Im Kino

Potpourri der Gemeinheiten

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Patrick Holzapfel
15.05.2019. Sion Sonos "Antiporno" untersucht Machtverhältnisse in einem absolut irrealisierten Raum. Und Hafsteinn Gunnar Sigurðsson gräbt in "Under the tree" nach den psychologischen Motiven für einen Nachbarstreit, der eskaliert.


Die erste Einstellung, in der ein Polizeiwagen mit Sirene vor dem Präsidium hält, ist kurz und recht unspektakulär. Entscheidend ist sie für den Film nicht, weil aus ihr etwas folgen würde, oder weil sie sich zum Beispiel am Ende als Teil einer Rahmung offenbaren würde, sondern gerade deshalb, weil sie mit dem Rest des Films augenscheinlich nichts zu tun hat; weil sie lediglich zu dessen Räumen ein Außen markiert, das es im Folgenden nicht mehr geben wird. Nach dem Schnitt gleitet die Kamera durch einen in gleißend-gelbes Licht getauchten Raum, durch den unscharf schimärenhaft eine Frau zu einer Arie tanzt, im Hintergrund bricht sich Sonnenlicht in Ventilatoren, im Vordergrund lösen sich die Flammen von Kerzen in gewaltigen Lens-Flares auf. Die Brechung von Lichtstrahlen als basales Element des Kinos führt zu einer absoluten Irrealisierung des Raumes. Eben dieser Zersetzungsprozess gibt den Ton des Films vor.
 
Die Räume, spartanisch eingerichtet und in knalligem Rot und Gelb gestrichen, sind von einer Künstlichkeit, die die Idee, dass hier tatsächlich Menschen leben könnten oder es wirklich die Sonne ist, die durch die Fenster und die Ventilatoren scheint, von vornherein absurd erscheinen lässt. Das Overacting - nicht nur aber insbesondere der Hauptdarstellerin - tut ein Übriges, um dem Film jeglichen Realismus auszutreiben. Durch die Räume bewegt sich quirlig aufgekratzt die junge Kyoko (Ami Tomite), nur mit einem Slip bekleidet, vom Bett zum Klo. Am Klavier sitzt, von ihr und dem Film gleichermaßen geflissentlich ignoriert, ihre Schwester. In einer Flasche eine Eidechse. Ein Beamer wirft einen Film an die Wand, in dem es ein junges Paar im verschneiten Wald miteinander treibt, eine Referenz an die Roman(tic) Pornos, jene Sexfilme, auf die das große und traditionsreiche Studio Nikkatsu, bereits 1912 gegründet, ab den Siebzigern seine gesamte Produktion umstellte, und die es nun durch einige renommierte Regisseure wiederbeleben lässt. Sion Sono steuert mit "Antiporno" den vierten Film zur neuen Reihe bei.
 
Kyokos Sekretärin, Noriko (Mariko Tsutsui), kommt zu Besuch und muss bald eine Reihe immer drastischerer Erniedrigungen über sich ergehen lassen: zur Hündin degradiert, lässt sich die Herrin von ihr die Füße lecken, jagt sie mit Gürtelhieben durch die Wohnung. Als es an der Tür klingelt und Kyokos Freundinnen, bizarr aufgemotzte Kunst-Hipster, hinzukommen, werden die Grausamkeiten potenziert. Nach einem abrupten Schnitt, fast zur Hälfte des Films, erweist sich nicht nur das bisher Gezeigte als Inszenierung an einem Filmset, sondern es verschieben sich auch die bisher klar abgesteckten Machtverhältnisse: aus der Tyrannin wird die Gebeutelte. Von Noriko gibt es Ohrfeigen und der Regisseur untermauert seine Anweisungen mit Schlägen per Clipboard. Ihr Vergehen besteht darin, dass sie vorgab Prostituierte zu sein, während sie eigentlich noch Jungfrau ist. In Umkehrung alter Keuschheitsgebote ist es im Porno-Patriarchat nicht die Enthaltsamkeit, sondern die ständige sexuelle Verfügbarkeit, die die Frau zur kostbareren Ware macht.
 


Der Twist an sich läuft nicht auf einen bloßen Wechsel in einer andere und als solche nunmehr stabile Realitätsebene hinaus, vielmehr löst sich die Narration auf in ein Labyrinth der Wiederholungen und Variationen von Szenen, Konstellationen und Motiven, aus dem es für den Zuschauer ebensowenig einen Ausweg gibt wie für die Protagonistin. Ein Handlungsstrang führt zur Familie Kyokos, wo sich auch beim Abendessen die Gespräche um Sex drehen, genauer: um den der Eltern und seine Beobachtung durch die Tochter. Aber an eine psychoanalytische Urszene, von der aus sich die Figur oder ihr Schicksal erklären ließe, glaubt Sono sicherlich nicht. Das eilig und spontan im verschneiten Wald herbeigeführte erste Mal ist nur eine weitere Verschiebung der narrativen Ebenen und also visuelle Wiederholung.
 
Feministische Diskurse werden der Hauptfigur weniger in den Mund gelegt, als dass sie sie herausschreit, aber eine Emanzipationsgeschichte ist in der hermetischen Welt des Films nicht zu haben. Mag ihr Aufbegehren auch nirgendwo hinführen, die Affekte der Figur, ihre Verzweiflung und ihre Wut sind wahrscheinlich das einzige, was "echt" ist in diesem Film und damit irgendeinen Halt bietet. Dabei geht es auch um die Kraft des Kinos als Affektmaschine; in einer Welt, die vom unentwegten Bruch mit der Realitätserzeugung lebt, in der die vierte Wand genauso durchlässig ist wie alles andere und es schon mal in Innenräumen anfangen kann zu schneien, können wir doch noch mit einer Figur leiden, die in einer Rolle gefangen ist, die ihr das Medium selbst aufzwingt; ein Medium, das sie dafür einmal explizit zum Teufel wünscht.
 
