Im Kino

Monströse Extraktoren

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Nikolaus Perneczky
11.07.2019. Zweimal geht es um Superhelden. Spiderman kann in paradoxaler Akteurialität zwar Berge versetzen, sieht sich aber immer wieder Handlungszwängen unterworfen, die unter anderem der Disney-Marvel-Dramaturgie geschuldet sind. Und die Menschheit hat sich zwar einen gewissen Fortschritt erarbeitet, muss sich aber einiger unbequemer Fragen Nikolaus Geyrhalters erwehren.
Tom Holland in der neuesten Spider-Man-Episode. Foto: Sony Pictures.

Peter Parker (Tom Holland) kommt noch nicht ganz klar. Nicht mit der Doppelrolle als High School Student und Spider-Man. Nicht mit dem Tod von Iron Man, der in "Avengers: Endgame" den Weg aller großen Helden gegangen ist. Nicht mit der Pubertät, nicht mit seinen Gefühlen, nicht mit der chronischen Arbeitsbelastung. Und auch nicht mit dem Prinzip "With great power comes great responsibility", das den Vorgängern in der langen Serie der Adaptionen von Spider-Man beinahe ad nauseam in Erinnerung gebracht wurde. (Vielleicht war Tobey Mcguire auch deshalb bereit, nach drei Filmen auszusteigen, weil er sich das nicht noch ein viertes Mal anhören wollte.)
 
Das Projekt, das diesmal mit der "great responsibility" in Konflikt gerät, ist eine Studienreise von Parkers High School-Klasse nach Europa, das heißt: nach Venedig, London, Paris. Oder auch: Venedig, Prag, und später: Venedig, Prag, Berlin, London. Den Entwicklungen der Intrige entsprechend wird die Reiseroute im Verlauf des Films ein paar Mal neu angepasst, was unter anderem dazu führt, dass neben den Stadtkulissen zwischendurch ein paar sehr schöne Aufnahmen von Serpentinstraßen zu sehen sind.
 
Parker will die Studienreise. Unbedingt. Nicht wegen Venedig, Paris, London et cetera oder wegen der Serpentinstraßen, sondern weil Parkers Love Interest (Zeraya) mit auf Studienreise geht und es bereits vor der Abreise ein Skript gibt, in dem der Eiffelturm, die Aussichtsplattform, eine Halskette und eine Liebeserklärung zu einem fixen Wunschszenario verknüpft sind. Der Rest des Films handelt davon, wie dieses Skript fortlaufend torpediert wird, um sich irgendwann, vor anderer Kulisse, nach einem anderen Verlauf, doch noch zu realisieren; wie eine Reise, die eigentlich als Flucht geplant war, geradewegs zurück in die Routinen führt; wie ein wichtiges Objekt erst in die völlig falschen und dann wieder in die richtigen Hände gerät; und wie das ganze Gerangel um Skripte, Routen, Rollen, Objekte am Ende nichts als ein Umweg gewesen sein wird, after the fact, wenn der Topos des fliegenden Helden in den Straßenschluchten von Manhatten wieder konsolidiert ist.
 
Die paradoxale Akteurialität des Superhelden ist ein Thema des Films. Great Power, zweifellos (gerettet, unter anderen: ein Glockenturm, ein Riesenrad, die Tower Bridge; die Welt bei allernächster Gelegenheit). Zugleich aber: minimaler Handlungsspielraum, nicht nur, weil mit der großen Macht die große Verpflichtung auf Dauer gestellt wird, sondern weil nach dem Einsatz immer schon vor dem Einsatz hieß und Marvel und das MCU, dem Spider-Man seit "Homecoming" (2017) angehört, nach Spielregeln funktionieren, die vorsehen, dass die Helden immer der nächsten Aufgabe entgegen reisen, egal, wo sie selbst hinwollen, und auch egal, was sie sich zu Paris vielleicht so gedacht haben. Parker macht da keine Ausnahme; "Far From Home" ist der Film, in dem er das endlich lernt; und wenn er dafür mit einer Datenbrille belohnt wird, bedeutet das nicht unbedingt, dass im Universum der Avengers ein neues Zeitalter angebrochen wäre.
 
