Im Kino

Am Ende der Träume

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
21.05.2014. Das Filmfest in Cannes startet mit furiosen Desillusionisten. Für Entdecker im Kino aber, für neue große Illusionen sind erst einmal schlechte Zeiten angebrochen.
Mit so viel Schmackes haben wir Hollywood auch noch nicht untergehen sehen. Da haut Mia Wasikowska immer und immer wieder die Preisstatuette auf den Kopf von Julianne Moore, bis die 12.000-Dollar-Couchgarnitur ihrer Hollywood-Hills-Villa auch wirklich gänzlich mit Blut ruiniert ist. Julianne Moore ist in dem Film der leicht abgetakelte Star Havana Segrand, und die junge Agatha, die von Wasikowska verkörpert wird, ist ein junges Mädchen mit einem dunklen Geheimnis, das von Florida nach L.A. gekommen ist, um aufzuräumen mit den noch dunkleren Geheimnissen und Lügen nicht nur der Filmindustrie, sondern der ganzen Psycho-Shopping-Familienidylle-am-Pool-Blase, welche jene erst möglich gemacht hat.





Das alles ist der neue Film von Altmeister David Cronenberg, er heißt "Maps to the Stars" und hatte in Cannes Premiere (bevor er im September in Deutschland startet). Mit seiner ganzen lustvollen Aufräumerei setzte Cronenberg den Ton für ein Festival, das - zumindest in seinen ersten Tagen - von routinierten Angriffen auf all jene Lügen und Fassaden geprägt war, von denen das Kino ebenso lebt, wie von ihrer Zerstörung. Auch dieses Festival dokumentiert damit, dass die große Sinnkrise des (westlichen) Weltkinos nicht nur nicht vorbei ist, sondern vielleicht gerade erst begonnen hat. Die Finanzkrise und ihre Folgen haben gerade solchen Produzenten den Boden entzogen, wie sie Cronenberg in seinem Film karikiert, und damit das Erlösmodell hinter jener absurd-dekadenten Welt angegriffen, welche der Regisseur uns zeigt.



Und nach dem (vorgeblichen) Ende der Krise kam das Geld nicht zurück. Im Gegenteil: Umso heftiger spüren gerade die Kunstkino-Macher nun, wie sich die Sehnsüchte und das Konsumverhaltens eines Publikums verschoben haben, für das alle Filme praktisch immer verfügbar sind - darunter eben auch die Besten. Daher muss das Publikum heute von einem neuen Film erwarten, dass er dem Vorhandenen etwas Ungesehenes hinzufügt. Das Neue steht im permanenten Wettbewerb mit dem gesammelten globalen Filmschatz. Aus Sicht des Zuschauers stellt sich praktisch jeden Abend die Frage: Soll ich ins Kino gehen? Oder bekomme ich Besseres auf Netflix (in Deutschland Watchever, Maxdome, ganz zu schweigen von mehr oder weniger illegalen Streaming-Anbietern)?

Paradoxerweise hat sich die Festivalleitung in Cannes schon vor Jahren für eine Antwort auf diese Frage entschieden, die lautet: Die Beschwörung der alten Welt, wie sie vor den Krisen war. Der Zauber und die Illusionen, die das prestigiöseste Filmfest an der Côte d'Azur produziert, mögen noch genug Kraft haben, um das hierhin zu locken, was von der alten Welt noch übrig ist: Die Altmeister, die Stars und die Hoffnung, dass der ganze Glanz nicht von der Qualität der Filme abhängt, sondern immer schon und für immer da ist.

Was die Transformation Hollywoods hauptsächlich übrig ließ, monströse Filme, die wie Konzerne funktionieren und nicht mehr wie Kunstwerke, die hunderte Millionen kosten und auch nach einem Dutzend Folgen nicht sterben dürfen - dieses Hollywood kommt nicht mehr nach Cannes, hat das nicht mehr nötig. Aber auf der anderen Seite gibt es jene ehrgeizigen Vertreter des alten Systems, die davon profitieren, dass die digitale Technik auch das Produzieren verändert hat: Dass man kein großes Studio, keinen Apparat mehr braucht, um eine gute Geschichte auf den Leinwand (oder den Bildschirm des Netflix-Kunden) zu bringen.

