Im Kino

Nur der Mensch bleibt Mensch

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Fabian Tietke
12.05.2022. Ulrike Franke und Michael Loeken dokumentieren in "We are all Detroit" den Niedergang des Industriezeitalters am Beispiel von Bochum und Detroit. Aber sie erkunden auch Ansätze zu einem möglichen Fortleben an diesen Orten. Peeter Rabane erzählt in "Firebird" basierend auf den Erinnerungen des Schauspielers Sergei Fetisow von einer unmöglichen schwulen Liebe in der Sowjetunion der siebziger Jahre.


Eminem und Herbert Grönemeyer sind zwei Musiker, die auf den ersten Blick und vor allem aufs erste Hören nicht allzu viel gemeinsam haben. Allerdings sind beide stark mit ihren Heimatorten verbunden, Detroit und Bochum. Als beide Anfang des Jahrtausends ihre größten Erfolge feierten, waren diese Städte noch andere Städte. Als Eminem 2011 in der Chrysler-Werbung "Born of Fire" auftrat - die Werbung gilt bei Experten und solchen, die sich nach einigen Staffeln der Serie "Mad Men" als solche empfinden, bis heute als eine der besten aller Zeiten - löste das eine Euphorie in der, auch in der Werbung so genannten Motor City aus. Ein Aufbruch, ein Wiederbeginn, eine Rettung. Wie haltlos diese kurzzeitige Hoffnung war, zeigen die Bilder Detroits, die Ulrike Franke und Michael Loeken gleich in den ersten Minuten ihres "We are all Detroit" stellen. Keine Motor City mehr, nur der Mensch bleibt Mensch und was soll er damit tun?

Als Chronisten des Strukturwandels im Ruhrgebiet haben Franke und Loeken in den vergangenen Jahren eine filmisch konventionelle, aber inhaltlich tiefgehende Reihe von Filmen vorgelegt, die sie nun mit einem Sprung über den großen Teich, wie man einst sagte, erweitern. Das stimmt so allerdings nicht ganz, denn die Filmemacher waren stets von den globalen Abwärtsspiralen des Industriezeitalters fasziniert. Die Schließung der Opel-Werke in Bochum 2014 kann folglich und bekanntermaßen nicht ohne den Konkurs von General Motors gedacht werden. Als reines Oszillieren zwischen Ursache und Wirkung darf man das Zusammenspiel von Detroit und Bochum in "We are all Detroit" aber nicht verstehen. Stattdessen legen die Filmemacher Parallelität und Differenzen zweier Städte offen, die vom Weggang der Autoindustrie hart getroffen wurden.

Manchmal führt der Film (beim Titel angefangen) sein Konzept zu deutlich vor, aber die Gegenüberstellung beider Städte bietet einen Mehrgewinn, was das Verständnis globalwirtschaftlicher Abläufe, aber vor allem die Rolle, die Menschen in diesen spielen, betrifft. In meist klassisch gefilmten, aber angenehm (weil spontan) direkten Gesprächen werden die geschichtlichen Zusammenhänge des jeweiligen Niedergangs der Industrien offengelegt und Ansätze zu einem möglichen Fortleben an diesen Orten erkundet. Man merkt dem Film an, dass das Interesse an Detroit größer, die Vertrautheit mit Bochum aber gewinnbringender ist. So bekommt man bei manchen Szenen in den USA das Gefühl, dass sie stark von den Figuren gelenkt werden, etwa einem ehemaligen Auto-Ingenieur oder einem auf die Produktion von Jeans umgeschulten Mann, während die Bilder von Bochum einen Reflektionsraum zulassen, der aus den gewählten Einstellungen und Bildern selbst stammt. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass Detroit im Film als ein abschreckendes Beispiel für das Ruhrgebiet gezeigt wird.



