Im Kino

Schöne junge Brüste in Schwarzweiß

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
06.04.2022. Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht" erzählt  von einer Drei-, dann Vierecksgeschichte und schwelgt in den schönen jungen Körpern seiner Darsteller: Ein Generationenporträt wird daraus leider nicht. In Matt Bissonnettes "Death of a Ladies' Man" setzen ein Tumor und ein paar Leonard-Cohen-Songs das Resthirn eines alternden Englischprofessors in Schwingung. 


"Les Olympiades" ist der Name einer Hochhaussiedlung im 13. Pariser Arrondissement, dessen brutalistische, vielstöckige Bauten aufgrund ihrer Hügellage noch ein Stück höher in den Pariser Himmel hineinragen und die von fernab sichtbare Zeugnisse einer modernistischen Wohnutopie sind. In den 1960er Jahren im Geiste Le Corbusiers errichtet, verkörperten sie einmal alles, was sich die Gesellschaft des mittleren 20. Jahrhunderts von der Zukunft des urbanen Lebens versprach: Das Bauen in die Höhe sollte auf Bodenniveau Raum schaffen sowie für großzügigen, lichtdurchfluteten Wohnraum sorgen - auch wenn der ursprüngliche Plan, weitläufige öffentliche Parkanlagen rings um die turmhohen Wohnanlagen anzulegen, einmal mehr eingespart wurde. Um die Häuser herum sollten, von den großen Verkehrsstraßen umgangen, Fußgängerzonen, Passagen und kleinere Quartiere entstehen. Ansonsten sollte die Gestaltung streng funktionalen Prinzipien untergeordnet sein.

Wirklich aufgegangen ist diese Episode in der Pariser Stadtplanung nicht. Die brutalistische Architektur erschien insbesondere der zahlungskräftigeren Klientel, auf deren Bedürfnisse die Wohnungen ursprünglich zugeschnitten wurden, wenig wohnlich, die Lage zu abgelegen, sodass sich ihre Stadtflucht eher in Richtung der Pariser Vororte orientierte. Die Hochhäuser von Les Olympiades wurden von ärmeren Familien, vornehmlich aus der asiatischen Community, bezogen, bis Jahrzehnte später die unvermeidliche Gentrifizierung einsetzte. Mitten in diese Gentrifizierung hinein setzt Jacques Audiard dem Viertel und seinen Bewohner*innen mit seiner im Deutschen mit dem bekloppten Titel "Wo in Paris die Sonne aufgeht" stigmatisierten Adaption einer Reihe von Comic-Kurzgeschichten des amerikanischen Autors Adrian Tomine ein Denkmal. Oder zeigt jedenfalls, wie er sich das als knapp 70-jähriger Filmemacher so vorstellt, wenn hippe, multikulturelle junge Leute heute sexuell befreit miteinander herumvögeln.



Der Reigen, der sich zuerst als Dreiecks-, dann als Vierecksgeschichte zusammensetzt, beginnt, als der schwarze Doktorand Camille sich bei der asiatischstämmigen, ziellos in einem Callcenter vor sich hinjobbenden Émilie als Mitbewohner bewirbt. Eigentlich will sie eine Mitbewohnerin, aber nach einem durchtrunkenen Abend werden sich die beiden doch rasch einig und landen fast ebenso schnell miteinander im Bett. Nicht die beste Idee, wie sich spätestens dann herausstellt, als Camille die Lust an der aus seiner Sicht unverbindlichen Liebschaft verliert, während Émilie sich ihrerseits verliebt und immer eifersüchtiger und besitzergreifender wird. Als eine andere Frau ins Spiel kommt, eskaliert die Situation schließlich, Camille zieht aus und wir wenden uns einem anderen Handlungsstrang zu.

Der begleitet die 32-jährige Jurastudentin Nora, die, weil sie auf einer Party eine blonde Perücke trägt, mit einem populären Porno-Camgirl verwechselt und aus der Uni gemobbt wird. So weit, so hergeholt. Nach dem Studienabbruch beschließt Nora, in ihren früheren Job in der Immobilienbranche zurückzukehren und trifft dort auf Camille, der inzwischen seinen Lehrberuf aufgegeben hat und die kleine Makleragentur eines Freundes leitet. Gleichzeitig versucht sie, mit der ihr vermeintlich so ähnlichen Sexarbeiterin Amber Kontakt aufzunehmen. Damit sind alle wichtigen Konstellationen etabliert und es darf eine weitere Stunde lang gevögelt, gechattet, geskyped, getindert und über all das geredet werden. In Schwarzweiß.