Das alles ist durchaus genauso anstrengend, wie es sich anhört. Aber zugleich ist die Art, wie hier perfekt durchgestylten Oberflächen und der Bruch als beständiges Kompositionsprinzip so wenig zueinander finden wie die Eidechse in der letzten Einstellung aus der Flasche, sonderbar faszinierend.

Nicolai Bühnemann

Antiporno - Japan 2016 - OT: Anchiporuno - Regie: Sion Sono - Darsteller: Ami Tomite, Mariko Tsutsui, Fujiko, Sayaka Korani, Tomo Uchino - Laufzeit: 76 Minuten.

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Je klarer und polierter die Symmetrien einer Gesellschaft erscheinen, desto heftiger wirken die Risse in ihr. Je unterkühlter das Auftreten, desto stärker eskalieren die darunterliegenden Emotionen. Diese Prinzipien, die man etwa aus den Filmen Michael Hanekes oder Ruben Östlunds kennt, kommen auch in "Under the Tree" von Hafsteinn Gunnar Sigurðsson zu tragen. In diesem bitterbösen Film über einen Ehe- und Nachbarschaftskrieg folgt ohnedies vieles nur allzu geschmeidig den Rezepten des menschenkritischen Autorenfilms: Bläuliche, farbreduzierte Bilder, langsame Kamerafahrten, ein subtil bedrohlicher Score, viele Glasfassaden und eine seltsame Stille am Essenstisch.
 
Dabei wirft der isländische Filmemacher, dessen "Der andere Weg" als Vorlage für David Gordon Greens recht erfolgreichen amerikanischen "Prince Avalanche" diente, eigentlich einen ungewöhnlich gefühlsbetonten Untersatz in die unterkühlte Atmosphäre. Erzählt wird zum einen vom Streit zwischen Nachbarn, der von einem riesigen, im Film symbolisch inszenierten Baum ausgelöst wird, weil dieser einen großen Schatten auf das benachbarte Haus wirft. Zum anderen befindet sich der Sohn der einen Familie in einem heftigen Ehe- und Sorgerechtsstreit, nachdem ihn seine Frau erwischt, wie er sich ein Sexvideo von sich selbst mit einer Freundin ansieht und dazu masturbiert.
 


Der Baum, an dem die Kamera wiederholt bedeutungsschwanger entlangschwenkt, löst eine Kette von Grausamkeiten und Missverständnissen aus. Ausgestopfte Hunde, über die Hecke geworfene Hundekacke und das süffisante Grinsen über das Unglück der Anderen addieren sich zu einem unterhaltsamen Potpourri der Gemeinheiten. Im Fall der scheiternden Beziehung geht es auch um eine kleine Tochter und den Versuch des Vaters, dieser nahe zu sein. Einmal taucht er bei einem Nachbarschaftstreffen auf, obwohl er gar nicht mehr im Gebäude lebt. Seine Frau stellt ihn bloß, erzählt vor der versammelten Gruppe, was er ihr angetan hat.
 
Ja, die Fremdscham ist ein wichtiges Element im Film genau wie die absurden und farceartigen Situationen, die präzise vor sich hin brodeln. Dazwischen aber möchte der Film ein wenig tiefer gehen, seinen Protagonisten ungeahnte Wärme entgegenbringen, was ihm eigentlich an Sprengkraft nimmt. Denn statt die bürgerlichen Unsicherheiten und Sicherheiten zur Explosion zu bringen, steuert Sigurðsson seine Narration in zwischendurch beinahe versöhnliches Fahrwasser. So gibt es ein verständnisvolles Gespräch über Sexvideos zwischen Vater und Sohn, die bösartige Mutter handelt eigentlich nur so, weil ihr Sohn sich umgebracht hat und überhaupt lässt sich jedes Verhalten psychologisch erklären. Darunter leidet das mögliche gesellschaftskritische Potenzial des Films. Die Offenlegung dient weniger einer gewonnen Erkenntnis über das Menschsein, als den individuellen Extremen, denen man immer ein wenig fremd bleibt.
 
Dennoch führt der Film am Ende mit Hilfe des titelgebenden Baums in den blanken Horror und Irrsinn samt finalem Twist. Darüber kann man weder weinen noch lachen, weil man weder Distanz noch Nähe aufbauen kann. Stattdessen verliert man sich irgendwo dazwischen, was auch Reize hat, aber trotz der betonten Konsequenz nicht konsequent wirkt. Die komplette Auslöschung der Konflikte durch Katastrophen, Gewalttaten und Deus Ex Machina wirkt letztlich nur wie ein dramaturgischer, überdies hektisch vorgetragener Ausweg aus dem Film und nicht wie ein tragischer oder gerechter Moment.

Patrick Holzapfel

Under the Tree - Island 2017 - OT: Undir trénu - Regie: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson - Darsteller: Steinþór Hróar Steinþórsson, Edda Björgvinsdóttir, Sigurður Sigurjónsson, Þorsteinn Bachmann, Selma Björnsdóttir - Laufzeit: 89 Minuten.