Die Website des O-Werk Campus Bochum mit ihren virtuell begehbaren Landschaften und diesem für das progressive Erscheinungsbild unserer Zeit so charakteristischen, von einer unerträglichen Glätte und Sauberkeit gekennzeichneten ästhetischen Grauen dürfte manch Internetverbindung in diesem Land in die Knie zwingen. Man versteht durchaus die hier und da in die Bilder schwappende Nostalgie für die alten Stahlbauten, den Mief der BRD, der wenigstens nach irgendwas roch. Als Vorzeigeprojekt, mit allem, was dieses Wort beinhaltet (man glaubt manchmal, dass mehr vorgezeigt als geschaffen wird), steht "O-Werk" im konstruktiven Gegensatz zu den verwahrlosten Ruinen und Brachen in Detroit. Die Deutschen, so scheint es, klammern sich an eine Mischung aus sogenannten innovativen Ideen und halbgaren Rettungsversuchen von Wirtschaftsstandorten (die DHL-Halle nimmt das traurig identitätsstiftende Bild zeitgenössischer deutscher Kultur ein), während die USA sich durch die völlige Abwesenheit staatlicher Projekte (und der damit einhergehenden Verlorenheit der Bürger) und individueller Initiativen erzählt.

Bilder von Konzepten, in die Menschen passen sollen, haben es Franke und Loeken angetan. Vor allem Szenen, in denen Politiker in Handmikrofone reden, lassen den ganzen sprachlichen, aber letztlich auch existenziellen Schwachsinn einer wirtschaftlich-kurzfristig denkenden Politik sichtbar werden. In diesen Bildern versteckt sich eine Tragik der formellen Bekundungen von Entscheidungsträgern, die sich selbst in ein Hamsterrad begeben haben, aus dem sie nur rauskommen könnten, wenn sie anderen Werten folgend operieren würden (ein etwas eitler, aber mitreißender Architekt berichtet im Film von der geradezu fantastisch anmutenden Möglichkeit, Gebäude so zu bauen, dass Menschen sich in ihnen wohlfühlen). Aber selbst dann wären nicht alle Probleme gelöst, so ehrlich muss man sein in dieser Ausweglosigkeit, die sich davon nährt, dass sich das Rad zu schnell dreht, um es unfallfrei zu stoppen. Man versteht schon, dass es schwierig ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen in diesen Städten. Aber man versteht auch, dass meist die falschen Entscheidungen getroffen werden.

"Bochum muss doch auch existieren", sagt eine Frau und man weiß zugleich ganz genau und nicht genau, was sie damit meint. Wann existiert ein Ort? Nur, wenn es dort Arbeit gibt? Es gibt ein Bild, das der Film dem wirtschaftlich motivierten Denken entgegenstellt. Es zeigt eine schwarze Frau in Detroit, die gemeinsam mit ihrem Nachbarn und einer kleinen Community begonnen hat, ihr eigenes Gemüse vor dem Haus zu pflanzen. Sie lauscht den Bienen und den Vögeln und ist glücklich. Später verkauft sie ihr Gemüse am Markt. Ein utopischer Lichtblick in einer dystopischen Wirklichkeit?



Identität wird vom Film als das Verhältnis zu den Orten, die wir beleben, aufgefasst. Es darf gefragt werden, ob dieses "Beleben" immer nur die vom Staat oder von Firmen ermöglichte Arbeit betreffen muss. Franke und Loeken arbeiten mit spannenden Gegensätzen. Auf der einen Seite ehemalige Arbeiter, die fassungslos vor leergeräumten Hallen stehen, die als Zaungäste auf Baustellen starren, machtlos von der sich verändernden Zeit mitgerissen werden und auf der anderen Seite jene, die sich die Erde zurückholen, sie selbst bewirtschaften, Landwirtschaft betreiben und über eine neue Verteilung von Recht und Arbeit philosophieren.

