Im Kino

Paranoia verlangt es

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Robert Wagner
23.06.2021. Das Berliner Zeughauskino veranstaltet ab dem 25. Juni eine Ulli-Lommel-Retrospektive. Mit dabei: "Olivia" von 1983 über die psychotische Tochter einer ermordeten Prostituierten. Auch in diesem Film bleibt assoziative Willkür der Modus operandi Lommels.  John Krasinskis Horrorfilm "A Quiet Place 2" führt die Geschichte der Familie Abbott auf der Flucht vor den Alien etwas ziellos weiter.


"Olivia" fällt in zwei klar voneinander abgegrenzte Hälften auseinander. Die erste Hälfte erzählt von Hausfrau Olivia (Suzanna Love), deren Mann (Suzannas Bruder Nicholas Love) nur eine Haushälterin in ihr sieht. Sie hat zu Hause zu sein und mit Essen auf den meist absenten Gatten zu warten. Olivia sucht Unabhängigkeit und findet ein sexuelles Erwachen und einen Geliebten (Robert Walker Jr.). Wenn sich beide Männer schließlich treffen, versuchen sie, sich gegenseitig von der London Bridge herunterzustoßen. Aus einer anderen Perspektive könnte man Olivias Schicksal als eine Variation von "Rapunzel" beschreiben, dem Märchen, dass sie von ihrer Mutter in einer verhängnisvollen Nacht vorgelesen bekam.

Nach der Auseinandersetzung springt der Film vier Jahre in die Zukunft. Olivia lebt nun in Arizona, wo die London Bridge abgetragen und neu aufgebaut den Colorado River überleitet. In ihrem Heim trägt sie ein Kleid, dessen Farben deutlich Disneys "Schneewittchen" anklingen lassen. Das Beige des Rocks und das Blau des Oberteils sind zwar vertauscht, es liegt aber doch nahe, dass Olivia sich nun hinter den sieben Bergen vor einem eifersüchtigen Rächer versteckt. Von einem Märchen ist sie in ein anderes geschlittert.

Als Kind musste Olivia miterleben, wie ihre Mutter von einem ihrer Freier ermordet wurde. Die Formung ihrer Sexualität vollzieht sich daraufhin als Nachahmung ihrer Mutter. Die weggesperrte Olivia beobachtet Prostituierte, die sie um ihre Freiheit zu beneiden scheint und die sie als Symbole der mütterlichen Identität faszinieren. Wenn sie sich anzieht um Männer aufzugabeln, entspricht das dem Haar, das Rapunzel herunterlässt. Nur taucht umgehend die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf auf, sobald sie Verlangen in sich aufsteigen fühlt. Töten müsse sie die Männer, wenn sie eine gute Tochter sein will. Olivia ist ebenfalls eine Wiedergängerin von Norman Bates aus Hitchcocks "Psycho" - während wiederum "Vertigo" den Bruch im Film vorprägt: In Arizona hat Olivia eine neue Persönlichkeit angenommen, wird jedoch von einem Mann in ihre vormalige Identität gepresst.



Die Märchen und die Hitchcock-Filme strukturieren den Film, was ihn in die Nähe der Arbeiten Brian De Palmas rückt, der zur gleichen Zeit - "Olivia" kam 1983 in die Kinos - ebenfalls zuvorderst Hitchcock-Variationen drehte. Wo De Palma die hitchcockschen Strukturen nutzt, um dessen und seine eigenen Fetische noch zwanghafter zu zelebrieren und die Zuschauers zu Geiseln des überspannten Lusthaushalts des Films macht, da zeichnet sich Ulli Lommel dadurch aus, dass er in seinem Film eine gewisse Unordnung zulässt. Die Symmetrie bietet lediglich ein grobes Korsett. Weder die Abfolge der Szenen, noch deren Verlauf sind minutiös getimt. Assoziative Willkür bleibt der Modus operandi.

Tote kehren in "Olivia" wieder, aber es gibt keine Versuche, diese Wiederkehr erzählerisch abzusichern und mit Erklärungen glaubhaft zu machen. Die Paranoia verlangt es, mehr Legitimation braucht es nicht. London wie auch Arizona gibt es außerhalb der Lebenswelt Olivias praktisch nicht. Die Orte sind in keiner Realität verankert, sondern Traumwelten, die weniger räumliche als psychologische Veränderungen einfangen. Das Gefühl des Irrealen wird durch Wiederholungen und das Zusammenfallen diametraler Gegensätze untermauert. Zärtlichkeit und Missgunst folgen aufeinander, Gewalt folgt auf Liebe, Zerstörung auf Hoffnung, eine routinierte Vergewaltigung auf romantischen Sex. Das Spiegelbild folgt auf das Gegebene, als gelte es, auf jedes Glück die Strafe flugs folgen zu lassen. Der beschwerliche Kampf Olivias hat durchaus eine gesellschaftliche Dimension, ist aber zuerst ein Ringen mit dem eigenen psychologischen Ballast.

