Im Kino

Cannes, ein Missverständnis

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
26.05.2015. Viele mittelmäßige Filme und mit Jacques Audiards "Dheepan" ein Sozialdrama als einigermaßen verdienter Sieger: Die Verantwortlichen für das wichtigste Filmfest der Welt bringen ihre Veranstaltung mit Anstand zu Ende. Aber dem Festival würde es guttun, wenn sie das nächste Mal eine neue Richtung einschlagen.
Am Ende sind sie noch völlig übergeschnappt in Cannes. Der Bürgermeister der französischen Mittelmeergemeinde wendet sich an die zum Filmfestival versammelte Weltpresse und appelliert an die Journalisten, sie sollten den Vorstoß der Stadt unterstützen, diese zum Weltkulturerbe zu erklären. Ist das jetzt Ernst, oder eine besonders gut erdachte Satire, etwa um die Coen-Brüder zu amüsieren, die als Jurypräsidenten des Festivals in der Stadt sind und bekanntlich einen feinen Sinn fürs Absurde haben? Die 60er-Jahre Klötze mit ihren vergilbten orangegrünen Markisen, der Betonbunker, der das Festival behaust, die Silikonbusen und Botox-Lippen an der Croisette, die tiefergelegten schwarzen Mercedes-AMG-Geschosse und die mediokren Hotels mit ihren grotesken Preisen, das Stadtmobiliar, das aussieht, wie unter Kokaineinfluss entworfen - ist all das "ein Meisterwerk der menschlichen Schöpfungskraft?", wie es in den Statuten der Unesco heißt? Bilden sie "einen Schnittpunkt menschlicher Werte"?

Die merkwürdige Initiative sagt einiges über die Missverständnisse von Cannes und das wichtigste Filmfestival der Welt, für das der Name des vollgebauten Nestes an der Côte d"Azur steht: dass sie hier so peinlich auf ihre Größe und ihren vermeintlichen Glanz blicken, der von früher rührt und ihnen darüber die Gegenwart fremd geworden ist. Dass sie hier Etikette wichtiger nehmen als Interesse - die Posse um die Kleidervorschriften von Cannes und die Besucherinnen, denen man in flachen Schuhen den Zugang zum Kino verwehrt hat, dominierte ja zeitweise die Berichterstattung. Dass die Erwartung auch mit solchen Sperenzchen immer größer gemacht wird, als sie sein kann, und die Möglichkeit zur Überraschung dadurch immer kleiner wird. Cannes trägt - nicht nur bei den Kleidervorschriften - immer noch viel von einem vormodernen Zeremoniell in sich, hat aber den Anspruch, zumindest in der Filmkunst der Gegenwart den Takt vorzugeben.

Die Zumutungen von Cannes - seien es die architektonischen, die modischen, die preislichen - sind dabei egal, so lange die Filme gut sind. Auch dieses Jahr gab es zweifellos gute Filme, aber eben auch viele durchschnittliche. Paradox: Die Zahl der Filme, die auf der Welt produziert werden, explodiert, weil die digitale Technik den Zugang zum Filmemachen vereinfacht hat und die weltweite digitale Vernetzung von Youtube, filmaufnahmefähigen Smartphones und den verstreuten Communities bis in die letzte Ecke der Welt das audiovisuelle Erzählen zur dominanten Kunstform gemacht haben. Gleichzeitig ist es offenbar immer schwieriger für Festivalverantwortliche, aus all dem, was produziert wird, jedes Jahr etwa zwanzig Filme auszuwählen, die neu, überraschend, bemerkenswert oder bewegend sind. Das Problem kann man auf vielen Festivals besichtigen, auch auf der Berlinale. Doch die Reaktion der Verantwortlichen in Cannes auf das Dilemma ist, eher weniger als mehr zu wagen, wenn es schwierig wird. Fünf von 19 Filmen im offiziellen Programm allein aus Frankreich, das sieht sehr danach aus, als greife man in der Krise zum Naheliegenden, als in der Ferne und an den Rändern zu suchen. Zumal der Großteil der französischen Beiträge nicht überzeugen konnte.


Claudine Vinasithamby, Jesuthasan Antonythasan in "Dheepan" von Jacques Audiard

Der beste von ihnen hat dann aber immerhin - einigermaßen verdient - am Sonntagabend die Goldene Palme bekommen. Die Auszeichnung von "Dheepan", dem Flüchtlingsdrama von Jacques Audiard, ist ein Plädoyer für den politischen Film, für den Blick in die Gegenwart, für die Kunst individuelle menschliche Schicksale und die politische Misere in Beziehung zu setzen und für ein Kino, dass sich trotz allem Gegenwartsbezug noch einen kleinen Hang ins Märchenhafte und Uneigentliche gestattet.