So präsentieren etwa die Schauspieler Ryan Gosling und Tommy Lee Jones in Cannes ihre Regiearbeiten. Jones' Film hat ähnlich wenig gekostet wie der von Cronenberg, rund 15 Millionen Dollar, was nach Hollywood-Standards eine Low-Budget-Produktion ist und ein gewinnträchtiges Unternehmen sein kann, wenn's die Zuschauer mögen. Auch Jones' Film ist eine lustvolle, witzige Abrechnung mit Amerikas Mythen. Während Cronenbergs Arbeit immer ein Stück weit über der Realität schwebt, fängt Jones gleich beim Mythos an: Er lässt den Western rückwärts laufen, eine Geschichte beginnt unter Siedlern in Nebraska und erhält alle Elemente eines guten Western. Aber es geht zurück nach Osten. Das vordringende Amerika hat Verrückte produziert - drei in Psychosen gefangene Frauen sollen zurück nach Iowa geschafft werden. Die Mission dauert Wochen und ist eine Abfolge von Gefahren, Tod und den Enttäuschungen einer Zivilisation, deren Werte nur Behauptungen sind, es sei denn, man setzt sie selber fest.



Diese Aufgabe und die Führung der Mission übernimmt die alleinstehende Siedlerin Mary Bee Cuddy. Hillary Swank spielt in dieser Rolle selbst ihren unterwegs aufgegabelten Begleiter Briggs und damit den Regisseur-Darsteller Tommy Lee Jones an die Wand, vielleicht deswegen muss sie im Verlauf der Reise auf recht überraschende Weise aus dem Drehbuch verschwinden, damit Jones auch noch ein paar Glanzpunkte setzen darf. Denn danach geht der Film heiter weiter und lässt vom Selbstbewusstsein Amerikas wenig übrig: Bankenpleiten, ungedeckte Dollars und Luftschlösser für Investoren - das ganze Übel beginnt, wenn man dem Film glaubt, schon ganz am Anfang, mit der Besiedlung Amerikas.

Zwei weitere Altmeister, auf die man in Cannes (zu Recht) vertraut, sind die belgischen Dardenne-Brüder, die hier schon zwei Mal gewonnen haben (1999 mit "Rosetta" und 2005 mit "Das Kind"). Auch ihr neuer Film "Deux Jours, une Nuit" führt direkt in die Realität, ein Sozialdrama der ganz klassischen Art, wie es sonst nur der Brite Ken Loach liefert, der in diesem Jahr auch wieder einen Film in Cannes zeigen darf. "Deux Jours, une Nuit" ist die Geschichte von Sandra (Marion Cotillard), die eine schwere Depression kaum überstanden hat und der ein Wochenende bleibt, um ihren Job zu retten - indem sie die Kollegen überzeugt, auf ihren Bonus zu verzichten und damit die drohende Kündigung abzuwenden. Die Dardennes liefern weder ästhetisch noch dramaturgisch Neues, aber dennoch muss man sich nicht die Frage stellen, ob dieser Film mit dem Kinoschatz der Welt mithalten kann, ihm etwas hinzufügt. Denn er geht mitten hinein in die rohe Wirklichkeit, setzt dabei aber seine erzählerischen Mittel so zurückhaltend ein, dass er weder das Soziale noch das Drama auf die Spitze treibt und auch - anders als manchmal Loachs Filme - an keiner Stelle zum dumpfen antikapitalistischen Pamphlet gerät.



In dieser Zurückhaltung ist der Film Dardennes ein Lebenszeichen der besten Werte des europäischen Kinos - und in dieser Hinsicht ein schönes Gegenmodell zu den Illusionen Amerikas.