Im Kino

Planetarische Ambitionen

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Nikolaus Perneczky
10.04.2019. Ali Abassis "Border" über eine Grenzschützerin mit ungewöhnlichem Geruchssinn lässt Genresignale irrlichtern und nie gesehene Geschlechtsteile blumengleich aufblühen. Claus Wischmann und Martin Baer versuchen in ihrem "Illegalen Film" über den Fotografen Kurt Caviezel die Graubereiche des Urheberrechts auszuloten und versinken dabei in ihrem Material.


Die Zollbeamtin Tina ist ausgesprochen hässlich. Von plumper Gestalt und gedrungenem Wuchs, ähnelt sie mit ihrem Wulst über den Augen einem Neanderthaler. (Darstellerin Eva Melander trägt eine Körper- und Gesichtsmaske.) Tina ist in dem Glauben aufgewachsen, ihr Aussehen sei auf eine seltene Chromosomenstörung zurückzuführen. Aber was hat es mit ihren anderen Besonderheiten für eine Bewandtnis? Woher stammt die Narbe über ihrem Steißbein? Warum ist ihre Wahrnehmung ein permanenter Ausnahmezustand, hört sie das Grollen der Erde und das Summen der Luft? Auch ihr Geruchssinn ist übernatürlich ausgeprägt. Das kommt ihrem Beruf zugute: Die grobe, unwillkürlich zuckende Nase kann Schmuggelware schon von Weitem erschnüffeln. Auch Emotionen und sogar Gesinnungen - Angst, Scham, Boshaftigkeit - hinterlassen in Tinas Welt olfaktorische Spuren.

Eines Tages tritt dieser ungewöhnlich ausgestatteten Grenzschützerin im Untersuchungsraum ein Mann gegenüber, der ihr nicht nur physiognomisch erstaunlich ähnelt, sondern überdies ihre Nase auf Hochtouren bringt, und das, obwohl er keine illegalen Gegenstände mit sich führt. In seinem Gepäck findet sich ein Insektenbrutkasten, und an seinem Körper - zur Verlegenheit von Tinas Kollegen, der die Durchsuchung vornimmt - weibliche Geschlechtsorgane. Diese Begegnung ist der Beginn einer Selbstfindung, in deren Verlauf nicht nur chromosomale Merkmale, sondern auch Genresignale durcheinander geraten. In den realistischen Grundton mischen sich fantastische Motive - angereichert noch mit einer Ahnung von Scandi noir, wenn Tinas Nase sie der Stockholmer Polizei empfiehlt, die in Sachen eines Pädophilenrings ermittelt. "Border", der zweite Spielfilm des schwedischen Regisseurs Ali Abassi, hält diese Elemente eine Weile smart in Schwebe, dann wird die Sache ohne viel Aufhebens beim Namen genannt - wie am Ende überhaupt alles restlos ausbuchstabiert sein wird. Da sitzen Abassi und sein Drehbuchautor John Ajvide Lindqvist ("Let the Right One In") einem Missverständnis auf: als ob im Genrekino letztlich jedes Töpfchen sein Deckelchen finden müsse.



Asger Jorn, der ehemalige Situationist und spätere Gründer des Skandinavischen Instituts für Vergleichenden Vandalismus, hat einmal gesagt, dass die nordischen Länder unter den sogenannten zivilisierten Nationen immer noch die wildesten seien. "Border" leidet an der Zivilisation und setzt ihr nordische Wildheit entgegen, Abassis Vandalismus aber ist nicht vergleichend, sondern eindimensional: Sein Stachel richtet sich gleich gegen die ganze Menschheit. In einem Interview bezeichnet er sein Programm als "Nordic take on magical realism". Einen Seitenhieb gegen das IKEA-Kleinbürgertum ausgenommen, erzählt "Border" jedoch erstaunlich wenig über die schwedische Gegenwart. An nationaler Geschichte und ihren Traumata, wie sie den magischen Realismus lateinamerikanischer Herkunft bestimmen, hat der Film wenig Interesse. Seine allegorische Ambition ist universell, planetarisch. Die Grenze verläuft zwischen Mensch und Natur, Moralität und Naturrecht, mit der Grenzbeamtin Tina als Vermittlungsfigur. Kann sein, dass Abassi ein magischer Realismus für das Zeitalter der globalen Umweltkatastrophe vorschwebte, aber die Rechnung geht nicht auf: Die Zivilisationsmüdigkeit des Films ist selbst ermüdend.

"Border" überhebt sich an seiner Zeitkritik, dafür gelingt ihm ein anderer Zaubertrick. Tinas Hässlichkeit - und später die ihres love interest - macht Staunen. Sie unterzieht den realistischen Rahmen einer Belastungsprobe, ohne ihn zu sprengen. Ich weiß, dass es sich um einen Maskeneffekt handelt, aber ich glaube diesem Gesicht. Tina existiert in unserer Welt und wir urteilen über sie als eine von uns - aus Gewohnheit und aus Mangel an alternativen Maßstäben. Dann fügt der Film eine weitere Setzung hinzu, ändert die Regeln seiner Welt, und was erst unverkennbar und unmissverständlich "Hässlichkeit" bedeutete, nimmt nach und nach andere, eigene Züge an. So schafft "Border" einen veränderten Kontext, in dem wir Tina noch einmal neu begegnen dürfen. (Zentral für diesen Vorgang ist eine Sexszene, in der nie gesehene Geschlechtsteile blumengleich aufblühen.) Ein bisschen kitschig geht es dabei insgesamt schon zu, aber es ist berückender, transformativer Kitsch - eine Neuverteilung von Schönheit im Feld des Sichtbaren, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann.

