Im Kino

Alleinstellungsmerkmale und kleine Schönheiten

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
17.02.2021. In ihrem Debütfilm "You Deserve a Lover" interessiert sich Hafsia Herzi ausschließlich für das Liebesleben ihrer Heldin. Dabei lässt sie komplexe soziale Situationen nur über Gesichter und Blicke nachfühlbar werden. Adam Curtis versucht mit seinem Found-Footage-Film "Can't Get You Out of My Head" eine Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen.


Sie habe sogar aufgehört zu essen, sagt Lila einmal. So fest hat der Liebeskummer sie im Griff. Lila kann an nichts denken außer an Rémi, der sie verlassen hat. Oder sie ihn. Oder vielleicht haben sie nur eine Beziehungspause eingelegt. Oder vielleicht ist die Pause schon wieder zu Ende? Jedenfalls ist Rémi erst einmal vorsorglich für drei Wochen nach Bolivien geflogen. Wo er allein in einem Hotelzimmer brütet. Außer wenn er gerade auf Datingportalen unterwegs ist. Oder ist er bereits wieder zurück? Die Dinge sind im Fluss, aber das ist kaum ein Trost. Der Alltag hat sich für Lila in eine Serie emotionaler Schocks verwandelt.

Zumindest solange, bis sie bemerkt: es gibt noch andere Männer. Die meisten wollen nur mit ihr ins Bett, aber das ist ja schon einmal ein Anfang. Einer flirtet sie mutig im Park an und hat interessante Ohren. Ein anderer wird von einer Freundin als "typischer Mittelklassekokser" beschrieben, aber dass er ihr Rosen kauft, gefällt Lila. Nur einmal gerät sie an einen Fotografie-Nerd, der sich nicht für sie interessiert, sondern stattdessen ellenlang Spezialwissen über Brennweiten und Belichtungsmesser vor ihr ausbreitet. Weil so etwas in der Welt dieses Films nicht vorgesehen ist, bricht Lila daraufhin in ein nicht bösartiges, sondern fröhlich perlendes Lachen aus.

Regisseurin Hafsia Herzi wurde 2007 durch ihre Hauptrolle in Abdellatif Kechiches "Le gain et le mulet" über Nacht zum Star und stand danach unter anderem auch für Érick Zonca, Bertrand Bonello und Caroline Link vor der Kamera. Jetzt hat sie zum ersten Mal einen eigenen Film gedreht (und geschrieben und produziert), und zwar einen, der sich mit erstaunlicher und bewundernswerter Hartnäckigkeit weigert, sich für irgendetwas anderes zu interessieren, als für das Liebesleben seiner von ihr selbst verkörperten Hauptfigur.



Soll heißen: Lilas Umgebung ist kein soziales Milieu, sondern lediglich ein Resonanzraum für ihre beschädigte Innerlichkeit. Ihr bester Freund Ali (super: Djanis Bouzyani) und auch ihre weiteren Bekannten sind ausschließlich dafür da, Lila zu trösten und über den Halunken Rémi herzuziehen. Andere Männer (und einmal eine Frau) sind für den Film genau so lange interessant, wie Lila sich auf ihre Avancen einlässt. Am nächsten Morgen dürfen sie ihr vielleicht noch einen sehnsüchtigen Abschiedsblick nachwerfen, danach verschwinden sie spurlos aus dem Film. Aber auch von Lila selbst erfahren wir nichts, was nicht unmittelbar mit ihrem Liebeskummer und dessen Bewältigung zu tun hat.

Eben deshalb stellt sich auch gar nicht erst die Frage der Identität oder Nichtidentität von Hauptfigur und Regisseurin. "You Deserve a Lover" ist keineswegs ein autobiografisches Intimstück. Sex ist Dauerthema, aber eben auch nur: Thema. Wenn es zur Sache geht, folgt meist recht schnell ein Schnitt. Wenn der Akt doch einmal in seiner ganzen, tja, Kürze präsentiert wird, dann nur, damit Lila hinterher ein weiteres Mal in ihr wundervolles Lachen ausbrechen kann. Die Kamera wiederum ist zwar fast durchweg nah, sehr nah an den Figuren, an Gesichtern vor allem, ganze Szenen bestehen praktisch ausschließlich aus Großaufnahmen. Aber anders als etwa in diversen Mumblecorefilmen wirkt das nie aufdringlich und hektisch. Im Gegenteil: Sowohl die Kamera als auch die Gesichter fühlen sich in diesem wechselseitigen Nahverhältnis sichtlich wohl. Hafzi gelingt es immer wieder, etwa in einer grandios beobachteten Hangout-Szene auf einem Balkon, selbst komplexe soziale Situationen nur über Gesichter, Blicke und in diesem Fall einen twerkenden Hintern nachfühlbar werden zu lassen.

