muskeln an, fließt der Schweiß.

Auch wenn die schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen, unaufhörlich ratternden Gerätschaften die Kulisse des Films bestimmen, lenken sie den Blick doch immer auf die Leute, die sie bedienen. An diesem trostlosen Ort, an dem die überwiegend aus ärmeren Regionen stammenden Männer mindestens zwölf Stunden am Tag schuften müssen, versucht man Mensch und Maschine in Einklang zu bringen. Obwohl die Fabrik auf sie nicht nur als handelnde, sondern auch als denkende Wesen angewiesen ist, wird ihr Menschsein verleugnet. Dabei ist dieses Unterfangen nicht nur zum Scheitern verurteilt, es betont auch die Differenz zwischen Mensch und Maschine. Auch die Arbeiter wiederholen zwar ihre monotonen Tätigkeiten, geraten dabei aber regelmäßig aus dem Rhythmus. Manchmal fühlt man sich wie in der Dystopie eines Science-Fiction-Films, die uns verdeutlicht, dass es gegen die Natur des Menschen ist, nur funktionieren zu müssen. In einer besonders grausamen Szene droht ein Junge einzuschlafen, während er eine Maschine bedient. Immer wieder sehen wir, wie ihm die Augen zufallen, er ertappt aufschreckt, ängstlich in die Kamera blickt und schließlich seine Arbeit fortsetzt.

"Machines" vereint Kontemplation und Empörung. Er setzt auf ein immersives Verfahren, weiß aber auch um die Gefahren, die in der reinen Beobachtung und Stilisierung des Fabrikalltags liegen. Gerade für ein westliches Publikum, das romantischer auf die morbide Industriekulisse blickt - einfach, weil sie nichts mit ihrem Leben zu tun hat - wirken die Aufnahmen zweifellos spektakulär und faszinierend. Man fühlt sich wie bei einem Abenteuer, als würde man sich durch den Organismus eines gigantischen Ungeheuers bewegen. Und eben weil alles so hypnotisch poltert und atmosphärisch raucht, ist es wichtig, dass Jain die Vieldeutigkeit der Bilder durch das Konkrete der Sprache erdet. Immer wieder kommen in kurzen Interviews Arbeiter zu Wort, die erzählen, wie sie ihren Körper bis zur Erschöpfung verausgaben, sich giftigen Chemikalien aussetzen und getrennt von ihren Familien wohnen - um zumindest am Existenzminimum leben zu können. Doch auch wenn es wie auf einer modernen Sklavenplantage zugeht, streitet ein Gesprächspartner vehement ab, ausgebeutet zu werden. Immerhin werde er ja nicht zur Arbeit gezwungen. Gleich mehrmals gibt es solche Momente, in denen die Männer auf ihrer Würde beharren, obwohl in dieser Umgebung dafür kein Platz zu sein scheint.

Solche Äußerungen platziert der Film kurz und pointiert. Sie ragen nicht wie die Bilder über die aufrüttelnde Haltung hinaus, sondern werden ökonomischer eingesetzt, oft auch argumentativ miteinander verkettet. Wenn etwa ein Arbeiter erzählt, dass er keinen Groll gegen seinen Boss hege, weil er nicht einmal wisse, wie der aussieht, zeigt Jain in der nächsten Szene, wie sich dieser Boss mit schwer zu überbietendem Zynismus darüber beklagt, dass seine Angestellten mittlerweile faul und überbezahlt wären. "Machines" sucht die Schuld jedoch nicht bei Einzelpersonen oder versucht gar, die Globalisierung und den Kapitalismus zu erklären. Einmal tauchen ein paar arabischen Einkäufern auf, ansonsten ist der Film ausschließlich am Mikrokosmos der Fabrik, nicht an irgendwelchen äußeren Einflüssen interessiert. Und so legt er an einem konkreten Beispiel ein ausbeuterisches System offen, das nicht nur eine lange Tradition hat, sondern sich auch darauf verlassen kann, dass sich die Arbeiter schon aus Zeit- und Geldgründen nie gemeinsam auflehnen werden. Jain gelingt es, die Balance zu halten zwischen dem visuellen Reichtum seines experimentellen Ansatzes und der Enthüllungskraft einer Reportage - und ist sich darüber hinaus auch bewusst, dass er vielleicht etwas sichtbar machen, jedoch nichts unmittelbar verändern kann. Eine Arbeitergruppe wirft dem Filmteam am Schluss dementsprechend vor, sie wären auch nicht anders wie die Politiker: "Sie kommen, schwingen Reden und gehen dann wieder".

Michael Kienzl

Machines - Indien 2016 - Regie: Rahul Jahin - 71 Minuten.

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Gardner (Matt Damon) bittet den Versicherungsvertreter Roger (Oscar Isaac), in seinem Haus die Vorhänge geschlossen zu halten. Man kann das als Maßnahme mit zweierlei Intentionen auffassen: Damit niemand hinausschauen muss und damit niemand hineinschauen kann. "Suburbicon" spielt in einer perfekten Vorstadt, in der soziale Kontrolle groß geschrieben wird. Geschlossene Vorhänge sollten da eigentlich Misstrauen wecken.