Nikolaus Perneczky

Border - Schweden 2018 - OT: Gräns - Regie: Ali Abbasi - Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, Sten Ljunggren, Ann Petrén - Laufzeit: 110 Minuten.

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Die Arbeiten des Schweizer Fotografen Kurt Caviezel entstehen ohne Kamera. Zumindest fast. Denn seine Kameras stehen mitunter viele Tausend Kilometer weit weg - und "seine" sind sie bestenfalls auch nur in einem sehr weitgefassten Sinn. Caviezel macht Fotos aus den Bewegtbildern öffentlicher Webcams. Er fotografiert per Screenshot. Drei Millionen Bilder hat er so über die Jahre archiviert, über zehntausend Kamera-Bookmarks lassen ihn auf die entlegensten Winkel der Welt zugreifen. Die Gegenstände seiner Arbeiten reichen von der Landschaftsfotografie über Architektur und Makroaufnahmen von Insekten bis hin zur Pornografie. Sich selbst betrachtet Caviezel dabei als Kurator, denn schließlich besteht ein Hauptteil seiner Arbeit darin, aus Bestehendem auszuwählen, es neu anzuordnen und in andere Sinnzusammenhänge zu stellen.

Die sich dabei unweigerlich aufdrängende Frage nach der Urheberschaft seiner Bilder macht ihn - obwohl erst spät zu sehen - zur Schlüsselfigur in Martin Baers und Claus Wischmanns Essayfilm "Der illegale Film". Denn wem gehören die Bilder Caviezels? Stellt der Vorgang, einen 24-Stunden-Webcam-Strom per Bildschirmfoto auf ein einziges Standbild zu kondensieren, bereits eine neue Autorschaft her? Welches Recht an ihrem Bild haben die nackten Menschen der Porno-Ich-AGs, die auf Caviezels Bildern plötzlich weltverlassen scheinen wie die Figuren eines Edward-Hopper-Gemäldes? All das ist schließlich einmal unbeschränkt verfügbar gewesen. Aber beschädigt nicht strenggenommen schon der Vorgang, den ephemeren Fluss des Videos im Foto einzufrieren, die Persönlichkeitsrechte derer, die sich da ursprünglich mit ihren eigenen Mitteln ausstellten?

Kurt Caviezel selbst spricht von einer Grauzone des Copyrights, die er für seine Kunst ausnutze. Gemeint ist eine Grauzone, die sich mit der Allverfügbarkeit digitaler Bildprodukte zwar enorm ausgeweitet hat, an bestimmten Punkten aber doch in scharf umrissene Weiß- und noch wesentlich mehr Schwarzbereiche übergeht. Das weiß auch Baers und Wischmanns Film, der das Wort "illegal" durchaus als Selbstbezichtigung im Titel trägt. Denn er besteht seinerseits ebenfalls zum größten Teil aus "found footage", also den zusammengeklaubten und effektvoll neu verrührten Bildern Anderer.



Man sieht viel von der grauslichen Werbefilmästhetik der 80er- und 90er-Jahre. Aus dem Schlitz in der Stirn einer Frau gleitet ein Polaroid. Das berühmte Fuji-Baby kommt im australischen Werbespot von 1994 direkt mit einer Kamera zur Welt und fotografiert die verblüfften Eltern. Der Abspann des Films listet pflichtschuldig hunderte Quellen auf. Nur bei den Produkten aus dem Hause Disney, die in einem Kapitel zur Erinnerungsfunktion der Bilder hätten erscheinen sollen, mussten die Filmemacher passen: Disney-Filme liegen im Tiefschwarzbereich des Copyrights. Für ihre ungenehmigte Verwendung drohen empfindliche Strafen. In "Der illegale Film" erscheinen sie dennoch - verfremdet zu Schattenrissen ihrer selbst.

Baer und Wischmann geben sich gerne - leider: allzu gerne - an das Dauerfeuer jener Bilder verloren, deren Wirkung und rechtliche Verzwicktheit sie eigentlich analysieren wollen. Über weite Strecken scheint ihr Film sich wie von selbst abzuspielen, unkommentiert blubbernd im fremden Saft aus Reklame, YouTube-Schnipseln und Hollywood-Splittern. Theorie- und Literaturklassiker von Roland Barthes bis Susan Sontag, von Baudelaire bis John Berger sollen den Kitt besorgen, wenn sie über Reproduzierbarkeit, Fetischcharakter und Gespenstisches der im Bild gefangenen Welt nachdenken. Doch das Gesagte bleibt in der Regel an der Oberfläche der Bilder und Texte hängen, eine medientheoretisch so naheliegende Frage wie jene nach den ontologischen Unterschieden der jeweiligen Bildarten (analog / digital, Fotografie / Film) und was sie für die Leitfrage "Wem gehört ein Bild?" bedeuten, wird gar nicht erst gestellt.

So bleibt letztlich vor allem Martin Baers Tochter haften, die der Film zwischenzeitlich beim Ausprobieren ihrer ersten Fotokamera begleitet. Beim Versuch, den abendroten Himmel zu fotografieren, wird sie bitter enttäuscht. Der Himmel im Bild ist "ein ganz normaler Himmel". Das Rosa des Himmels, fürchtet sie, wird mit dem missratenen Foto auch aus ihrer Erinnerung verblassen. Sie löscht es lieber gleich.

Janis El-Bira

Der illegale Film - Deutschland 2016 - Regie: Claus Wischmann, Martin Baer - Laufzeit: 88 Minuten.