Etwas seltsam mutet an, dass die Filmemacher, obwohl ihr Film von Heimatbezug und Lebensbedingungen handelt, in Bochum keine migrantischen Arbeiter oder Ex-Arbeiter zu Wort kommen lassen. Es ist nicht so, dass sie das in ihren vorherigen Filmen nicht gemacht hätten, weshalb man die fehlende Sensibilität für dieses Thema, das ja kein Thema ist, sondern eine Wirklichkeit, wohl am ehesten mit einem breiteren Fokus erklären kann. Obwohl der Film gespickt ist mit Menschen, geht es Franke und Loeken mehr um Strukturen. Aber selbst da klingeln die Alarmglocken, wenn in den amerikanischen Bildern von rassistischen Spannungen (das ist nicht die Wortwahl des Tour Guides in den Ruinen Detroits, aber es ist das, was er meint) die Rede ist und in Bochum einige Ruhrpottler nostalgisch vom schönen Zusammenleben in den Kneipen zwischen den Kulturen berichten.

Die von den Arbeitern erträumte und von den Machthabern in Rhetorik stillgestellte Zukunft in den Filmen Frankes und Loekens verwandelt sich, wenn man sie Jahre später wiedersieht. Verwandeln ist eigentlich ein Euphemismus, sie lösen sich eher auf und ein seltsames Gefühl fährt einem in den Magen, wenn man an einen Zwischenschnitt aus "Arbeit Heimat Opel" denkt, in dem hinter einem Feld das Opel-Werk am Horizont zu erblicken ist, während in "We are all Detroit" nur noch der jede Sekunde zum Abriss bereite Überrest einer ehemaligen Arbeitsstätte, einst Identität und Lebensgrundlage, erkennbar ist. "He better go capture this moment and hope it don't pass him", gilt hier nicht nur für Eminem, sondern auch für Franke und Loeken, die mit "We are all Detroit" einen weiteren wichtigen Baustein in ihre Chronologie einer zerfallenden Welt fügen.

Patrick Holzapfel

We are all Detroit - Vom Bleiben und Verschwinden - Deutschland 2021 - Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken - Laufzeit: 119 Minuten.

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Estland 1977, Sergei ist in den letzten Wochen seines Wehrdienstes auf einer Luftwaffenbasis der sowjetischen Armee. Abends entflieht er dem tristen Kasernenalltag mit Wolodja, einem Freund und Luisa, die auf der Basis als Sekretärin des Kommandanten arbeitet. Der Kampfpilot Roman wird auf die Basis verlegt, um die Einheit zu verstärken. Sergei wird Roman als Fahrer zugeteilt. Er ist von Anfang an fasziniert von dem ungewöhnlich charmanten Offizier. Sergei und Roman teilen die Leidenschaft für das Fotografieren und Entwickeln von Fotos.

Doch zunächst ist es Luisa, die eine Affäre mit dem Piloten beginnt. Nachdem Sergei Roman erzählt, dass er noch nie in einem Ballett war, nutzt der die nächste Fahrt ins regionale Hauptquartier, um Sergei in die Generalprobe einer Aufführung von Strawinskys "Feuervogel" mitzunehmen. Die beiden verlieben sich.

Basierend auf den Erinnerungen des Schauspielers Sergei Fetisow erzählt der estnische Regisseur Peeter Rabane in "Firebird" die Geschichte der Liebe der beiden Männer. Roman ermutigt Sergei, sich nach dem Wehrdienst in Moskau auf der Schauspielschule zu bewerben, anstatt zu seiner Mutter zurück aufs Dorf zu gehen. Die wenigen verbleibenden Tage werden für Sergei zur Zeit seines Lebens. Doch die Liebe der beiden lässt sich immer schlechter verbergen und Homosexualität ist in der spießigen Welt der sowjetischen 1970er Jahre und auch in der Armee verboten. Ein Vorgesetzter beginnt, Reporte an den KGB über die beiden zu schreiben. Roman entscheidet sich gegen Sergei und für das Fliegen. Später heiratet er Luisa und die beiden haben einen Sohn.



