Im Kino

Wer bin ich und was mache ich hier?

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Michael Kienzl
20.05.2021. Der perfekte Film zur Pandemie: In Alexandre Ajas "Oxygen" erwacht eine Frau in einer von Dioden erleuchteten Kapsel, abgeschlossen von der Umwelt, nur mit sich selbst konfrontiert. Paul Schrader zeigte 1980 mit "American Gigolo" schon alles, was den Rest der Achtziger auszeichnete: Minimalistische Räume, Musik von Giorgio Moroder, todschicke Klamotten, wunderschöne Körper, Sex, Gewalt und jede Menge Ambivalenzen.


Eine an allerlei Kabel und Infusionen angeschlossene Frau ringt schwer keuchend um Luft. Kaum hat sie sich aus ihrem hautähnlichen Kokon befreit, folgt der nächste Schreck: Sie befindet sich in einer Kapsel voller piepsender Geräte und leuchtender Displays, ohne sich daran erinnern zu können, wer sie ist und wie sie hierher kam. Als größte Bedrohung in ihrem klaustrophobisch-futuristischen Gefängnis erweist sich der zunehmend schwindende Sauerstoff. Kaum hat "Oxygen" seine Heldin in die Welt gesetzt, blickt sie auch schon dem nahenden Tod ins Auge.
 
Bereits in seiner letzten Regiearbeit "Crawl" (2019) zeigte der Franzose Alexandre Aja, wie man mit einem einfachen Setting einen ebenso abwechslungsreichen wie hochspannenden Genrefilm inszeniert. Dafür brauchte er nicht mehr als einen Keller, einen Hurricane und einige beißwütige Alligatoren. Ajas neuer Film wirkt auf den ersten Blick wie die noch radikalere Zuspitzung eines solchen kammerspielartigen Konzepts und erinnert an den in einem Sarg angesiedelten Thriller "Buried" (2010), aus dem der lebendig begrabene Protagonist einen Ausweg sucht.
 
Das Zentrum von "Oxygen" ist die 100 Minuten in der Waagrechten liegende Hauptdarstellerin Mélanie Laurent, die nach ein wenig Recherchearbeit auf einem Touchscreen erfährt, dass sie wohl die Wissenschaftlerin Liz ist. Laurent grübelt, fleht, wütet mit verzweifeltem Minenspiel und wird doch im Laufe des Ultimatums immer ruhiger. Weniger als um einen virtuos inszenierten, sich stetig zuspitzenden Überlebenskampf geht es um die detektivische Suche nach Antworten auf so existenzielle Fragen wie: Wer bin ich und was mache ich hier?
 
Ajas Protagonistin durchläuft dabei einen Alterungsprozess im Schnelldurchgang. Von der symbolischen Geburt gerät sie direkt ins Spiegelstadium. Die künstliche Intelligenz MILO, der die Rolle des Sidekicks zukommt, zeigt ihr ein virtuelles Ebenbild an, das Liz in Ruhe betastet. Bereits hier zeichnet sich ab, dass es in "Oxygen" nicht wirklich ums Rauskommen geht, sondern eher darum, sich zu erkennen, zu verstehen und zu akzeptieren. Immer wieder flackern lichtdurchflutete Erinnerungen an ein früheres Leben auf, Experimente in einem Labor und zärtliche Momente mit einem bärtigen Erfinder namens Léo (Malik Zidi). Als menschliches Urgefühl erweist sich der Schmerz, der sich bis in Liz' Muskeln gefressen hat. Die Bilder aus der Vergangenheit erscheinen immer dann, wenn sie sich - zunächst unabsichtlich, später gezielt - verletzt.
 


Aber kann man diesen Erinnerungen überhaupt trauen? "Das bilden Sie sich ein", sagt der Polizist am Telefon, als es Liz für kurze Zeit gelingt, einen Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Auch die Kommunikation mit MILO ist voller Missverständnisse. Dass diese stets behilfliche, auch alles versachlichende und stur an EU-Normen mahnende Stimme vom sonst so hyperexpressiven Großschauspieler Mathieu Amalric gesprochen wird, kann man als ironischen Hinweis darauf verstehen, dass diese Welt nach anderen Gesetzen funktioniert. Wenn MILO Liz später einmal aus der Kapsel blicken lässt, ist wieder nur eine Simulation zu sehen. Dabei stellt sich in "Oxygen" die Frage, ob das vom Menschen Geschaffene nicht automatisch irgendwie menschlich ist und ob sich in der Illusion nicht auch Wahrheit finden lässt.
 