Das andere Thema sind die Fake News. Genauer: Die Fake News sind diesmal das Böse, das es zu bekämpfen gilt, das aber nicht so einfach bekämpft werden kann, was darauf hinweist, dass es im nächsten Film wahrscheinlich wieder auftritt. Hier, zwischen Venedig, Prag, Berlin et cetera hat der Fake, der böse ist, einen Support mit dem Gesicht Jake Gyllenhaals, was insofern kein Spoiler ist, als Gyllenhaal seit dem Film "Night Crawler" (2014) immer wieder Figuren spielt, denen am besten gar nichts anvertraut werden sollte, vor allem nicht, wenn es mit Medien zu tun hat, was auf eine Datenbrille doch irgendwie zutrifft. Indes: Auch das Böse ist eine Macht, die sich an wechselnde Körper und Akteure bindet. Der Antagonist mit dem Gesicht von Gyllenhaal ist ein Akteur auf Zeit, während die Fake News bleiben und sich als anpassungsfähig erweisen, sofern es mit dem ersten Support nicht klappt und die Gestalt, in der sie zunächst ausgetestet werden, wieder in Luft aufgelöst werden kann.
 
In "Spider-Man: Far From Home" ist diese Gestalt die längste Zeit die der dunklen Wolke, gerne in Schwefelfarben, gerne mit Gesicht, die scheinbar aus dem Nichts kommt, um sich im Folgenden zu verdichten und zu vergrößern. Mit den dunklen Wolken manifestieren sich die Retter, die ebenfalls fake sind und, weil fake, ganz auf die Wolken, die Medien, das Spektakel angewiesen. Ungefähr so hat man sich das vorzustellen nach der Sichtung des Films, der diese Einsicht mit der Pauschaltour einer Schulklasse verbindet, was, wie so viele Ideen innerhalb des MCU, nicht ohne Charme ist.

Stefanie Diekmann

Spider-Man: Far From Home - USA 2019 - Regie: Jon Watts - Darsteller: Tom Holland, Samuel L. Jackson, Jake Gyllenhaal, Marisa Tomei, Jon Favreau, Zendaya - Laufzeit: 129 Minuten.

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Film Still aus "Erde". Foto: geyrhalterfilm.com/

Der Titel von Nikolaus Geyrhalters neuem Dokumentarfilm verweist auf die Metonymie von Erdreich und Erdkugel: Die Landschaften, die in "Earth" umgegraben, ausgehöhlt und durchsiebt werden, stehen für die Welt im Ganzen. Eine Schrifteinblendung erläutert, dass wir Menschen heute der mit Abstand größte Faktor für den geologischen Wandel sind. Unser Einwirken auf die Erdkruste verursacht ein Vielfaches der Veränderungen, die von natürlicher Erosion ausgehen. Auch wenn der Film das Wort an keiner Stelle in den Mund nimmt: Es geht ums "Anthropozän".

"Earth" spannt einen weiten geografischen Bogen: von der Landgewinnung für den Bau suburbaner Exklaven in Kalifornien zur Eisenbahntunnelbohrung an der österreichisch-italienischen Grenze, vom Kohletagbau in Ungarn zum italienischen Marmorsteinbruch und einer Kupfermine in Spanien. Der Film ist modular gebaut, seine Episoden folgen alle demselben Verlauf. Am Anfang eines jeden Segments steht eine Luftaufnahme aus der Vogelperspektive, die die Umformung der Natur durch Menschen und Maschinen gleichsam kartografisch erfasst, als in die Erdoberfläche eingeschriebene geometrische Muster. Es folgen Aufnahmen - etwas näher jetzt, aber immer noch auf Sicherheitsabstand - von Baggern, Bohrköpfen und monströsen Extraktoren, die sich in die Erde fräsen. Dann der menschliche Faktor: Arbeiter und technisches Personal, eingeführt in frontalen Porträtaufnahmen, später bei der Arbeit. Sie sollen Auskunft geben über ihre Beweggründe, und nachdenken über das, was sie da anrichten. Geyrhalter stellt ihnen rhetorische Fragen: "Are there limits?" "Are we a good species?"

Auf die Frage nach den Grenzen menschlichen Handelns antwortet der amerikanische Vorarbeiter auf gut Amerikanisch: "Es gibt nur die Grenzen, die man sich selbst setzt." Er führt einen erwartbar apologetischen Diskurs, wie europäische Kollegen auch. Diese offerieren mal mehr, mal weniger überlegte Spielarten von "schon schlimm, aber". Die Menschheit muss behaust und mit Konsumgütern ausgestattet werden, wenn sie nicht ins Höhlenzeitalter zurückfallen will. Das Profitmotiv will es so. Irgendwer muss es ja machen. Und so weiter. Manch eine ist stolz darauf, von Berufs wegen Berge zu versetzen. Viele sind ergriffen von der Erhabenheit des unberührten (im katholischen Italien: "jungfräulichen") Erdinneren. Ein ungarischer Grubenarbeiter widerspricht den Schwärmern. Er gibt zu Protokoll, keine besondere Beziehung zu den urzeitlichen Sumpfbäumen zu haben, deren fossilisierte Überreste er birgt.

