Im Kino

Monochrome Augenweide

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Jochen Werner
06.09.2019. Zhang Yimous elegantes Schlachtengemälde "Shadow" zeigt den chinesischen Filmregisseur auf der Höhe seiner Kunst der radikalen Farbdramaturgie: diesmal in tausend Schattierungen von Grau. Asif Kapadias Dokumentarfilm über den Fußballer Diego Maradona ist die Geschichte eines atemberaubenden Aufstiegs und Falls auf einer äußerst holprigen Straße.




In der Zeit der Drei Reiche, im dritten Jahrhundert n.Chr., war China in drei konkurrierende Königreiche zerfallen, von denen keines stark genug war, die beiden Rivalen zu erobern. Schauplatz des neuen Films von Zhang Yimou ist das Königreich Pei, Movens der zahllosen Intrigen seines Plots ist der Verlust der ursprünglich dem Hause Pei zugehörigen Stadt Jingzhou an das Königreich Yang, dessen Herrscher - der legendenumwobene, unbesiegte Kampfkünstler Yang Cang - die Kontrolle über Jingzhou im Duell gegen den Pei-Feldherrn Ziyu gewann. "Shadow" beginnt mit der Rückkehr Ziyus, der Yang ohne Auftrag des Königshauses zu einem weiteren Duell um die Zukunft der Stadt aufgefordert hat - was einer Kriegserklärung gleichkommt. Der König von Pei ist wütend über diesen Alleingang und bietet Yangs Sohn, um den kostbaren Frieden zu retten, seine Schwester Qingping als Ehefrau an. Das Gegenangebot des bereits anderweitig versprochenen Thronfolgers, die Prinzessin stattdessen als Konkubine zu nehmen, wird im Hause Pei eher missmutig entgegengenommen.
 
Die Dinge liegen noch weit komplizierter, als diese Einführung in den Plot erahnen lässt, handelt es sich doch bei dem vermeintlichen Feldherrn Ziyu um einen sogenannten "Schatten" - ein zum Verwechseln ähnliches Double, von Ziyus Vater bereits im Kindesalter aufgenommen und im Geheimen aufgezogen, um in lebensbedrohlichen Zeiten die Rolle des Sohnes einnehmen zu können. Der wahre Ziyu hingegen, von einer schweren Verwundung aus dem Duell mit Yang bis an den Rande des Todes mitgenommen, haust in einem höhlenartigen Verlies unter dem Königshaus, wo er Jing, seinen "Schatten", mit allen Mitteln auf seine Rolle in diesem höchst verwickelten Intrigenspiel vorbereitet. Die einzige Eingeweihte, Ziyus Ehefrau, entwickelt allmählich amouröse Gefühle für das Double ihres Gatten…
 


Nach einer Reihe eher mäßiger bis enttäuschender Filme knüpft der einst dissidente, inzwischen mitunter geradezu staatstragende chinesische Regisseur Zhang Yimou mit "Shadow" an seine beiden großen, hochstilisierten Kampfkunstfilme "Hero" und "House of Flying Daggers" an - inhaltlich wie qualitativ. Insbesondere die radikale Farbdramaturgie, die bereits im eigentlich dramaturgischen Zentrum von "Hero" stand, kommt angesichts des nahezu monochromen, aber visuell nicht weniger überwältigenden "Shadow" in Erinnerung.
 
Dabei handelt es sich hier vorrangig um einen Actionfilm oder ein Schlachtengemälde. Im Herzen von "Shadow" steht eine ungemein wuchtige, so brutale wie elegante Actionsequenz - oder eher mehrere, ineinander verschlungene Sequenzen. Zu diesem Zeitpunkt ist allerdings bereits über eine Stunde vergangen, die Zhang darin investiert, die komplexen persönlichen wie diplomatischen Beziehungen zwischen den Figuren und den politischen Kräften, die sie vertreten, sorgfältig zu zeichnen. Das zahlt sich aus, da es sowohl in dieser langen Sequenz, die wie ein Gewitterschlag in das dauerverregnete Szenario des Films hineinbricht, als auch in der darauffolgenden Coda spürbar um vieles, um alles geht.




