Im Kino

Japan in Ekstase

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt, Carolin Weidner
10.02.2022. Roland Emmerichs "Moonfall" ist Kawumm-Kino in bester Manier: Gefeuert wird aus allen Rohren, Autos lernen fliegen, das Meer verformt sich und Menschen werden zu Schwerkraft-Superhelden. Zeitgleich mit der Berlinale läuft die Woche der Kritik. Dort laufen zwei Filme, die fasziniert sind von den Verwandlungsmöglichkeiten des Körpers: Norbert Pfaffenbichlers "2551.01" und Masaaki Yuasas Anime "Inu-oh".


Bei Roland Emmerich ist die Welt ein Kinderzimmer. Im Spiel rasseln die Autos ineinander, Türme werden gebaut, um direkt danach zerschmettert zu werden, jedes Spielzeug kann fliegen. Alles ist erlaubt, solange es Spaß macht. Die Naturgesetze außer Rand und Band. In "Moonfall" kommt die Ungeduld der Spielkinder dazu. Was einmal aufgebaut ist, ist längst überreif für die Zerstörung. Kaum hat die Menschheit eine Trägerrakete und mit ihr die letzte Chance, die Welt vor dem drohenden Absturz des Mondes zu retten, an den Start gebracht, türmt sich auch schon eine von der Anziehungskraft des Trabanten aufgetürmte Welle, bereit, sie unter sich zu begraben. Für den Countdown bleibt keine Zeit. Zwischen "drei" und "vier" wird gezündet. Nur zwei Raketen geben Feuer. Den Rest muss der dicht an die Erde gerückte Mond mit der Gravitation leisten, die bereits das Meer in den Orbit hochsaugt. Die Physik gehorcht aufs Wort. Oder, mit den Worten der NASA-Direktorin ausgedrückt: "Alles, was wir über das Universum zu glauben wussten, ist Makulatur."

Zum Zeitpunkt des Starts haben weite Teile der Menschheit bereits die Hoffnung aufgegeben oder die Flucht nach Colorado ergriffen. Für Jocinda Fowler (Halle Berry) und Brian Harper (Patrick Wilson) ist das letzte Aufbäumen die erste gemeinsame Weltraummission seit einem Jahrzehnt. Mit ihrer ersten, einem tragischen Reparaturauftrag im Orbit, beginnt der Film und entsprechend auch der Weltuntergang. Eine außerirdische Entität stört die Mission, tötet den dritten Astronauten neben Fowler und Harper und verschwindet kurz darauf in Richtung Mond. Harper wacht zehn Jahre später als gescheiterter, gebrandmarkter Mann in einer kleinen, seit Monaten nicht bezahlten Wohnung auf. Der Sohn sitzt im Knast, die Ehefrau hat neu geheiratet und die ehemaligen Freundin Jocinda sagt bei der NASA-Anhörung gegen seine Theorie einer außerirdischen Intervention aus. Der ehemalige Astronaut ist nun weit genug unten angekommen, um auf KC Houseman (John Bradley) zu treffen. Der wäre gern Astronaut, Astronom oder auch nur jemand, dessen Fähigkeiten in irgendeiner Form anerkannt würden. Statt auf der Uni zu lehren, putzt der von Panik und Magenproblemen geplagte Nerd dort die Flure. In seiner Freizeit veranstaltet der "Megastrukturalist" Meetings mit anderen Verschwörern, Nerds, Pseudo-Wissenschaftlern und Freunden. Hochbegabt ist er trotzdem. So sehr, dass er noch vor der NASA zu der Erkenntnis kommt, dass der Mond seinen Orbit verlassen und Kollisionskurs auf die Erde genommen hat.

Schuld ist der von Harper zuerst gesichtete künstlich intelligente Partikelschwarm, der an Stanislaw Lems "Der Unbesiegbare" erinnern würde, wenn Emmerich in irgendeiner Form den Anschluss an Diskurs oder Science-Fiction-Kanon suchte. Tatsächlich sind alle Anschlusspunkte - Kollaps, Künstliche Intelligenz und Technologiekritik - da, und doch schafft es "Moonfall", so gegenwartsfern zu wirken, wie es nur einem Emmerich-Film gelingen kann. Tatsächlich erscheint "Moonfall" auf dem mittlerweile sehr überschaubarem Feld der großen Studioproduktionen als geradezu eigensinniges Werk: ein Blockbuster aus einer fast ausgestorbenen Ahnenlinie, der seine Schauwerte weder effizient einsetzt, noch gezielt am Diskurs ausrichtet, sondern einfach erstmal aus allen Rohren ballert. Damit hat Emmerich ein passgenaues Gegenstück zu Adam McKays trister Katastrophenfarce "Don't Look Up" geschaffen, die, gespeist aus Verdruss über den Stand der Dinge, die heroischen Weltretter gegen die Wand der verblödeten und systemisch erkrankten Gesellschaft prallen lässt. Derartiges gibt es bei Emmerich nicht. Für die Verantwortungslosigkeit ist dort immer noch die gute alte Regierungsverschwörung verantwortlich (den dazugehörigen Mr. X verkörpert einmal mehr Donald Sutherland) und die Protagonistinnen geben sich zwar rebellisch, stecken aber mindestens mit einem Bein tief in bekannten Systemstrukturen drin. In diesem Fall verkörpert die NASA das Zentrum aller Autoritäts- und Machtfragen.