Diese Spiegellogik findet sich auch im Aufbau der Erzählung. Der in London spielende Abschnitt ist ein dezent surreales Kitchen-Sink-Drama. Miese Jobs, enge Häuserschluchten, die Themse als (soziale) Sackgasse bestimmen das Bild. Zumeist herrscht Nacht. In Arizona sehen wir Touristen, Freizeit, Tenniscourts, einen blauen Himmel und grenzenlose Weite. In Olivias kitschig ausstaffiertem Appartment hängen Zuckerstangen. Der Kontrast könnte größer kaum sein. Die London Bridge eint die beiden auf unterschiedliche Weise klaustrophobischen Orte auf unwirkliche Weise, lässt sie wie Ausprägungen voneinander erscheinen, die durch eine parapsychologische Logik verbunden sind. So wird Olivias Leben im bunten Wunderland Arizonas von einem Sog ergriffen, der die Realität von London nach und nach wieder auferstehen lässt. Nur werden die Morde, die Opfer und die Täter durchgewirbelt. Jede der beiden Hälften ist Zerrspiegelbild der anderen.



Das Ergebnis ist ein emanzipatorischer Film, der "Vertigo" aus der Sicht von Madeleine/Judy zeigt. Ein Film, der eine tiefsitzende Angst vor Glück beschreibt. In dem alles hermetisch abgeriegelt und doch von einer spielerischen Freiheit beseelt ist. In dem Romantik und Alpträume zwei Seiten einer Medaille sind. Sex ist Gewalt, Horror, kindliches Trauma und euphorischer Höhepunkt der Liebe. Es gibt kein Schwarz und Weiß, sondern Extreme, die untrennbar ineinander verkeilt sind. Ein Film, der von einer unbändigen Lust getrieben wird, zu entwerfen und zu zerstören. Und ein Film, der vor der Ausstellung von Können und Wissen flieht und stattdessen sein Glück darin sucht, zu schauen, wohin einen das Schlendern bringt. Der mit seiner hochkulturlosen Grelle eine kunstvolle, artifizielle Welt schafft, der sich für das interessiert, was das Rationalisierte in seinem Schatten belässt.

Und das alles mit und nach Lust und Laune. Mit Blick auf Ulli Lommels Biografie - vom Alain Delon des Neuen Deutschen Films wird er zum schrägen Appendix des Fassbinder-Zirkels, der im filmischen Ramsch (Lederhosenfilmen und Schmierkram) dessen Kino fortführt, der zum Warhol-Protegé wird, zum B-Slasher- und B-Horror-Regisseur, zum Schöpfer wilder wie billig produzierter Horroressayfilme, der 2004 kurz als Regisseur von "Daniel, der Zauberer" wieder höchst eigensinnig im deutschen Mainstream reüssierte - mit Blick auf diese Laufbahn scheint dies vielleicht das eine bestimmende Moment: Dinge anders zu machen und zwar nach Lust und Laune, ohne darauf zu achten, wie es eigentlich auszusehen hat. "Olivia" ist einer der diversen Höhepunkte dieses naiven, lustvollen Kinos, dem im Zeughauskino ab dem 25.06. eine an Wunderlichkeiten reiche Retrospektive gewidmet ist.

Robert Wagner

Olivia - USA 1983 - Regie: Ulli Lommel - Darsteller: Suzanna Love, Robert Walker Jr., Jeff Winchester, Amy Robinson, Bibbe Hansen, Nicholas Love - Laufzeit: 85 Minuten. Retrospektive Ulli Lommel im Zeughauskino.

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Der Schauplatz von John Krasinskis Horrorfilm "A Quiet Place" (2018) war wie ein klar strukturiertes Spielfeld. Um in einer nahen Zukunft, in der menschenfressende und hellhörige Aliens die Erde bevölkern, überleben zu können, blieb der Familie Abbott nichts anderes übrig, als still zu sein. Die Wege zwischen ihrem abgelegenen Landhaus, einem Fluss in der Nähe sowie einem Getreidespeicher, waren durch schmal aufgeschüttete Sandwege verbunden, auf denen sie sich geräuschlos fortbewegen konnten.
 