Die Welt von "Shadow" ist Grau in Grau in Grau, sie wirkt monolithisch, als wäre sie am Stück aus einem gigantischen, grauglitzernden, granitenen Felsen herausgeschlagen worden. Die Nuancen dieses Grau sind mannigfaltig, und ebenso die Schattierungen in der Charakterzeichnung der Protagonisten. Man sieht den König Pei einmal bei einer kalligraphischen Übung, und auch dies überhöht Zhang zum Stilprinzip für "Shadow": Manches darin wirkt wie mit dickem, aber gleichwohl filigranem Pinsel in dieses ewige Grau-in-Grau hineingewischt. Irgendwann platzt es dann auf, das Grau, und dickflüssiges, sehr rotes Blut strömt heraus.
 
"Shadow" ist ein Film, der sich Zeit nimmt, aber nur soviel Zeit, wie er eben braucht, um das, was er erzählt, so zu erzählen, dass es etwas bedeutet. Dass etwas auf dem Spiel steht. Und die Welt, in der er spielt, diese monochrome Augenweide, die man eigentlich nach dem Kinobesuch nicht mehr verlassen will, diese Welt, die einen dazu veranlasst, sich zu fragen, wozu eigentlich all diese anderen Farben im Kino notwendig sind, wenn doch allein das Grau schon in so unzähligen Facetten schillern kann, leuchten kann, wie es vielleicht seit den Tagen Marcel Carnés und seines poetischen Realismus nicht mehr geleuchtet hat; diese Welt, die auf der Kinoleinwand sichtbar wird, ist die eigentliche Attraktion von "Shadow". Es ist eine Welt, wie man sie so noch nie zuvor gesehen hat.
 
Jochen Werner

Shadow - China 2018 - OT: Ying - Regie: Zhang Yimou - Darsteller: Deng Chao, Sun Li, Ryan Zheng, Wang Qianyuan - Laufzeit: 116 Minuten.
 
"Shadow" ist derzeit beim Fantasy Filmfest 2019 in sieben deutschen Städten zu sehen.

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"Anyone else here after watching the Diego Maradona film? What a tune!", steht in einem Kommentar auf Youtube unter dem Musikvideo "Delorean Dynamite" von Todd Terje. Ein anderer User schreibt ähnliches: "Diego Maradona brought me here :)". Um ein elektronisches Tanzstück handelt es sich dabei, schneller dichter futuristischer Discosound mit pulsierenden Basslines. Diese Musik holt uns ab, wir werden mit dem Auto - Hügel hinauf, Hügel hinunter - ins Stadion von Neapel gefahren. Es ist 5. Juli 1984, die Menge tobt, der Liebespegel ist galaktisch, sie rufen "Diego!". Gerade hat SSC Napoli, die ewigen Absteiger, die höchste Ablösesumme in der Geschichte des Fußballs für Diego Maradona gezahlt - der teuerste Spieler für die ärmste Stadt Europas. Nach seiner Zeit in Barcelona wünsche er sich Ruhe und Respekt, sagt Maradona im Interview, eng umzingelt von Mikrofonen und Kameras.
 
So beginnt die fast ausschließlich aus Archivmaterial bestehende biografische Dokumentation über den viel geliebten und viel gehassten Fußballer und Trickster. Er wurde in einem Armenviertel von Buenos Aires geboren und schon früh von Talentscouts entdeckt. Mit fünfzehn Jahren ist Maradona der Ernährer der Familie, mit Mitte Zwanzig Hoffnungsträger und Erlöser der ganzen Nation. "Diego Maradona" ist die Geschichte eines atemberaubenden Aufstiegs und Falls, gewiss, nur ist der Weg nach oben wie nach unten keine glatt gepflasterte Straße. An seiner Biografie interessiert den Regisseur Asif Kapadia vor allem das Wiederholungsmuster aus Höhen und Tiefen, der Starrsinn, die Getriebenheit, das Vermögen, nach einem Fall immer weiterzumachen.
 


Es heißt, die Zeit in Neapel sei der Kern Maradonas Biografie. Die Parallele zwischen der Stadt und seinem Star ist zentral, da die Geschichten der beiden eine Zeit lang zutiefst miteinander verschränkt waren. Auch wussten die beiden zu gut, wie sich Benachteiligung und verletzter Stolz anfühlen. Als "Ungewaschene" wurden die Neapelfans bei Auswärtsspielen von den Fans anderer Mannschaften beschimpft: "Ciao colerosi", "Hallo Cholerakranke". Mit dem Arbeiterkind aus Buenos Aires begann der gemeinsame Aufstieg, die Neapolitaner konnte sich zum ersten Mal gegen die finanziell starken Vereine wie Juventus oder Inter behaupten. Die Strahlkraft dieser Siege muss man sich erst einmal vor Augen führen: In dem immer noch bestehenden inneritalienischen Konflikt zwischen dem reichen Norden und dem armen, von Kriminalität geprägten Süden brachten sie nichts Geringeres als "soziale Befreiung" mit sich.

