Im Kino

Happy Mistakes

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Robert Wagner
25.03.2021. Oliver Schwehm porträtiert in einer ARD-Doku den Magier Helmut Schreiber alias Kalanag, der vor, mit und nach den Nazis eine glänzende Karriere pflegte und die Deutschen mit leichter Kost unterhielt. Ein ganz eigenes Phänomen ist Bruno Sukrow, der sich mit über 80 Jahren als Regisseur von Second-Life-Filmen wie "Der Irrtum" neu erfand.
"Simsalabim, da bin ich wieder!"
     Helmut Schreiber

Kalanag und seine Show-Partnerin Gloria. Bild: SWR/Stiftung Zauberkunst


Wer den Bühnenmagier Kalanag in alten Schwarzweißaufnahmen sieht, könnte ihn für einen flüchtigen Moment lang mit Heinz Erhardt verwechseln: eine wirtschaftswunderbare Figur, dazu der etwas lausbübische Blick in den Augen hinter Glas, eine Stirn, die längst durch die Haare gewachsen ist, und ein Auftreten, das die Bühne liebt und umgekehrt.

Und doch merkt man schnell: Erhardt ist das nicht. Erhardt kultivierte die Lust am Unwohlsein im eigenen Körper, markierte - darin natürlich souverän wie nur was - das Unsouveräne der Überforderung, schuf eine Eleganz des zerstreuten Linkisch-Seins. Kalanag hingegen zelebriert auch körperlich nichts anderes als Selbstbewusstsein, die Lust am Souveränen, er beherrscht Bühne und Geschehen. Das Flinke, das bei Heinz Erhardt zum sense of wonder wurde, wird bei Kalanag, wie bei jedem Bühnenillusionisten, zur Grundbedingung: Handwerk, das soweit auffallen darf, dass man merkt, dass da jemand etwas beherrscht, aber als eigenständige Attraktion und Effekt nicht ins Bewusstsein treten kann - weil man dann ja darauf gestoßen werden würde, wie man gerade hinters Licht geführt wurde. Wie man Leute hinters Licht führt, darauf versteht sich Kalanag.

Kalanag heißt eigentlich Helmut Ewald Schreiber. Beide Namen, vermute ich, sind heute kaum noch geläufig. Zumindest unter jenen, die deutsches Entertainment vor 1960 nicht aktiv miterlebt haben. Der Illusionskünstler, der in den 50ern unter einem großen Hallo auf der Bühne ganze Autos verschwinden ließ und die Illustrierten beherrschte, ist heute selbst verschwunden.

Nicht zum ersten Mal übrigens: Seine ersten Auftritte lagen in der Weimarer Republik. Dann kamen die Nazis - und er ging mit. Alte Freundschaften wurden aufgekündigt - sein früherer Geschäftspartner war Jude -, der exotische Bühnenname abgelegt.

Als Helmut Schreiber wurde er Aufnahmeleiter bei der jungen Tobis - unter seiner Ägide entstand das bizarre antisemitische Buddy Movie "Robert und Bertram" -, schließlich Leiter der Bavaria. Über ihm nur Goebbels, der bei ihm jene leichte Kost bestellte, die die Weltkriegsdeutschen in den dunklen Kinobunkern bei Durchhaltelaune hielt. Zaubertricks im Salon an Hitlers Tisch, fotografisch belegt. Helmut Schreiber tanzt auf allen Partys. Den "Magischen Zirkel", dem er vorstand, bringt er in die Reichskulturkammer - die jüdischen Mitglieder wurden vertrieben. Helmut Schreiber beherrscht Bühne und Geschehen.

Bis die Amis kamen. Entnazifizierung in Bayern, Berufsverbot. Flucht nach Hamburg, wo ihn keiner kannte. Aber Kalanag kommt wieder. Großes, ganz großes Varieté, Reisen nach Amerika, Afrika, Hansdampf in allen Gassen. 80 Mitarbeiter, große Kulissen, der Wirtschaftswundertraum von Exotik und Erotik. Kalanag lässt darüber Helmut Schreiber, den Nazi-Filmfunktionär, verschwinden - selbst Mitarbeiter im engen Kreis wissen nicht, dass sie es mit einer Nazi-Größe zu tun haben. Zumindest behaupten sie das. Zur selben Zeit rettet sich auch Alfred Bauer mit der Gründung der Berlinale von einem Funktionärsposten in den nächsten.