Dass man mit so etwas wie einer intimen, atmosphärischen Charakterstudie in Schwarzweiß durchkommen kann, ohne in Generationenfilmklischees und Arthouse-Manierismen zu versumpfen, hat kürzlich Mike Mills mit seinem neuen Film "C'mon C'mon", einer wunderbaren und zutiefst humanistischen Einübung in Ambient Filmmaking, bewiesen. Jacques Audiard, der sich bisher in seinen besten Arbeiten vor allem als ein Meister in der Inszenierung intensiverer filmischer Aggregatzustände hervortat, verhebt sich dagegen an seinem versuchten Porträt einer Generation, die nahezu ein halbes Jahrhundert jünger ist als er, nahezu komplett. "Wo in Paris die Sonne aufgeht" kippt immer wieder ab in die Fremdscham und das unbestimmte Gefühl, dass all diese Figuren und Handlungsstränge falsch sind, oberflächlich und ausgedacht wirken.

Am guten Willen kann es nicht gelegen haben, denn mit den deutlich jüngeren Kolleginnen Céline Sciamma und Léa Mysius, beide selbst renommierte Auteurinnen, hat sich Audiard für die Arbeit am Drehbuch der Comicadaption immerhin zwei weibliche Perspektiven an Bord geholt. Visuell merkt man das dem Film, der ausgiebig das Motiv "schöne junge Brüste in Schwarzweiß" in Szene setzt, allerdings kaum an, aber das gelegentliche Schwelgen in Männerfantasien - warum auch nicht? - zählt nicht einmal zu seinen wirklichen Problemen. Eher ist es so, dass die gesamte Ästhetik der Inszenierung, von den Körpern der schönen, jungen, diversen Protagonist*innen bis hin zu ihrer Lebenswelt, die der Film ja vor allem einzufangen versucht, wirkt wie ein Werbespot für ein mehr oder weniger hippes Modelabel. Insofern gilt einmal tatsächlich der nicht so recht totzukriegende Klischeesatz über visuell ausgefeiltes Kino: ja, hier könnte man wahrscheinlich wirklich jedes einzelne Bild aus dem Film herausnehmen und an die Wand hängen. Allerdings könnte man dann auch immer "H&M" drunterschreiben.

Jochen Werner

Wo in Paris die Sonne aufgeht - Frankreich 2021 - OT: Les Olympiades, Paris 13e - Regie: Jacques Audiard - Darsteller: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, Camille Léon-Fucien, Oceane Cairaty - Laufzeit: 105 Minuten.

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Die Gefahr, dass man nach diesem Film die Musik von Leonard Cohen ein kleines bisschen weniger mag, besteht. Denn es ist zwar richtig, dass der 2016 verstorbene Musiker nicht länger kontrollieren kann, wo und wie seine Songs Verwendung finden; gleichzeitig würde man sich jedoch wünschen, dass die Musik selbst sich etwas mehr dagegen sträubt, in Filme wie "Death of a Ladies' Man" eingebaut zu werden. Oder anders herum: dass die Musik Filmen wie "Death of a Ladies' Man" etwas mehr hinzufügt, als sie es zumindest in diesem konkreten Fall tut.

Bevor sich das zu harsch anhört: "Death of a Ladies' Man" ist kein schlechter Film, lediglich ein bisschen unbeholfen. Einer, der das Herz am rechten Fleck hat, aber ein wenig zu sehr in seinen eigenen Prämissen gefangen bleibt. Einer, der eine etwas zu kohärente Spur legt von Cohens vielleicht besten Song, "Bird on a Wire" und insbesondere dessen Schlüsselzeile "I have tried in my way to be free", bis zu Cohens vielleicht schon immer, aber spätestens nach diesem Film, schwächsten Song, "Hallelujah". Einer, der beweist, dass es tatsächlich einen passenden Cohen-Song zu jeder Lebenssituation gibt - solange das Leben, von dem man erzählt, das eines alternden, alkohol- und bald auch krebskranken, gründlich von der Welt entzweiten nordamerikanischen Englischprofessors und eben Ladies' Man ist.

Eines ehemaligen Ladies' Man, genauer gesagt, das stellt gleich die erste Szene klar, in der Samuel O'Shea (Gabriel Byrne) seine zweite und aktuelle Frau mit einem anderen Mann im Bett erwischt. Bei der anschließenden Aussprache gerät er schnell in die Defensive, weil der Seitensprung der Frau, daran lässt der Film keinen Zweifel, lediglich ein schwaches Echo auf die Dauereskapaden des Mannes ist. Jedenfalls ist jetzt auch diese Beziehung in die Brüche gegangen, und um die von Samuel zu seinen beiden Kindern steht es nicht viel besser. Der Sohn erlaubt nach seinem eigenen Coming Out dem immerhin nicht homophoben Vater zwar die Umarmung, verschanzt sich jedoch ansonsten in einer latenten Aggressivität, die gleichfalls auf vergangene Konflikte hindeutet (die sich, klugerweise vermutlich, nicht in Rückblenden konkretisieren, sondern lediglich in Form psychischer Wunden und defekten Sozialverhaltens aufscheinen).