Vielleicht ist es ja diese Szene, die die für ihr so poetisches wie ironisches Kino bekannten Coen-Brüder als Jurypräsidenten überzeugt hat: Die Hauptfigur des Films, Dheepan, ist ein tamilischer Flüchtling aus Sri Lanka, der versucht, sich in einer heruntergekommenen Pariser Vorstadtsiedlung als Hausmeister zu behaupten. Doch die Wohnblöcke sind in der Hand von Drogenbanden, die ihre Stellungskriege auch mit roher Gewalt ausfechten und die Versuche des Flüchtlings, hier Ordnung zu finden und zu halten, unmöglich machen. Dheepan, der aus dem brutalen Bürgerkrieg seiner Heimat geflüchtet ist, weiß sich nicht anders zu helfen, als die Methoden der ausländischen Peacekeeper zu imitieren. Er nimmt also eine Schubkarre, macht ein Loch unten hinein, füllt sie mit gemahlener Kreide und beginnt, zwischen den beiden Wohnblöcken eine Linie zu ziehen. Ist er jetzt völlig verrückt geworden?, fragen die Anwohner. Will er ein Fußballfeld schaffen? Nein, Dheepan stellt sich an die neugezogene Linie und verkündet: "Here. No Fire Zone". Am Ende scheitert der rührende Versuch an der puren Gewalt, aber auch das ist eine Lehre.

So nachvollziehbar der Hauptpreis für "Dheepan" ist, so beliebig scheint die Vergabe bei einigen der restlichen Auszeichnungen: Den Preis für das beste Drehbuch erhielt etwa Michel Franco für den US-Film "Chronic". Das ist eine sensible Studie über Pflege, Krankheit und Sterbehilfe, in der Tim Roth einen Pfleger von Todkranken spielt, der am Leben seiner Patienten etwas zu viel Interesse zeigt. Die Geschichte schafft ergreifende Momente und überraschende Einsichten und wagt es, sich quer zu allen moralischen Prädispositionen zu stellen. Gleichzeitig ist sie aber ein wenig zu langsam und undramatisch inszeniert, als dass der Preis zwingend wäre.


Rooney Mara und Cate Blanchett in "Carol" von Todd Haynes

Der Preis für Rooney Mara als beste Hauptdarstellerin in der Patricia-Highsmith-Verfilmung "Carol" zeichnet einen Film aus, der in Cannes zu den am heftigsten bejubelten zählte, der mit viel Liebe zum Detail inszeniert, ausgestattet und gespielt wird - aber wenig Neues zu sagen hat. Der einzige Film der das hatte - wenn wir uns auf das Urteil derjenigen verlassen, die ihn in Cannes gesehen haben - war "Lobster", der Film des noch recht unbekannten Griechen Yorgos Lanthimos: Der mit Rachel Weisz, Colin Farell und Léa Seydoux prominent besetzte Film ist eine Dystopie und gleichzeitig eine Satire auf Liebe und Beziehungen im 21. Jahrhundert: Er spielt in einer Zeit, in der Singles nicht zugelassen sind und verpflichtet werden, sich innerhalb von 45 Tagen zu verlieben oder sich in Tiere zu verwandeln. Dafür gab es immerhin den Preis der Jury. Den "zweiten Preis" von Cannes, den Grand Prix vergab die Jury an das ungarische Auschwitz-Drama "Son of Saul", das ebenfalls viel Lob erhalten hatte.


Isabelle Huppert und Gerard Depardieu in "Valley of Love" von Guillaume Nicloux

Trotz der Qualitäten, auch vieler ausgezeichneter Filme: Es war eine mittelmäßige Auswahl, in der viele Filme um den Blick zurück kreisten, um die Frage, ob die Vergangenheit uns dabei helfen kann, mit der Gegenwart umzugehen und ob es immer die beste Kunst ist, Antworten zu geben. Wie passend war da einer der letzten Filme des Festivals, der zwar keine Aussicht auf Preise hatte, aber eine wunderbar melancholische Reflexion über das Thema Vergangenheit: Gérard Dépardieu und Isabelle Huppert dabei zuzusehen wie sie schwitzend, keuchend und hyperventilierend in der Hitze des Death Valley mit den Leerstellen ihrer Leben und dem Freitod ihres gemeinsamen Sohns umzugehen versuchen, wirft einen traurigen Blick auf zwei sehr abgelenkte Menschen und zeugt von den großartigen Schauspielfähigkeiten zweier Altstars. Insbesondere bei Gérard Dépardieu vergisst man über seinen sonstigen Kapriolen ja bisweilen, was für ein tief blickender, sich selbst nicht schonender und sensibler Schauspieler er ist. Wenn man das fast am Schluss des Filmfests sieht, kann man etwas feststellen, was auch für Cannes gilt: Niemand kann auf Dauer Star sein, nur aufgrund von Leistungen in der Vergangenheit. Und so fett und hässlich und steuervermeidend man geworden sein mag, es kann sich immer noch große Kunst dahinter verbergen. Cannes braucht nämlich gar kein Weltkulturerbe-Label. Vielleicht sollte man aber die Verantwortlichen mal für ein paar Tage in die Wüste schicken, bildlich gesprochen.