Woher kommt das Geld für so einen Kickstart im Trümmerdeutschland? Nichts Genaues weiß man nicht. Nazi-Gold, solche Gerüchte eben. Helmut Schreiber gibt es nur noch im engen Kreis des Privaten. Kalanag hingegen beherrscht Bühne und Geschehen.

Helmut Schreiber ist eine Figur wie aus einem Pynchon-Roman. Der Zauberer, der für Goebbels Filme drehen lässt, in der diffusen Interzone zwischen Weltkrieg und Bundesrepublik Lunte und Gelegenheit riecht, seine Schäfchen ins Trockene bringt und gleich wieder oben schwimmt, den Deutschen als Werbeträger Autos, Waren, Sensationen verkauft.

Anneliese Schreiber, Adolf Hitler und Helmut Schreiber alias Kalanag. Bild: SWR/Bayerische Staatsbibliothek/Heinrich Hoffmann


Dass diese waghalsige, abenteuerliche, für jüngere deutsche Vergangenheit so bezeichnende Geschichte nicht schon viel früher erzählt wurde, ist so überraschend wie naheliegend. Vor einigen Jahren gab es eine kleine Studie des Filmhistorikers Rolf Aurich, jetzt gerade erschienen ist eine etwas leichtere Darstellung in Buchform von Malte Herwig. Beide sind O-Ton-Geber in Oliver Schwehms SWR-Doku "Verzaubert und verdrängt".

Schwehm ist auf Dreiviertelstünder mit leicht sensationellen historisch-kulturellen Themen spezialisiert - Christopher Lee, Edgar Wallace, Bahnhofskino der 70er, oder auch Arno Schmidt. Methode: Archivmaterial plus Talking Heads plus nostalgische Reminiszenz gleich Kurzweiligkeit. Eine Geschichte wie die des großen Kalanag erzählt sich mit dieser Methode schon des schieren Wahnwitz wegen glatt von selbst. Die Methode Schwehm dient einerseits zwar dem Storytelling - natürlich fällt einem fortlaufend die Kinnlade runter -, bietet über das geschmeidige Storytelling hinaus aber wenig Analyse oder tiefere Erkenntnis.

Das Archivmaterial dient vor allem als Assoziationsmasse: Irgendwann kommt es zur Trennung zwischen Schreiber, einem Lebemann, der sich mit Dutzenden jungen Tänzerinnen umgibt, und seiner Ehefrau und Bühnenassistentin Gloria - ein Ausschnitt illustriert das Ganze in Form eines Verschwindibus-Schnitttricks, gefolgt vom Augenzwinkern Schreibers in die Kamera. Auf numinösen Effekt bedachte Bühnenauftritte des großen Kalanag illustrieren Schreibers Aufstieg zum "Verführer" qua Filmkomödie. Alte Fotos von Dreharbeiten belegen das Geltungsbedürfnis Schreibers. "Er trug immer weiße Kleidung, um herauszustechen." Nun ja.

Dass man in der Schlacke des Verdrängten der deutschen Unterhaltungsbranche auch anders und mit erstaunlichen Ergebnissen wühlen kann, stellte vor einiger Zeit Regina Schillings Essayfilm "Kulenkampffs Schuhe" - längst ein Klassiker des jüngeren deutschen Films - unter Beweis. Auch fragt man sich, was für ein Film wohl entstanden wäre, wenn ein begnadeter Filmessayist und Tiefenschichtenforscher wie Dominik Graf das Sujet aufgearbeitet hätte. Der routinierte TV-Doku-Standard bekommt demgegenüber den sensationalistischen Beigeschmack von Nazis, Mumien, Sensationen nie so richtig weg.