Jocinda Fowler wird, nachdem sich der alte Direktor lieber privat der Apokalypse widmet, den Vorsitz übernehmen. Einziger Gegenspieler ist das von ihrem Ex-Mann vertretene Militär, das die Atomlösung der heroisch-wissenschaftlichen vorzieht. So sieht Familie Fowler als eine von drei (!) handlungsrelevanten Familien dem Weltuntergang nicht als geeinte Kernfamilie, sondern als Patchwork-Lebensgemeinschaft entgegen. Das rüttelt nicht im geringsten an der unerschütterlichen Dynamik des Films - die Familie bleibt das letzte beständige Bollwerk gegen den sozialen Kollaps -, ist aber die wirklich einzige Annäherung an den Zeitgeist, die neben KCs unangenehm vordergründig ausgespielter Liebe zu Elon Musk erkennbar ist.

Ansonsten bombt Emmerich mit allem, was er hat, den Weg frei für den triumphalen Kampf gegen die Apokalypse: kein Anrennen gegen ein System, keine langsame, schwer greifbare, mit der eigenen Kultur verbundene Apokalypse, sondern Fluten, Feuer und Schwefel auf der Erde; Laser, EMP und Maschinenkrieg im Weltall. Ein Tsunami, der die halbe Ostküste wegspült, ist kein Hindernis für die gemeinsame Übernachtung im Hotel und wird überhaupt erst bemerkt, als er KCs bekifftem Verschwörungspartner in die Birkenstocks läuft. Die eigentlichen Katastrophen füllen die Leinwand bei den buchstäblich in greifbare Nähe rückenden Mondaufgängen, die den Trabanten als Höllenstern aufsteigen lassen, der nicht nur Feuerbälle aus seinem Leib Richtung Erde spuckt, sondern zugleich - ungeachtet des Wissens der Wissenschaft - an ihrer Masse zerrt.

Dass sich "Moonfall" nach einer Reihe von Rohrkrepierern wieder wie ein "echter" Emmerich anfühlt, ist nicht allein der Rückkehr zum Bombastischen geschuldet (das zumindest in den Pazifikschlachten um "Midway" deutlich gedrosselt wirkte), sondern vielmehr der spielerischen Freude, zu der der Regisseur zurückfindet. Sind die Naturgesetze erstmal außer Kraft, sortiert "Moonfall" mit sichtbarer Lust die Kräfteverhältnisse im Angesicht der Apokalypse neu: Autos lernen fliegen, das Meer formt sich zu einer "Gravitationswelle", Menschen werden Schwerkraft-Superhelden und auf dem Mond eskaliert eine einfach Rettungsmission ohne Bedenken in pathosgeladenes B-Movie-Kinderzimmer.

Karsten Munt

Moonfall - USA 2022 - Regie: Roland Emmerich - Darsteller: Halle Berry, Patrick Wilson, John Bradley, Charlie Plummer, Donald Sutherland - Laufzeit: 130 Minuten.

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Klaustrophobisch sind die Gänge, durch die sich ein Affenköpfiger bewegt. Auf seinem Arm: ein Kind, dessen Kopf mit einem zugeschnürten Jutesack bedeckt ist. Wo Augen und Mund sind, gibt es winzige Löcher. "The Kid" nennt sich die erste Episode aus Norbert Pfaffenbichlers "2551.01". Eine zweite gibt es noch nicht, aber sie kündigt sich zum Ende des Films an: "Orgy of the Damned". Was da auf einen zukommt, mag man sich nicht vorstellen, kann es nach "The Kid" allerdings ein bisschen. Denn schon jetzt wurden Schweineföten seziert und Augen durch den Food-Processor gejagt, Puppen in den Ofen geschoben und verdroschen, Wesen grundlos inhaftiert und Speisen mit Gedärm und Würmern serviert.