Überhaupt gibt es im Film, wiewohl er einen emotionalen Ausnahmezustand ins Bild setzt, eine angenehme Grundentspanntheit, die, im Verbund mit der hautnahen Kameraarbeit und der Sexfixiertheit, gelegentlich an Kechiche erinnert, aber auch an das energetisch ganz anders gelagerte Kino von Mia Hansen-Løve. Eben weil das Thema von Anfang an feststeht und über den Film hinweg kaum dramaturgisch variiert wird, öffnen sich in jeder einzelnen Szene Freiräume, verbale und gestische Spielräume, und sei es nur, wenn einem plötzlich auffällt, wie elegant der Typ mit den Ohren Gemüse schneidet. Der sexuelle Blick ist ein differentieller, er hat keinen Bedarf für psychologische und diskursive Verallgemeinerungen, sondern sucht nach Alleinstellungsmerkmalen und kleinen Schönheiten.

Lukas Foerster

You Deserve a Lover - Frankreich 2019 - OT: Tu mérites un amour - Regie: Hafsia Herzi - Darsteller: u.a. Hafsia Herzi, Djanis Bouzyani, Jérémie Laheurte, Anthony Bajon, Sylvie Verheyde, Karim Ait M'Hand, Myriam Djeljeli - Laufzeit: 102 Minuten. "You Deserve a Lover" auf Mubi.

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Den Schwindel (Doppeldeutigkeit erwünscht), den Adam Curtis in seinen Arbeiten erzeugt, kennt man. Man begegnet ihm jeden Tag in der sogenannten modernen Welt. Eine seltsame Welt, nennt Curtis diese auch in seiner neuesten, sechsteiligen Arbeit "Can't Get You Out Of My Head", die vergangene Woche auf BBC Premiere feierte und sich seither wie all seine Filme und Serien im Internet verbreitet.

Doch damit nicht genug mit den Parallelen zu früheren Found-Footage-Feuerwerken des Mannes, der aus dem BBC-Archiv, Filmclips, Youtubevideos und Musik eine jüngere Weltgeschichte filtern möchte. Wer etwa seinen "HyperNormalisation" oder "The Power of Nightmares" gesehen hat, findet sich schnell zurecht in den an einen endlosen Domino-Day erinnernden Verknüpfungen, die immer weiter und weiter in das führen, was Curtis letztlich nur als das wahrnehmen kann, was er selbst kreiert: eine Kette von Ideen, die getragen von Individuen oder Kollektiven von einer Krise in die nächste schlittern. Und auch: eine Welt, die es so eigentlich gar nicht gibt…aber, aber, aber.

Dieses Mal hat Curtis sich, so wirkt es, gar nicht eingeschränkt. In seinem siebenstündigen, emotionalen Geschichtsunterricht des 20. Jahrhunderts schlägt er virtuose Bögen zwischen den mächtigen Ländern der Erde (Großbritannien?), als gäbe es keine Grenzen und schon gar keine anderen Länder. Anhand einiger durchaus mit Sympathie betrachteter Persönlichkeiten (Jiang Qing, Michael de Freitas, Julia Grant, Edward Limonov, Tupac u.a.) erzählt Curtis von allerhand Ismen, vor allem dem Kampf zwischen Individualismus und Kollektivismus. Dabei verwebt er verschiedene Subplots, um sie letztlich im widersprüchlichen Bild der heutigen Welt einzufrieren. Eine Welt, in der sich laut Curtis Realität und Phantasie problematisch verkehrt haben.

Er zeichnet eine Origin-Story von Verschwörungstheorien und weitere Ansätze technokratischer, nationalistischer oder kommunistischer Prägung, die versucht haben, Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Anekdoten fügen sich zu erstaunlich und verdächtig simplen Kausalketten und irgendwann taucht ein alter Computerbildschirm und/oder ein experimentierender Psychologe in der Geschichte auf und dann, aber dann, ja dann? Ein verführerischer Sog entsteht, aus den rhetorischen Floskeln, die das eine Bild (manche wiederkehrend) mit dem anderen verbinden (and then, and then, and then…but, but, but…there was one man, one mistake, one decisive change…). Das alles funktioniert so, dass man sich "Can't Get You Out Of My Head" am liebsten alleine ansieht, weil man glaubt, endlich die Antwort auf all die Zweifel zu finden, denen man in den öffentlichen Diskursen begegnet. Eine Art intellektuelle Anleitung, die vorgibt etwas zu verstehen, was sonst niemand versteht.