Aber sei's drum. Die Geschichte von Kalanag ist über filmhistorische Archivforschung und Sachbuchmarkt hinaus auf dem Tisch und dabei immerhin niedrigschwellig zugänglich. Was man sich jetzt wünscht: dass der Stoff aufgegriffen und kontextualisiert wird. Dass der wenigstens pynchon-artige Roman, der hier schlummert, dazu geschrieben wird. Merle Kröger, übernehmen Sie.

Thomas Groh

Verzaubert und verdrängt - Die Karriere des Magiers Kalanag - Regie: Oliver Schwehm - Mit: Rolf Aurich, Malte Herwig, u.a. - Lauzeit: 45 Minuten. "Verzaubert und verdrängt" ist noch ein Jahr in der ARD-Mediathek verfügbar.


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"Der Irrtum" ist auf Youtube verfügbar. Die Sichtbarwerdung des Phänomens Bruno Sukrow hat damit einen scheinbar zwangsläufigen Schritt genommen. Und doch ist er Teil einer unwirklichen Geschichte. 2010 begann der Pensionär in der virtuellen Welt von Second Life Filme zu erstellen. Die einzigen Erfahrungen in diese Richtung hatte der damals 82-jährige Hobbymaler vorher durch Urlaubsfilme gesammelt. Die Geschichten seiner inzwischen Dutzenden Second-Life-Filme sind sichtlich von Groschenheften inspiriert. Die Figuren seiner Krimis, Western, Science Fiction-, Horror- und Abenteuergeschichten wurden anfangs sämtlich von ihm selbst in breitem Dialekt eingesprochen. Optik, Dialoge und Plots sind naiv, plakativ und grenzen ans Surreale - wenn sie sich nicht schon meilenweit in diesem Feld befinden.

Gezeigt wurden die Filme erst nur der Familie, dann bei immer mehr Zulauf findenden Veranstaltungen im "Leerzeichen" in Aachen, einem Kulturtreff unterhalb der Wohnräume des Filmemachers. Die zunehmenden lokale Popularität ermöglichte es ihm, auf eine größere Bandbreite an Sprechern zurückzugreifen. Einige Filme fanden im Laufe der Zeit ihren Weg zu Off-Festivals wie den außerordentlichen Filmkongressen des Hofbauer-Kommandos oder "Besonders Wertlos" - Das Festival des deutschen psychotronischen Films, und schließlich auch zum Internationalen Filmfestival Rotterdam. Auf DVD oder gängigen Streamingportalen gibt es die Filme freilich nicht. Die aus Selbstzweck entstanden Werke waren nicht für die Masse gedacht, die Musikrechte sind aus Kostengründen nie geklärt worden. In "Der Irrtum" wird nun auf GEMA-freie Musik zurückgegriffen, weshalb er großflächig greifbar ist. (Auf dem Youtube-Kanal von Bruno Sukrows Sohn Robert finden sich zusätzlich noch Kurzfilme und der halbstündige "Heißer Sand".)

"Der Irrtum" erzählt eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund eines Mafiabandenkriegs und ist dabei so schicksalsträchtig wie ein Orakelspruch aus Delphi. Maria (gesprochen von Caroline Breiter) erschießt nachts einen Wegelagerer. Dieser gehört zur Mafia und seine Familie beantwortet den Mord mit einer Warnung/Kriegserklärung an die "Chinesen", die sie schuldig wähnt. Nach der eröffnenden Autobombe lernt die unbeteiligte Auslöserin des Ganzen Roberto (Robert Sukrow) kennen, den Bombenleger. Beide verlieben sich, aber Lebensstil und Job Robertos vertragen sich nicht mit Marias Moralvorstellungen. Während der Liebesfilm langsam die Animositäten zwischen den beiden auflöst, stellt sich der Krieg, durch den sie sich überhaupt erst kennenlernten, wieder zwischen sie.

