Im Kino

Wie mit Erdbeermarmelade

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
06.09.2018. Filme über Künstler, Filme über Königinnen, Filme über die Eroberung von Amerikas Westen. Im Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele in Venedig fällt als erstes auf, wie viele Geschichten sich mit der Vergangenheit befassen. Nicht alle sind so blutleer wie Florian Henckel von Donnersmarcks  neuester Film "Werk ohne Autor".
Filme über Künstler, Filme über Königinnen, Filme über die Eroberung von Amerikas Westen. Im Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele fällt als erstes auf, wie viele Geschichten sich mit der Vergangenheit befassen. Und wie wenige in unserer Alltags-Gegenwart. Und wenn es doch einmal um die Gegenwart geht, dann bleibt diese Gegenwart erstaunlich blass, wie in David Oelhoffens Banlieue-Thriller "Frères Ennemis". Vielleicht ist es nur Zufall. Und manchmal sagen Geschichten aus der Vergangenheit auch mehr über unsere Zeit als Gegenwartsfilme. Aber es überwiegt generell dieses Jahr der Eindruck von viel handwerklicher Gediegenheit. Und von ein bisschen wenig Leben da draußen.

Dann laufen gleich drei Künstlerfilme in Folge - wer weiß, ob es ein Zufall der Programmierung oder kluger Kniff der Kuratoren war? Julian Schnabel, selbst bildender Künstler, hat 22 Jahre nach "Basquiat" und 18 Jahre nach "Before Night Falls", noch einen Künstlerfilm gemacht, in "At Eternity's Gate" erzählt er die letzten Jahre des Vincent van Gogh. Der Schauspieler und Regisseur Brady Corbet, selbst ehemaliger Kinderstar, erzählt in "Vox Lux" Aufstieg und Erwachsenwerden und vielleicht Fall eines Teeny-Popstars. Zu beiden Produktionen gleich mehr.

Aber zunächst zu "Werk ohne Autor". Anders als bei Schnabel und Corbet ist bei Henckel von Donnersmarck biografisch wenig erkennbar, was ihn mit dem Maler Gerhard Richter verbindet, dessen Geschichte er erzählt. Und daraus, wie er die Geschichte erzählt, wird es leider auch nicht schlüssiger.

Szene aus "Werk ohne Autor"



Dieses ganze Drama - Henckel orientiert sich an der Richter-Biografie von Jürgen Schreiber - könnte tatsächlich eine große Filmerzählung sein: Ein Drama, indem historische Verwicklung gegen künstlerische Autonomie steht. Aber es wird keine große Erzählung daraus, weil niemals durchschimmert, was denn der persönliche Zugang des Drehbuchautors und Regisseurs zu diesem Drama um eine Person ist. Außer eben, dass es eine geile Vorlage ist, die alles enthält, was der Weltkinomarkt gerne vom deutschen Kino nimmt (und was auch schon im Fall von Henckels Abschlussfilm "Das Leben der Anderen" für einen Welterfolg gesorgt hat). Man muss daran erinnern, wie es dann mit Florian Henckel von Donnersmarck weiterging: Der Regisseur gewann den Auslandsoscar, ihm wurden in Hollywood alle Türen geöffnet. Dort scheiterte er aber 2010 mit dem in der Kritik durchgefallenen und an der Kinokasse eher mittelprächtig gelaufenen "The Tourist", obwohl ihm die Superstars Angelina Jolie und Johnny Depp zur Verfügung standen.

Florian Henckel von Donnersmarck ist also ein Mann, der allen Grund hätte, eine tiefe Reflexion über seine Identität als Künstler anzustellen. Leute, die ihn näher kennen, erzählen aber, das sei seine Sache eher nicht.

Vielleicht liegt es daran, dass der ganze Film so echt und wahr geworden ist wie eine Styroportorte im Konditorei-Schaufenster. Dass die Dialoge so papieren knistern, jeder Satz ein vollständiger und ordnungsgemäßer deutscher Satz, der ordentlich zu Ende gebracht wird. Da spricht die 23-jährige lebenslustige Tante zum Fünfjährigen: "Manchmal hilft es, die Dinge genau zu benennen". Da benennt der Fünfjährige dann die Dinge genau: "Das ältere Ehepaar, das sich immer bei den Händen gehalten hat, als seien sie Kinder". Es ist bekannt, dass im Donnersmarckschen Haushalt Kinder vorhanden sind. Aber es fällt uns selbst dort schwer vorzustellen, dass Erwachsene so mit Kindern reden, wie sie das in den Drehbüchern des Herrn Vater tun.

Es ist zudem im ganzen Film kein Tropfen Körperflüssigkeit zu sehen (Anlässe gäbe es genug). Gut, mit Ausnahme einer kleinen Verletzung auf der Stirn der schönen Tante, die aber auch eher wie mit Erdbeermarmelade dekoriert aussieht.