"2551.01" orientiert sich lose an Charlie Chaplins "The Kid" (1921), in dem ein Tramp (Chaplin selbst) unverhofft an einen Säugling gelangt, den er in einer schmuddeligen Ecke liegend gefunden hat. Es ist zärtlich, was da zwischen kleinem und großem Mensch passiert. Und das ist es auch in "2551.01". Nur das Außen ist in seiner Unappetitlichkeit drastischer. Was Pfaffenbichler an Kostümen und vor allem Masken aufgefahren hat, ist erstaunlich und erschreckend zugleich. Das Figurenpersonal besteht aus dem Stoff, aus dem Albträume sind. Verwachsene, vernähte, zerstörte und mutierte Köpfe, fiese Clowns und starre, ewig lächelnde Barbie-Grimassen.

Das Setting erinnert an eine düstere Nachkriegszeit: An den Wänden kleben dutzende Vermisstenanzeigen, gefährliche und ruchlose Gestalten harren in Ecken, wollen verführen oder quälen oder sind einfach verloren. Dazu treten schwere Metal-Gitarren auf einen ein, ergießt sich hier und da eine Lachsalve, auch Johann Sebastian Bach ist irgendwo zu hören. "2551.01" ist eine Feier des Abjekten, bei der sich trotzdem schnell Mitgefühl einstellt. Was einen in seiner Singularität sonst erschrecken würde, bekommt bei Pfaffenbichler schnell etwas Vertrautes, man gewöhnt sich an die Hässlichkeit, möchte genauer hinsehen.



Wegen seiner Unansehnlichkeit zu den Tieren verbannt - und damit aus dem Sichtfeld - ist derweil Inu-oh ("König der Hunde") im Anime von Masaaki Yuasa. Noch im Mutterleib mit einem Fluch versehen, betritt er die Welt als jemand, den man am besten hinter einer Maske versteckt. Im Japan des 14. Jahrhunderts scheint sich daran niemand zu stören, die Existenz von Inu-oh ist genauso real und irreal wie umherwandernde Seelen und Dämonen. Mit letzteren hatte auch Tomona zu tun, der als Junge sein Augenlicht verlor und nun als Biwa-Musiker Geschichten von Schlachten und gefallenen Kriegern singt.

Die von Yuasa beschriebene Welt ist komplex und verschlungen, mit zahlreichen, auch politischen, Nebenstraßen. Visuell stringent und weniger verspielt, exzentrisch, ja, vielleicht wahnsinniger als dessen "Mind Game" (2004) nach dem Manga von Robin Nishi, konzentriert sich "Inu-oh" am stärksten auf das Motiv der Verwandlung. Inu-oh und Tomona erlangen als schnell populär werdender Musikact Einfluss und Macht im ganzen Land, wo auf einmal Songs wie aus einer Rockoper auf die Menschen der Ashikaga-Zeit niedergehen. Die Stimme von Inu-Oh ist dabei die Avu-chans, auch "the Black Trans Singer of Rocking Anime Music" genannt und Sängerin der J-Rock-Band "Queen Bee".

Inu-oh wechselt bei Yuasa indes die Gestalt - vom geschmähten Kindermonster zum Glamrocker mit bunten Haar. Um, als endlich alle Dämonen gebannt sind, als Begründer des Noh-Theaters in die Geschichte einzugehen. Sein Antlitz erinnert an Klaus Nomi. Masaaki Yuasa arbeitet in seinem Film mit der Maskerade, der Idee vom Sicht- und Unsichtbaren, Angst wie auch starker Anziehung angesichts eines Unbekannten, das eine klar sexuelle Konnotation besitzt. So muss sich der blinde Tomona mehr als einmal anhören, er würde wie eine Prostituierte herumlaufen, während Inu-Oh mit Falsetto, gestähltem nackten Oberkörper und Maske halb Japan in Ekstase versetzt.

Sowohl bei Masaaki Yuasa als auch bei Norbert Pfaffenbichler ist eine Faszination für die sich transformierende Form auszumachen, die sich in jedwede Richtung ausstülpen kann und damit verschiedene Reaktionen provoziert. Pfaffenbichler hantiert mit dem visuell Abstoßenden, seiner konsequenten Ausgestaltung wohnt aber auch etwas Liebevolles inne. Yuasa hingegen gelingt es, wie bereits in früheren Arbeiten einen bestimmten Zeitgeist einzufangen, hinter der Kostümierung steckt eine Botschaft: Inu-oh und Tomona sind angehalten, die eigene Geschichte zu erzählen, den eigenen Namen zu finden, den eigenen Ausdruck. Das ständige Verwandeln und Maskieren ist mehr Symptom als Ergebnis.

Carolin Weidner

2551.01 - Österreich 2021 - Regie: Norbert Pfaffenbichler - Laufzeit: 65 Minuten.

Inu-oh - Japan 2021 - Regie: Masaaki Yuasa - Laufzeit: 98 Minuten.

"2551.01" und "Inu-oh" sind Teil des Programms der Woche der Kritik, die dieses Jahr wieder parallel zur Berlinale stattfindet. Mehr Informationen hier.