Obwohl Aja fantasievoll mit seinem Mikrokosmos umgeht und mehrere Ausflüge aus der Kapsel gewährt, fühlt sich das Konzept des Films manchmal ein wenig erdrückend an. Wenn Liz immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird und die Kamera in einem kritischen Moment nur noch unaufhaltsam um die eigene Achse rotiert, fragt man sich, ob der Minimalismus hier nicht nur eine kreative Herausforderung ist, sondern manchmal auch wirklich eine Beschränkung. Zwei Plot-Twists später jedoch hat sich die Richtung des Films geändert. Aus der scheinbar klaren Genre-Versuchsanordnung ist eine Reflexion über die Echtheit von Gefühlen geworden. Die engen Grenzen wirken dabei wie eine Metapher für Liz' Ohnmacht.
 
Es ist schwer vorstellbar, dass das ursprünglich mit Anne Hathaway und Regisseur Franck Khalfoun geplante und im Corona-Jahr 2020 gedrehte Projekt nicht auch als Kommentar auf unsere veränderte Wahrnehmung in der Pandemie zu verstehen ist. In einer Rückblende sehen wir eine nahe Zukunft, in der Menschen Mundschutz tragen, um sich vor einem tödlichen Virus zu schützen. In der Gegenwart ist Liz auf engstem Raum eingesperrt und kennt zwischenmenschliche Nähe nur noch aus der fernen Erinnerung. Während sich das Äußere zunehmend auflöst, bleibt ein bildschirmfüllendes Ich, mit dem man irgendwie klarkommen muss.
 
Die letzte, ungewöhnlich sanfte Szene spielt am Meer. Vielleicht zeigt sie ein Happy End, vielleicht nur einen schönen Traum. "Oxygen" scheint es auf diese Ambivalenz anzulegen, weil der Unterschied letztlich gar nicht so wichtig ist. So wie Schmerzen Liz' Bewusstsein für die Vergangenheit geschärft haben, macht die Liebe die schlimmsten Wahrheiten erträglicher. Wenn die Wirklichkeit keine Sicherheit mehr bietet, liegt immer noch ein wenig Hoffnung im Imaginären.

Michael Kienzl

Oxygen - Frankreich 2021 - OT: Oxygène . Regie: Alexandre Aja - Darsteller: Mélanie Laurent, Malik Zidi, Laura Boujenah - Laufzeit: 100 Minuten. Oxygen bei Netflix.

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Women had always been photographed like this, but men hadn't - it was new, it was gay, it ended up influencing everything from the popularity of GQ magazine to how Calvin Klein began advertising men. In retrospect, it's amazing that American Gigolo was a hit: the film is deliberately paced, sometimes glacially so, and flirts with pretension more often than it doesn't, so it's hard to believe this art object with very few commercial concessions (except, of course, that delirious come-on of a title) was in fact a big Paramount picture produced by Jerry Bruckheimer. - Bret Easton Ellis

Es gibt Filmemacher, wie Christian Petzold oder Wong Kar-Wai, die Genregeschichten mit formalen Mitteln erzählen, die selbst nicht dem Genrekino angehören. Zunächst einmal, auf einer oberflächlichen Ebene, könnte man sagen, dass Paul Schrader mit seiner dritten Regiearbeit, "American Gigolo", 1980 den umgekehrten Weg geht: Das, was er bei dem französischen Minimalisten Robert Bresson und namentlich seinem "Pickpocket" (1959) - ein Film, der von einem Dieb erzählt, aber selbst kein Krimi ist - gelernt hatte, überführte er in einen schnörkellosen, ziemlich stylischen mittelgroßen Hollywood-Erotikthriller.

Was er bei Bresson gelernt hatte, das war, mit seinen eigenen Worten, dass man einen Film machen könne, dessen Hauptfiguren ein Mann und sein Zimmer sind. Tatsächlich lässt sich die Transformation von Bressons Taschendieb Michel (Martin LaSalle) zu dem von Richard Gere gespielten Gigolo, heute würde man sagen Sexarbeiter, Julian Kay, der sich im Los Angeles des Jahres 1979 von wohlhabenden Frauen für Sex fürstlich bezahlen lässt, an nichts so gut ablesen, wie an den Zimmern, die sie bewohnen. Einen gewissen Minimalismus haben ihre jeweiligen Behausungen gemeinsam, auch findet sich in beiden ein Bücherregal. Wo das winzige, karge, dunkle und heruntergekommene Zimmer bei Bresson aber einem Mann Herberge gibt, dem es zwar nicht an Geld mangelt, der sich aber offensichtlich nicht für Inneneinrichtung interessiert, lebt Schraders Protagonist in einem durchgestylten, geräumigen und sonnendurchfluteten Appartement, dessen eher spärliche Einrichtung dem protzigen Minimalismus der Schönen und Reichen im damaligen Amerika geschuldet ist.