"Firebird" ist Peeter Rabanes Spielfilmdebüt nach einer Vielzahl von Musikvideos und dem knapp einstündigen Dokumentarfilm "Tashi Delek!" über einen jungen Mann in Tibet. Das Drehbuch schrieb er zusammen mit seinem Protagonisten Tom Prior auf der Basis einiger Begegnungen mit Fetisov. Herausgekommen ist ein über weite Strecken extrem konventioneller Film, von der Farbgestaltung, die wie jeder mittelmäßige Historienfilm einen Hang zum Sepia hat, bis zur szenischen Gestaltung. Vor allem die Szenen an der Moskauer Schauspielschule sind von einer Klischeehaftigkeit, die erfahrenere Regisseure zumindest entschärft hätten, zum Beispiel durch Straffung. Andererseits sind trotz Rabanes begrenzter Mittel als Regisseur vor allem die Szenen auf der Luftwaffenbasis und der beginnenden Liebe sehr gelungen. Der Film kontrastiert eindrücklich den Trott und die Schikanen in der Kaserne mit den kurzen Momente der Freiheit, in denen Sergey aus der Kaserne ausbricht.

Ein chronologischer Fehler führt zu einer der schönsten Szenen im zweiten Teil des Films. Luisa besucht Sergei an der Schauspielschule, um ihm zu eröffnen, dass sie Roman heiraten wird. Die beiden treffen sich im Foyer der Schauspielschule, in dem eine Gruppe Studierender eine Choreografie zu "Kamtschatka" der sowjetischen New-Wave-Band Kino probt. "Oh, this is a strange place, Kamchatka/ Oh, this is a strange word, Kamchatka/ I found ore here, I found love here/ I try to forget, I forget again." Der Text, in dem Sänger Victor Tsoi Mitte der 1980er Jahre, also eine halbe Dekade nach der Handlung des Films, die sinnentleerte Arbeit als Heizer verarbeitet, lässt sich als nachträglicher Kommentar zu Sergeis widerwilligem Leben in der Kaserne lesen. In der Szene blitzt für einen kurzen Moment Rebanes Können in der Kombination von Musik und Bildern auf, eine Fähigkeit, der der Film zu selten Raum gibt.

Was den Film rettet, ist die Geschichte der unmöglichen Liebe. Das Schauspiel hilft durch Solidität bei dieser Rettung. Tom Prior spielt Sergei hübsch zerzaust und mit großem Drama. Oleg Zagorodnii findet für Roman zwar selten über Oberflächen hinaus, diese sind aber glänzend genug, um als Spiegel für Priors Sergei zu funktionieren. Diana Pozharskaya macht aus der undankbaren Rollen der Luisa als drittes Rad am Wagen das beste. Unter den Nebenrollen fällt vor allem Ester Kuntu als Sergeis Schauspielkommilitonin Mascha positiv auf. Die Besetzung von Sergeis Schauspielprofessor mit dem sowjetisch-russische Filmkritiker Sergei Lawrentiew ist eine schöne Verneigung.

Rabanes Regiedebüt ist kein großer Wurf, aber trotz Schwächen ein ergreifendes Drama. Es gewinnt dadurch, dass der Film osteuropäische Schauspieler_innen aus Estland, der Ukraine und Russland in einer Weise zusammenbringt, die der komplexen Geschichte des Lebens in der Sowjetunion gerecht wird. Wie fragil solche Konstellationen notwendigerweise sind, wird deutlich, wenn man sich Oleg Zagorodniis Berichte aus Kiew aus der Zeit nach dem russischen Überfall ansieht.

Fabian Tietke

Firebird - Estland, Großbritannien 2021 - Regie: Peeter Rabane - Darsteller: Tom Prior, Oleg Zagorodnii, Diana Pozharskaya, Jake Henderson, Margus Prangel, Ester Kuntu, Sergei Lavrentiev - Laufzeit: 107 Minuten.