Der große Bogen des Plots ist durchaus gekonnt. Auch wenn oder gerade weil seine Wendungen improvisiert wirken und wie zufällig erwachsen. Oder anders gesagt: Der achtbare Bogen entsteht aus Behelfsmäßigem und völlig Obskurem. Der Wegelagerer möchte beispielsweise neben seinem Job als Geldeintreiber etwas dazuverdienen, indem er sich nachts im Nirgendwo Autos in den Weg stellt und 50 Euro Wegegeld verlangt. Oder: In einer Unterhaltung verteidigt Marias Mutter Roberto, der seinen Job verheimlicht. Sie habe auch ein Geheimnis vor Marias Vater. Sie ist nämlich zehn Jahre älter als er. Das hat zuweilen etwas von der Absurdität Helge Schneiders, nur geht "Der Irrtum" das herausgekehrte Bewusstsein für die eigene Merkwürdigkeit völlig ab. Der heilige Ernst, mit dem noch das Ungelenkeste geschieht, und das Fehlen einer ironischen Distanz machen aus der Groteske tatsächlich etwas Beseeltes.

Die Grafik ist künstlich und wenig detailliert. Die Ausstattung sehr spärlich, da jede Figur und jeder Gegenstand gekauft werden muss. Die Figuren bewegen sich hölzern. Wenn sie gehen, zieht sich der Boden unnatürlich unter ihnen hinweg oder sie kommen nicht von der Stelle. "Kameraschwenks" führen wiederholt dazu, dass der räumliche Zusammenhalt von Vorder- und Hintergrund aus den Fugen gerät. Und auch wenn die Handlung Schlag auf Schlag erfolgt und sich auf das Nötigste beschränkt ist - was auch immer das in Bezug auf diesen eigenwilligen Film heißt -, so ist das Tempo doch gemächlich. Es ist aber nicht so, dass Sukrow-Filme trotz ihrer Unvollkommenheit lebhaft sind. Vielmehr sind sie es gerade durch sie. Sie sind "Happy Mistakes".

Neu an "Der Irrtum" ist - soweit ich das beurteilen kann, da ich persönlich nur "Saturnus" (2011) und "Martins Feuer" (2013) aus erster Hand kenne -, dass Realfilminterludes zwischen den Szenen auftauchen. Oft handelt es sich um poetische Kontrapunkte, welche die Hektik noch einmal ein Stück mehr vertreiben. Hier Bienen, die sich durch eine pollenreiche Blüte arbeiten, dort Palmenzweige, die im Winde wehen. Einmal spielt ein realer Pianist mit dem Rücken zum Publikum in einem Bilderrahmen aus der Second Life-Realität. Kitschige Flächen zur Kontemplation schieben sich zwischen die harte, deftige Realität, in der die Leute ohne inneres Korrektiv so reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, wo Mafiosi ganz selbstverständlich "Schlitzaugen" sagen oder wo ein Vater seiner Tochter mitteilt, dass dieser unsympathische Mann in der Bar ganz sicher nicht allein nach Hause gehen wird, "weil es eben so ist". Die bizarre Direktheit verstärkt noch das Entrückte des Films.

Am spannendsten sind die Einbrüche des Fotorealismus, wenn sie sichtlich als Establishing Shots gedacht sind, die zeigen, wie die Handlungsorte "wirklich aussehen" müssten. Oder es werden Fotos als Tapete eingesetzt, vor denen sich die Figuren bewegen. Die "Wirklichkeit" wertet die Optik des übrigen Films allerdings gerade nicht auf, sondern wirkt, eingeschoben in die expressive Farbenpracht und Simplizität des Second Life, selbst überladen und schnulzig. Ein flüssiger Übergang zwischen den beiden Realitätsebenen gelingt schon gleich gar nicht. Die Brüchigkeit der Sukrow-Ästhetik wird potenziert. Etwas so Mangelhaftes wie unsere Realität wird von "Der Irrtum" ohne Heimweh überwunden und meilenweit hinter sich gelassen.

Robert Wagner

Der Irrtum - Deutschland 2020 - Regie: Bruno Sukrow - Laufzeit: 42 Minuten. Der Film findet sich auf Youtube.