Das setzt sich nahtlos fort in den Städten, die die beiden Männer bewohnen: Während Michel mit der U-Bahn durch ein klaustrophobisch enges Paris fährt, rast Julian in einem schicken Mercedes-Coupé durch ein sich endlos erstreckendes, sonderbar leeres und leises Los Angeles. Trotz dieser offenkundigen Unterschiede zitiert das Ende von "American Gigolo" nicht nur das von "Pickpocket"; der streng calvinistisch erzogene Schrader greift auch den Grundkonflikt des bekennenden Katholiken Bresson auf: Es geht um einen Mann, der in einer materialistischen Welt, in der nur das Geld zählt, schließlich durch die Liebe einer Frau Erlösung findet.

Das macht Julian zu einem prototypischen Schrader-Antihelden. Die Protagonisten seiner Filme sind, angefangen mit Travis Bickle in "Taxi Driver" (1976), zu dem Schrader das Drehbuch geschrieben hat, einsame, verlorene Männer auf der Suche nach Erlösung. Dass die verschiedene Formen annimmt, mal sehr weltliche, mal spirituelle, macht einen Teil des beträchtlichen Reizes von Schraders Kino aus. In "American Gigolo" geht es um eine spirituelle Form der Erlösung.



Die ziemlich unwahrscheinliche Schnittstelle zwischen Bresson und Bret Easton Ellis wird von Julian ausgelotet, gespielt vom dreißigjährigen Richard Gere, der wesentlich jünger aussieht und sich als erster männlicher Hollywood-Darsteller der Kamera in nackter Vorderansicht präsentierte. Zu Beginn ist das ein Mann, der seinen makellosen Körper mit Klimmzügen stählt, seine Garderobe aus feinster Designerware akribisch kombiniert, während er sich eine Prise Koks aufs Zahnfleisch schmiert und aktuelle Popmusik vor sich hin trällert. Mit den Worten von Ellis in seinem letzten Buch, dem Essayband "White": "Julian is a happy, superficial capitalist with very little backstory. He just exists floating through this world, an actor."

Doch wo die Figuren in Ellis' Romanen in einer Welt der makellosen Oberflächen, unter der das große Nichts lauert, und der konstanten (Selbst)Objektivierung hoffnungslos gefangen bleiben, findet sich Julian in einem Neo-Noir-Thriller-Plot wieder, als eine seiner Freierinnen ermordet wird, und er der Hauptverdächtige ist. Die einzige Hilfe, die ihm dabei in einer kalten feindlichen Umwelt bleibt, kommt von Michelle Stratton (Lauren Hutton), der Frau eines Senators, die sich auf den ersten Blick in Julian verliebt, und ihn nach und nach von seinem Lebensmotto, sich von nichts und niemandem vereinnahmen zu lassen, abbringt.

Auf seinem Weg zur Erlösung geht es darum, die makellos durchgestylten Oberflächen aufzubrechen. Seine Wohnung wird gleich mehrmals verwüstet. Aus dem superschicken und unnahbaren, cool und souverän durch diese Welt gleitenden Julian wird, je mehr sich die für ihn aufgestellte Falle schließt, ein unrasiertes Nervenbündel, das dem Dresscode der feinen Bars und Restaurants, in denen er verkehrt, immer weniger genügen kann.

Das Faszinierende an "American Gigolo" ist, dass letztlich immer Ambivalenzen bleiben. Die Hingabe des Films an die Oberflächenreize der schamlos sexualisierten Körper von Hutton und Gere im Bett oder der stylischen Leere der Schauplätze, von Giorgio Moroders sphärischem Synthesizer-Scores vortrefflich akzentuiert, ist letztlich zu groß, um im Bresson'schen Happy End einfach aufgehoben zu werden. Der Weg von (Prä-)Ellis zu Robert Bresson, von der Neo-Noir-Kälte im gleißenden Sonnenlicht zum Pathos der Erlösung durch Liebe kann nie ganz abgeschlossen werden. Der Film und seine Protagonist*innen verbleiben letztlich in einem Zwischenreich, einer Art Limbo vielleicht.

Nicolai Bühnemann

American Gigolo - USA 1980 - Regie: Paul Schrader - Darsteller: Richard Gere, Lauren Hutton, Hector Elizondo, Nina van Pallandt - Laufzeit: 117 Minuten. "American Gigolo" finden über justwatch.de.