Film Still aus "Erde. Foto: geyrhalterfilm.com



Es ist unklar, was Geyrhalter sich von diesen Gesprächen erhofft. Ganz kann ich mich des Eindrucks nicht entledigen, dass die Männer und Frauen, die hier nicht zuletzt ihren Lebensunterhalt verteidigen, vorgeführt werden; komme ich nicht umhin, mir das wohlige Gruseln des vermutlich liberalen Publikums vorzustellen, wenn der hemdsärmelige kalifornische Vorarbeiter - wahrscheinlich auch noch ein Trump-Wähler! - sagt: "Sometimes you have to move some things around to get a job done." Aber was soll er sonst sagen?

Vielleicht irre ich mich, und die Anrede des Films ist (wie in manchen von Geyrhalters früheren Filmen) eher ethnografisch/anthropologisch gedacht: allseitig interessiert, beobachtend, wertfrei. "Earth" wäre dann ein Film über das Selbstverständnis der ausführenden Organe des Anthropozäns, vielleicht in der Absicht, unser eigenes Unvermögen, der Katastrophe ins Auge zu blicken, zurückzuspiegeln. Die Fragen, die Geyrhalter seinen Gesprächspartnern stellt, sprechen eher dagegen. Zwar mischen sich unter die Arbeiter und Angestellten noch andere Stimmen, die eines Historikers und einer Museumsführerin zum Beispiel.

Aber auch sie sind Geyrhalters rhetorischen Fragen untertan, autorisieren die Thesen, die der Filmemacher ihnen in den Mund legt. Manche der Dinge, die Geyrhalters Gegenüber aufsagen, zum Beispiel die Rede vom kalifornischen Bevölkerungswachstum, das ständige Expansion und Landgewinnung notwendig mache, sind unwahr, bleiben aber unwidersprochen. Tatsächlich ist der Bevölkerungszuwachs Kaliforniens derzeit niedriger als je zuvor (seit der Aufzeichnung relevanter Daten), aber das malthusische Schreckensszenario vom unaufhaltsamen Wachstum, einmal ausgemalt, passt besser ins Bild.

"Earth" sammelt Umschichtungen, Bohrungen, Ausgrabungen überall in der westlichen Welt. Über weite Strecken ist das additiv und redundant. Viel kommt nicht dabei herum. In den letzten beiden Episoden versucht der Film dann doch noch etwas anderes, führt kleine Regelverstöße ein, die den geologischen Fingerabdruck der Menschheit anders perspektivieren und politisieren. Am Anfang des Films stand der antagonistische Naturbegriff eines kalifornischen Baggerfahrers, der das Verhältnis von Mensch und Umwelt als Kampf ("fight") bestimmte. Das letzte Wort hat der harmonische Naturbegriff kanadischer Native Americans im Kampf gegen den Abbau der Athabasca-Ölsande nördlich und südlich von Fort McKay, auf Land, das früher ihnen gehörte.

Davor geht es nach Deutschland, wo wir einem offensichtlich selbst krisenhaften Versuch des Krisenmanagements beiwohnen. In der Atommüllendlagerstätte im aufgelassenen Salzbergwerk von Wolfenbüttel erlaubt sich Geyrhalter einen intertextuellen Witz. Ziemlich toll, wie er einfach so einen Projektor und eine Leinwand ins Bild stellt, darauf zu sehen der Lehrfilm "Sicherheit durch Tieflagerung" aus dem Jahr 1979. Das technische Personal, das heute für die Sicherung und eventuelle "Rückholung" des untragbar gewordenen Gefahrenmaterials zuständig ist, guckt zu. Die väterliche Autorität und ungetrübte Zuversicht des Lehrfilms, sowie das krasse Missverhältnis zur katastrophalen Wirklichkeit, lassen an den Genreklassiker "Duck and Cover" denken. Heute wissen wir es natürlich besser, und planen absolut sicher voraus. "Da können die verschiedensten Veränderungen kommen", räsoniert ein Krisenmanager, "in einer Million Jahren."

Nikolaus Perneczky

Erde - Österreich 2019 - Regie: Nikolaus Geyrhalter - Laufzeit: 115 Minuten.