In schöner Regelmäßigkeit erscheinen Filme, die ihren Schauwert und ihre Botschaft aus dem Kontrast zwischen den perfekten Fassaden der Suburbs und der obligatorischen moralischen Verkommenheit darunter ziehen. Vielleicht kann man "Suburbicon" als die ultimative Version dieser Vision sehen: die Bösartigkeit eines Drehbuchs der Coen-Brüder trifft auf George Clooneys Tendenz, gesellschaftlich und politisch relevante Themen mit einer hollywoodesken Patina zu lasieren. Die Zweiteilung ist dem Film in jeder Hinsicht anzumerken: Clooney wollte ursprünglich gemeinsam mit seinem Schreibpartner Grant Heslov die wahre Geschichte der Familie Myers aus Levittown, Pennsylvania verfilmen, die es 1957 unter Protest wagte, in eine ausschließlich von Weißen bewohnte Gegend zu ziehen. Als die Rosa Parks des Nordens wird Nancy Myers heute bezeichnet. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten bei der Finanzierung ihres Projekts fiel Clooney und Heslov dann ein Script von Joel und Ethan Coen in die Hände, in dem eine weiße Vorzeigefamilie aus der Vorstadt dem Wahnsinn verfällt.

Die Geschichte der schwarzen Familie, hier heißt sie Meyers, wird in "Suburbicon" - und das kann man sicher problematisieren - zur untergeordneten Nebenhandlung. Zum Werkzeug, um mithilfe zahlreicher Parallelmontagen die Spannungsschraube im Haupthandlungsstrang anzuziehen. Bei Familie Lodge - das sind Gardner, seine Frau Rose und ihre Schwester Maggie (Julianne Moore in einer Doppelrolle) sowie der vielleicht zehnjährige Nicky (Noah Jupe) - stehen eines Nachts Einbrecher im Haus. Die Gefahr ahnt man schon voraus, weil im Zimmer des Nachbarsjungen Andy Meyers (Tony Espinosa) ein Krimihörspiel im Radio läuft. Der Raubüberfall endet fatal: Gardners Ersparnisse sind futsch und Nickys Mutter stirbt an einer Überdosis Chloroform. Während sich die Situation zuspitzt, schneidet Clooney (das hat fast den Anschein einer Nachrichtensendung, man könnte also auch sagen: er schaltet) regelmäßig zum Haus der Meyers. Dort sammeln sich weiße Beobachter erst zur stummen Mahnwache, dann singen sie, später schlagen sie Lärm auf Töpfen und Pfannen und schließlich bedrohen aufgeschaukelte Wut und Handgreiflichkeiten Leib und Leben der Meyers. Abgesehen von den zaghaft sich knüpfenden Freundschaftsbanden zwischen Andy und Nicky ist das einzige Zusammentreffen beider Familien ein Vorfall im Supermarkt, in dem Maggie als Kassiererin arbeitet. Als Mrs. Meyers (Karimah Westbrook) an der Reihe ist, erhöht der Filialleiter spontan die Preise, Maggie bekommt das mit, bleibt aber tatenlos. In ihrem Gesicht spiegeln sich ein schlechtes Gewissen und gleichzeitig der Hauch eines wortlosen Entschuldigungsversuchs. Vor allem aber Selbstmitleid: dafür, in diese unangenehme Situation geraten zu sein.

Die Lodges gehören weder zum wütenden Mob vor dem Haus der Meyers gehören, noch zu den Leuten, die am Rande der Handlung in Fernsehinterviews den Niedergang der einstmals so sicheren Wohngegend bedauern, ausgelöst in ihren Augen natürlich durch den Zuzug der Schwarzen. Die Lodges sind unauffällig, selbstbezogen. Ihr Haus ist vollgestopft mit typisch überladenem Fünfziger-Jahre-Dekor inklusive Tiki-Masken, Kubismus an den Wänden und einem Aquarium voller exotischer Fische, im Radio oder Fernsehen laufen andauernd Reportagen über den beginnenden Widerstand schwarzer Bürgerrechtler. Die solle man ja nicht unbedingt unterdrücken, lautet der mediale Tenor, aber sie müssten sich eben anstrengen. Der Weg zu Gleichberechtigung führe über Bildung und Fleiß, nicht darüber, sich einfach breit zu machen. Ab und an fällt das N-Wort.

Der erste Empörungsreflex möchte sich gegen den wütenden Mob vor dem Haus der Meyers richten, oder gegen den offenen, vom System geschürten Rassismus. Nur hält dieser Ärger nicht lange vor. Sogleich gleitet das Interesse wieder herüber zu den Verbrechen und Intrigen, die sich hinter den geschlossenen Vorhängen der Lodges abspielen. Und, in scheinbar beiläufigen Totalen, zur Anordnung der Straßen und Gebäude von Suburbicon. Die Meyers und die Lodges sind direkte Nachbarn, allerdings berühren sich nur die Rückseiten ihrer Grundstücke, die Hinterausgänge liegen einander gegenüber. Diskreter Kontakt zwischen den Familien ist zwar möglich, die Lodges müssen sich allerdings nicht direkt zum Mob verhalten, der sammelt sich schließlich auf der anderen Seite, in der Parallelstraße. "Suburbicon" denkt den Rassismus, der sich im offenen Angriff sowohl als auch in der schweigsamen Masse manifestiert, plausibel vom Raum her, in dem er entsteht, der ihn begünstigt und überträgt. Das macht den Film zu einem durchdenkenswerten Konstrukt. Nur tragen kann es ihn nicht. Die Handlung wirkt zu verhackstückt, der Look wenig originell. Selbst die Verständigung am Ende hinterlässt eher einen resignativen Eindruck: Nicky und Andy spielen Baseball über den Zaun zwischen ihren Häusern hinweg - die nächste Generation wird's schon richten.

Katrin Doerksen


Suburbicon - USA 2017 - Regie: George Clooney - Darsteller: Matt Damon, Julianne Moore, Karimah Westbrook, Leith M. Brke, Noah Jupe, Tony Espinosa, Oscar Isaac - Laufzeit: 105 Minuten.