Wie viele Sequels basiert auch "A Quiet Place 2" nicht nur auf Wiederholung und Variation, sondern auch darauf, die Geschichte weiterzuführen. Nachdem der gerne etwas wehleidig bedeutungsvoll dreinblickende Vater Lee (Krasinski) im ersten Teil ums Leben gekommen ist, hat die Filmserie zwar ihre nervigste Figur verloren, aber gewissermaßen auch ihr Zentrum. Zeit also für die Familie, sich in neue Gefilde zu begeben. Als der aufgeschüttete Sandweg an einer Stelle plötzlich endet, zögert Mutter Evelyn (Emily Blunt) noch kurz, bevor sie ihren Fuß auf dem knackenden Gehölz niederlässt.
 
Zunächst lüftet Krasinski das Geheimnis von der Ankunft der Aliens. In einer schönen, etwa zehnminütigen Ouvertüre wird mit unheilvoll schwebender Steadicam (Polly Morgan) eine bisher unbekannte Kleinstadtnormalität inszeniert, die jederzeit ins Dystopische zu kippen droht. Wenn im Rahmen eines Baseballspiels Lees Freund Emmett (Cilian Murphy) eingeführt wird, dient die Szene in erster Linie dazu, das Unbehagen langsam anschwellen und schließlich in einer spektakulären Fluchtfahrt im Rückwärtsgang gipfeln zu lassen.
 


Etwas vereinfacht könnte man sagen: Während der Vorgänger die bedrohliche Stimmung, bevor die Monster erscheinen, mit maximaler Intensität ausreizte, konzentriert sich "A Quiet Place 2" stärker auf direkte Konfrontationen. Nachdem im ersten Teil ein Weg gefunden wurde, das Hörgerät von Evelyns Tochter Regan (Millicent Simmonds) zu einer Waffe umzufunktionieren, war der Schritt in die Offensive vermutlich unumgänglich. Geblieben sind immer noch recht ordentliche Actionszenen, die von der Stille ebenso leben wie vom zeitlich zerdehnten Zögern der Figuren, möglichst schnell, klug und strategisch zu handeln.
 
Eine weitere Schwerpunktverschiebung des Films hat damit zu tun, dass die Abbotts das Spielfeld hinter sich gelassen haben. Nachdem sie in einem verwilderten Stahlwerk Unterschlupf finden und auf den vom Tod seiner Familie desillusionierten Emmett treffen, beginnt sich die Erzählung zu teilen. Während Evelyn ihren verletzten Sohn Marcus (Noah Jupe) beschützen muss, machen sich Regan und Emmett auf die Suche nach einer vor den Monstern sicheren Insel. Ihr Weg führt dabei unter anderem in die Arme einer Gruppe verwilderter Überlebender, die den Monstern in puncto Bedrohung Konkurrenz machen.
 
Interessant wirkt das Abenteurer-Duo durch seine Unvollkommenheit. So wie Emmett kläglich daran scheitert, sein zynisches Einzelkämpfertum durchzuziehen, fremdelt Regan mit der Rolle der Kriegerin. Seltsam ziellos wirkt der Film allerdings besonders gegen Ende: Das Versprechen einer Art Vater-Tochter-Beziehung bleibt uneingelöst und der abrupte Schluss vielleicht ein Hinweis auf eine weitere Fortsetzung.
 
Da die Erzählstränge von Evelyn und Regan sich schon relativ bald nicht mehr bedingen, versucht Krasinski sie immer wieder mit technischen Mitteln zu vereinen. Bereits am Anfang verbindet ein Match Cut des verängstigten Marcus Rückblende und Gegenwart miteinander. Später wird mal die Gefahr zu ersticken, mal ein Duell mit den Monstern zum Anlass, den Überlebenskampf per Parallelmontage eins werden zu lassen. Die Reise ins Ungewisse wie auch Regans Versuch, sich abzunabeln, erscheinen wie trügerische Befreiungsschläge, die der Film recht mechanisch in eine ganz auf Symmetrie ausgerichtete Schablone presst.

Michael Kienzl

A Quiet Place 2 - USA 2020 - Regie: John Krasinski - Darsteller: Emily Blunt, Millicent Simmonds, Noah Jupe, Cillian Murphy - Laufzeit: 97 Minuten.