Allerdings gehört ein Star niemals nur sich selbst, alle wollen ein Stück von ihm. Ein Star kann nicht einfach einkaufen oder ins Kino gehen. Stattdessen feiert er nach Sonntagsspielen in privaten Clubs, wo er in Autos mit getönten Scheiben hintransportiert wird. Dort bleibt er bis Mittwoch, umschwärmt von Prostituierten, trinkt viel, berauscht sich mit Drogen. Warum, möchte man fragen, hat ihm denn damals niemand "Stopp" gesagt? Als im Jahr 1990 Argentinien im Halbfinale der Weltmeisterschaft mit Beteiligung Maradonas gegen das Gastland Italien gewinnt, schlägt die Liebe in Hass um. Die bisher stillschweigend akzeptierten Fauxpas - seine Verbindungen zur Camorra, die Drogensucht, die Verleugnung des in einer außerehelichen Affäre geborenen Sohnes - nimmt man ihm fortan übel. "Man warf ihm vor, reich geworden zu sein, exzessive geschmacklose Feste zu feiern im Stil reicher Leute. Jemand aus armen Verhältnissen darf sich das nicht erlauben", kommentiert in Bourdieu-Manier Italo Cucci, Chefredakteur der lokalen Sportzeitung, in einer Fernsehsendung aus der damaligen Zeit.



Eine beeindruckende Leistung muss es gewesen sein, die disparaten Aufnahmen in einen zwingend und smooth anmutenden Bilder- und Erzählfluss zu formen. Das gelingt dem Filmeditor Chris King, der schon Kapadias "Senna" (2010) und "Amy" (2015) geschnitten hat, hervorragend. Dank der erstaunlichen Materialfülle ist die Filmtextur dicht und das Tempo dynamisch und mitreißend. Maradona ist viel auf dem Spielfeld, überwiegend jedoch im privaten Rahmen zu sehen. Wir erleben hautnah die euphorisch in der Umkleidekabine feiernde Mannschaft, werden teilhaftig an der Verlegenheit des jungen Fußballers, als er von einem Reporter auf den protzigen Pelzmantel angesprochen wird. Auch sehr schön: Maradona im knappen orangenen Badeslip, joggend, der Kamera zuzwinkernd. Die Schweißperlen und seine wechselnden Ohrringe glitzern in Close-up. Zudem entfalten die Bilder in verschiedenen Stufen ihrer Grobkörnigkeit diese für viele Found-Footage-Filme typische Anziehungskraft, diese typische dahinschmelzende Wärme.

Ruhm sei ihm damals wichtiger als Geld gewesen, lautet die Selbstauskunft der Fußballlegende aus dem Off. Vom hohen Preis und fatalen Folgen dieses Ruhms für jemanden, der nicht darauf vorbereitet war, handelt "Diego Maradona" wie damals schon die mit einem Oscar ausgezeichnete filmische Biografie von Amy Winehouse. Kapadia und King legen ihre Lesart plastisch nahe, versuchen zu verstehen, was ihre Figur umgetrieben hat. Sie stellen Verbindungen her - zwischen Milieubruch und Schuldgefühlen auf der einen Seite und Neigung zu zweifelhaften Gönnern und Drogensucht auf der anderen. Zwischen selbstauferlegtem Druck und Verdrängungsarbeit, der berühmten Lüge von der "Hand Gottes". Diese Deutung muss man nicht teilen, nachvollziehbar bleibt sie auf jeden Fall. "Diego Maradona" geht es nicht ums Partei-Ergreifen und sympathisch-Finden, sondern um Wertschätzung einer leidenschaftlichen Hingabe ans eigene Metier. Ein Film von großer Intensität ist er allemal, und das Tollste ist: "Diego Maradona" kann sogar die größten Skeptikerinnen für Fußball begeistern.

Olga Baruk

Diego Maradona - GB 2019 - Regie: Asif Kapadia - Laufzeit: 130 Minuten.