Letztlich gibt es aber vor allem um Ideen und daraus resultierende Entwicklungen bei Curtis. Menschen handeln scheinbar wie ferngesteuert und nicht, weil sie Hunger haben oder überleben müssen. Es gibt Paralyse, Angst, Paranoia, Gier, aber es gibt keine existenziellen Notwendigkeiten und schon gar keine affirmativen Gefühle. Der Film selbst ist mehr ein Symptom als die versprochene Heilung, die er mit uninspirierten Allgemeinplätzen über einen möglichen gesellschaftlichen Wandel verspricht. Dass man sich traut, am Ende von sieben Stunden festzuhalten, dass die Pandemie (Covid) womöglich zu gesellschaftlichen Veränderungen führt, ist beinahe frech, wäre es nicht so bezeichnend für eine Hilflosigkeit, die letztlich nur nach Aufmerksamkeit schreit. Die andere Schlussfolgerung ist vorsichtiger Marxismus: der Mensch sei womöglich stärker als all diese Systeme, die zuvor durchgehend als stärker als die Menschen gezeigt wurden.

Ein bisschen fühlt sich das alles an wie eine verlorene Nacht zwischen Twitter und Wikipedia, und die Leere, die sich nach dem Sehen einstellt, kennt man ebenfalls von der verlorenen Zeit im Internet. Unfassbare, von der Geschichte fast schon vergessene Bilder hat man trotzdem gesehen. Nur stellt sich schnell ein tristes Rauschen ein, weil man nach wenigen Episoden ahnt, dass hier nicht die Erkenntnis erscheint, die die unkende Erzählstimme beständig ankündigt. Das Problem ist durchaus moralisch: Der assoziative, durch Zeit und Raum springende, an W. G. Sebald erinnernde Vertigo-Gestus gibt (im Gegensatz zu Sebald) beständig vor, dass er etwas weiß. Aber wo Sebald einen Abgrund beschreibt, um etwas in ihm zu erkennen, beschreibt Curtis eine Erkenntnis, die er nur als Abgrund sehen kann. Curtis gibt vor, die verlorene Zeit gefunden zu haben, Sebald lebt in ihr. Sebald sucht nach der Wahrheit, Curtis nach einem Effekt.



Mehr als der neue Sebald ist Curtis gewissermaßen der Slavoj Žižek des filmischen Essays. Nur, dass man dem Superstarphilosophen damit nicht gerecht wird. Der Vergleich drängt sich dennoch auf, weil sich beide Herren in der Interpretation jener Ereignisse üben, die gerade auf Twitter "trenden": QAnon, Trump, Brexit, Google, Social Media, Alexej Nawalny, Biden, Überwachung, China, Putin und so weiter. Žižek variiert dabei lustvoll seine Lacan- und Marx-Rhetorik während Curtis sich ebenfalls an Marx orientiert und darüber hinaus an den billigsten Manipulationstricks der Aufmerksamkeitsindustrie.

Dass es bereits ein Trinkspiel im Internet gibt, bei dem man sich mit Flüssigkeit versorgen muss, wann immer bei Curtis Musik von Burial, Clint Mansell oder Trent Reznor zu hören ist, mag wie ein weiteres Symptom dieser Zeit anmuten, zeigt aber letztlich nur wie parodistisch sein Stil letztlich anmutet. Das wäre an sich nicht schlimm, doch durch den durchgehenden Einsatz von bedrohlicher oder ironischer Musik verändert Curtis das, was die Bilder tatsächlich zeigen.

Hier herrscht eine äußerst problematische Beziehung zwischen Bildern und Wirklichkeit und Curtis versucht seine Zuschauer zu manipulieren, genau das in den Bildern zu sehen, was er möchte. Ein Kuleschow-Effekt par excellence, nur dass es einen moralischen Unterschied ausmacht, ob man Bilder einer tatsächlichen Exekution zeigt oder eine warme, fiktionale Suppe. Ein britischer Kritiker brachte es unlängst auf den Punkt, als er bemerkte, dass Curtis argumentiert wie ein Philosoph, aber dabei so tut, als wäre er ein Historiker. Eine ungute Mischung!

So schnell wie hier hat man noch nie einen Mann wahllos auf Sarajevo schießen sehen, bevor man mit einer Drag-Queen beim Psychiater in Südengland landet. D.W. Griffith hat den Ku-Klux-Klan erfunden, die Roten Garden waren Teil des persönlichen Rachefeldzugs einer gescheiterten Schauspielerin, Geld und Algorithmen regieren die Welt, Valium für die Massen! Derart spielt Curtis mit genau jenen Erwartungen und Ängsten, die er vorgibt zu durchschauen. Sein Film bietet keine Lösungen an und man erfährt nicht wirklich von den politischen und ökonomischen Machenschaften, denen man die ganze Zeit über folgt. Aber man hat wieder ein bisschen Zeit verloren und die alberne Doomsday Clock wird sich sicher nochmal um eine Sekunde näher in Richtung 12 Uhr bewegen, wenn sie diesen Film sieht.

Patrick Holzapfel

Can't Get You Out of My Head - GB 2021 - Regie: Adam Curtis - Laufzeit: 480 Minuten. "Can't Get You Out of My Head" auf BBC.