Die Tochter Josée wiederum hat von Samuel offensichtlich die selbstzerstörerische Ader geerbt. Sie ist die interessanteste Figur im Film und ihre Darstellerin Karelle Tremblay die große Entdeckung in einem ansonsten solide den Regeln des psychologischen Realismus gemäß operierenden Casts. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Josée rasches Abgleiten in die Drogensucht nicht reduzibel ist auf die Selbstkritik vernarbter Männlichkeit, als deren Funktion alle anderen Elemente des Films, mitsamt, leider, der Cohen-Songs, lesbar bleiben. In Josées Exzessen, und auch in Tremblays nie ganz berechenbarem Spiel spiegeln sich einerseits die dem Film nicht direkt verfügbaren vergangenen des Vaters; gleichzeitig jedoch qualifizieren sie jene als eingehegte, immer schon sozial wie psychologisch abgefederte. Kurz: als - wie sich bald zeigt: in den Grenzen der Willkür des Biologischen - lebbare, und auch als besingbare Exzesse. Josées Subjektivität hingegen lässt sich auf Leonard Cohens Œuvre eher nicht abbilden.

Sobald Samuels Sozialleben als gründlich zerrüttet enttarnt ist, ändert der Film seinen Kurs. Auf die Bahn, die ihn zum bereits erwähnten "Hallelujah" führt, setzt ihn ein Arztbesuch. In Samuels Gehirn hat sich ein Tumor eingenistet, auf dem CT-Bild manifestiert er sich als amorphes, visuell durchaus reizvolles rotes Gebilde im symmetrisch geordneten Blau des Resthirns. Die Prognose ist schlecht und erklärt beziehungsweise vereindeutigt zudem die antirealistischen oder der Intention nach wohl eher magisch-realistischen Einschübe, die im Film vorher schon ab und an und im weiteren Verlauf immer häufiger auftauchen und die also als krebsinduzierte Halluzinationen des schwerkranken Samuel zu lesen sind.

Manche dieser Halluzinationen sind konventionell und erwartbar, etwa wenn Samuels seinerseits früh gestorbener Vater plötzlich wieder quicklebendig Zigarette rauchend im Bücherzimmer des Sohnes sitzt. Andere sind ein wenig willkürlich, etwa wenn Montreal, wo der Großteil des Films spielt, aus heiterem Himmel von fliegenden CGI-Monstern in Schutt und Asche gelegt wird. Wieder andere sind auf eine etwas abgeschmackte Art skurril, etwa wenn Samuel während eines Spaziergangs an der Felsküste Irlands, wohin sich der Film in der zweiten Hälfte zeitweise verlagert, von einem buddhistischen Mönch, einem Cheerleader, einem Trapper und einem Sensemann begleitet wird. So richtig funktionieren diese vermeintlichen Ausbrüche nicht; ähnlich wie den Cohen-Songs mangelt es ihnen an Eigenständigkeit, was in diesem Fall freilich eher an der Beliebigkeit der Einfälle liegt als an der allzu exakten Passung.

Insgesamt tut der Irland-Ausflug dem Film durchaus gut. Zumindest ansatzweise greift in dieser Phase Samuels zunehmende geistige Zerrüttung auf den Film insgesamt über, und der Konflikt des Vaters mit der Tochter spitzt sich durch die räumliche Trennung zu. Auch dass der Film im Ganzen weiterhin gen Erlösung und "Hallelujah" strebt, möchte man ihm keineswegs vorhalten, insbesondere, weil er sich Mühe gibt, im "Hallelujah" den Nachklang des "I have tried in my way to be free" vom Anfang wenigstens als Ahnung präsent zu halten. Die im aktuellen Diskursraum sicherlich anschlussfähigere Alternative, Samuel einfach zum unrettbaren alten Eisen überkommener toxischer Maskulinität zu erklären, würde es sich deutlich leichter machen und wäre gleichzeitig darauf angewiesen, wahlweise die Folgegeneration oder die Frauen in Samuels Leben mindestens implizit zu positiven Gegenmodellen aufzubauschen (und damit, als handelnde Subjekte, auszuhölen). Dass Regisseur Matt Bissonnette demgegenüber auf der Möglichkeit der Selbsterkenntnis eines moralischen Ichs beharrt, ehrt ihn. Zu wünschen wäre lediglich gewesen, dass er auf dem Weg dorthin eher die Umwege als die Abkürzungen konturiert hätte.

Lukas Foerster

Death of a Ladies' Man - Kanada, Irland 2020 - Regie: Matt Bissonnette - Darsteller: Gabriel Byrne, Jessica Paré, Brian Gleeson, Antoine Olivier Pilon, Karelle Tremblay, Pascale Bussieres, Carolina Bartczak - Laufzeit: 100 Minuten.