"Werk ohne Autor" wird trotz all dieser Einwände seinen Weg machen und sein Publikum finden, weil ein solches Bestätigungskino seine Routinen kennt. Und Florian Henckel von Donnersmarck wird weitere Filme machen. Wenn er dann anfängt, einmal das Publikum teilhaben zu lassen, an dem, was er über sein Tun denkt. Dann ist nicht einmal ausgeschlossen, dass es interessant wird.

Julian Schnabels van-Gogh-Film mit Willem Dafoe in der Rolle des Künstlers wird hingegen umso persönlicher, je länger er dauert. Er behandelt die dramatischen und depressiven letzten Jahre im Leben des Künstlers. Und es ist beileibe nicht der erste Film, der das tut. Anfangs droht die Geschichte noch gefährlich in Richtung jener Art Künstlermystifizierung abzubiegen, für die der US-Arthouse-Kinomarkt eine große Schwäche hat. Dann aber konzentriert sich Schnabel zunehmend auf das Thema der Subjektivität in Weltsicht und Kunst.

Willem Dafoe in "At Eternity's Gate"



Und er gibt den Anspruch, ein akkurat erzähltes Biopic zu fertigen, freihändig auf zugunsten von mehr und mehr Reflexion. Und zugunsten von einem menschlichen Blick auf seine Figur, der jede Gelegenheit auslässt, das unglückliche Schicksal des Helden erzählerisch oder auf der Bildebene auszubeuten. Van Gogh verbringt seine letzten Monate in Auvers-sur-Oise nördlich von Paris. Wir wissen schon, dass er sich das Ohr abgeschnitten hat, und Schnabel macht aber überhaupt kein maskentechnisches oder anderes Aufhebens um dieses fehlende Ohr. Wir sehen Dafoe einfach nur noch im Halbprofil und wenn es von hinten mal kurz aufblitzt, auch egal. Ist ja nur ein Film.

Und dann schaffte uns der dritte Künstlerfilm doch noch mal zurück in unsere gegenwärtige Wirklichkeit. "Vox Lux" also, das hochkarätig besetzte (Natalie Portman, Jude Law, Stacy Martin und als Sprecher schon wieder Willem Dafoe) Porträt des fiktiven Popstars Celeste, ist stellenweise geschnitten wie ein Musikvideo der Nullerjahre und nennt sich denn auch stolz im Untertitel "A 21st Century Portrait". Es beginnt mit einem Columbine-High-School-artigen Massaker im Jahr 1999 und endet mit einem terroristischen Anschlag von Angreifern, die Pop-Masken tragen und dreht sich doch mehr um private Dramen, mörderische Öffentlichkeit und das das ganze Pathos des Nichts-Sagens, mit dem heutzutage Pop verkauft wird. Dass ist jetzt nicht so eine bahnbrechende Erkenntnis, dass das Popgeschäft ein wenig oberflächlich ist. Doch all das aus der Perspektive des Stars zu verfolgen, so direkt und unentrinnbar, das entfaltet schon einen gewissen Sog.

Das geling umso mehr dem britischen Regisseur Paul Greengrass ("United 93", "The Bourne Ultimatum", "Jason Bourne") in dem Film "22 July", den er für Netflix gedreht hat. Der Film betreibt eine akkurate Rekonstruktion der Anschläge von Oslo und Utoya im Jahr 2011 und des Prozesses gegen den Attentäter Anders Breivik. Gleichzeitig ist es eine universale Geschichte darüber, was Terrorismus mit den Opfern macht. Greengrass erzählt nämlich sehr genau die Geschichte von Viljar und seiner Familie, eines Jungen, der das Attentat mit einer Kugel im Kopf knapp überlebt und sich ins Leben zurückkämpft. Es gibt selten zeitgeschichtliche Spielfilme, die gleichzeitig so präzise und hochemotional sind. Beides scheint einander sonst doch eher auszuschließen. Die Schwäche von "22 July" liegt darin, dass der Film teilweise die Selbstinszenierung des Attentäters fortführt und der Struktur seiner Ideologisierung und Radikalisierung zu wenig Gewicht gibt. Denn da draußen, auch bei uns, wachsen viele Anders Breiviks heran, die zumindest ähnliche Ideen im Kopf haben.

Szene aus "22 July"



Letzte Erkenntnis aus Venedig: Welche Macht und welchen Einfluss inzwischen Netflix hat, gerade wenn es um festivaltaugliche Produktionen geht. Der Streaming-Anbieter hat in den letzten zwei Jahren deutlich mehr Filme produziert, als alle großen Hollywood-Studios. Man kann ihn als Lieferant und Finanzier komplexer Filmstoffe nicht mehr ignorieren (das macht die Festivalleitung in Venedig mit ihrer Umarmungsstrategie richtig). Aber gleichzeitig schält sich heraus, dass die Erschließung der Geldquelle Netflix durch Produzenten und Filmemacher auch zu einer gewissen Eindimensionalität führt - Netflix weiß schwierige Stoffe und politisch kontroverse Themen zwar durchaus zu schätzen. In der Form scheinen die Kalifornier aber weniger zu wagen: Nicht zu viel Experimente. Die Rettung in dieser Hinsicht muss also anderswoher kommen.

Lutz Meier