Im Kino

Niemand geht mehr ans Telefon

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Karsten Munt
05.09.2018. Der kalifornische Neo-Noir "Gemini" von Aaron Katz erscheint in Deutschland nur auf DVD - schade, allein das Blau des Films hätte die große Leinwand verdient. In Albert Hughes' "Alpha" erleben ein Junge und ein Wolf einen evolutionären Überschneidungsmoment.


Aaron Katz' "Gemini" fängt an mit Palmen, die von oben nach unten in den Himmel und ins Bild wachsen, zarte, schwarze Umrisse im fahlen Nachtpastelblau. Dazu ein elektronischer Klangteppich, der etwas Federndes, Wattiertes an sich hat. Wie als würde die Welt elastisch werden. Alles aus Gummi. Der zunächst kopfstehende Blick kippt langsam, während die Musik melodischer wird und in eine Art Lounge-Jazz übergeht, in die alltägliche, aufrechte Perspektive, die Baumwipfel zeigen wieder in die gewohnte Richtung, unter ihnen kommt ein Straßenzug zum Vorschein, immer noch alles blauschwarz schimmernd, nur im Vordergrund ein rot leuchtendes Auto. Der Farbklecks, der die Erzählung in Gang setzt.

Im Auto sitzt, das Gesicht vom Smartphone beschienen, Jill LeBeau (Lola Kirke), persönliche Assistentin der Schauspielerin Heather Anderson (Zoë Kravitz, das Highlight des Casts, ihr Spiel ist von einer scheinbar mühelosen und deshalb fast unsichtbaren Brillanz). Jills Pony ist nicht komplett gerade geschnitten, Mitten auf der Stirn eine kleine Unebenheit, Signum einer harmlosen, spätpubertären Quirkyness. Das setzt sich in ihrer Intonation fort, in jenem dezenten, in Amerika unter jungen Menschen weitverbreiteten tonlosen Krächzen, das im Englischen den schönen Namen "vocal fry" trägt (auf deutsch, deutlich hässlicher: Schnarrstimme). Ein Indiewoodgirl, das zunächst nicht so ganz zu den durchgestylten Bildern und edlen Plastiksounds passt, in die der Film sie bettet.

"Gemini" spielt in Los Angeles, im nächtlichen Los Angeles vor allem. Nicht alle Szenen spielen nachts, aber die Nacht schwingt auch in den Tagszenen mit, als ein Grundton der Irrealisierung, der von einem gewissen Taubheitsgefühl begleitet ist. Die Farbe dieser Nacht ist nicht Schwarz, sondern Blau, ein allgegenwärtiges Blau, ein blaues Gelee, in verschiedenen Variationen, oder vielleicht eher: Modulationen. Denn wenn der Film von einem Blau zum anderen wechselt, dann ist das nicht, wie wenn ein Maler einen neuen Farbton wählt, sondern eher, wie wenn ein visual Artist, vor einem Computerbildschirm sitzend, einen Regler hoch-, beziehungsweise herunterdreht. Das Blau in "Gemini" öffnet sich nie hin auf ein sattes Himmelblau, es verkommt aber auch nie zur kraftlosen Kunstfarbe. Eher könnte man das Blau in "Gemini" als eine Farbe beschreiben, in der, beziehungsweise in deren Bannkreis, die Unterscheidung zwischen natürlichem und künstlichem Licht kollabiert. Alleine schon wegen dieses Blaus hätte "Gemini" in Deutschland einen Kinostart verdient gehabt. Leider erscheint der Film hier nur auf DVD.

Jill, die Hauptfigur, passt wie gesagt zunächst nicht ganz zum Blau. Später allerdings, ziemlich genau in der Mitte des Films, färbt sie sich - nachdem Heather tot aufgefunden wird und auf der vermeintlichen Tatwaffe ihre, Jills, Fingerabdrücke entdeckt werden - die Haare blond, und schon bei ihrem ersten Auftritt mit der neuen Frisur ist klar: Das ist genau dasjenige Moment extravaganter Artifizialität, das ihr vorher gefehlt hatte. Das Blond antwortet auf das Blau, auch, weil es dem Haar visuelle Geschmeidigkeit verleiht. Jill wird zum mondänen Lichtereignis und paradoxerweise gerade deshalb in einem bestimmten Sinn unsichtbar. Ab jetzt ist sie einerseits ein bruchloser Teil der Welt, die sie umgibt. Und kann deshalb andererseits in diese Welt eintauchen, kann lernen, sie zu durchdringen und sogar, sie zu beherrschen.



Die Nacht gibt nicht nur die Farbe, sondern auch den Takt vor. Kein atemloser Großstadtstress, sondern ein urbaner Grundpuls, der leergefegte Highways und die modernistisch-abstrakte Architektur Südkaliforniens durchzuckt und der sich besonders prägnant in Keegan DeWitts hypnotischem, in die Bilder einmasiertem Soundtrack manifestiert. Gerade was den Musikeinsatz angeht ein naheliegender Vergleichsfilm: Refns "Drive"; da gibt es allerdings, als Rückseite der smoothen Langsamkeit, eine grelle Hysterie, die "Gemini" zutiefst fremd ist. Jedenfalls nimmt Katz DeWitts Beat auf und lässt sich mit dem Neo-Noir-Plot, den er um Jill herum entwirft, viel Zeit. Das Entscheidende ist freilich nicht die Langsamkeit, sondern die Konstanz der Bewegung.

Beziehungsweise: der Bewegungen. Die Bewegung der Erzählung, die Bewegung der Figuren, die Bewegung der Kamera (flüssig um die Figuren herum, auf Abstand bedacht, besonders gern gleitet sie an Wänden und Raumteilern vorbei), alles synchron, alles wie in Zeitlupe, aber nie komplett erstarrt, unter den Bildern ein schleichender Vorwärtsdrang, der kaum einmal konkret, als Zwang, Bruch oder Gewalteinbruch, sichtbar wird, der aber vielleicht gerade deshalb, in seiner Unsichtbarkeit, etwas Unerbittliches an sich hat. Und der jedenfalls auf die Dauer auch Jill eintaktet, die sich zunächst, in der ersten Filmhälfte, noch in ihrem eigenen Rhythmus bewegt.

Dieser andere Rhythmus, der ihr ausgetrieben wird, ist der Rhythmus des Mumblecorekinos, der auch die vorherigen Filme von Katz geprägt hatte. Freilich war der Regisseur schon im vergleichsweise ernsthaft mit Genreelementen operierenden "Cold Weather" (2010) auf Distanz zum alltagsnahen, naturalistischen Mumblecoretonfall seines Frühwerks gegangen. "Gemini" ist jetzt endgültig etwas Neues. Allerdings seltsamerweise nicht nur post-Mumblecore, sondern gleichzeitig post-Genre. Der coole Gleichmut des Films wendet sich sowohl gegen Jills nervös-flatterhafte Hippsterattitüde, als auch gegen die Spannungsdramaturgie einer Erzählung, die ihre Figuren und Motive offensichtlich der klassischen kalifornischen Hard-Boiled-Literatur (Raymond Chandler, Ross MacDonald) entlehnt. Wie bei diesen Stichwortgebern stellt das zentrale Verbrechen in "Gemini" neben der sozialen Ordnung auch die Koordinaten persönlicher Identität in Frage: Nach dem Mord an Heather brechen um Jill herum alle Sicherheitsnetze weg, niemand geht mehr ans Telefon, jeder hat verborgene Motive und selbst ihre eigene Beziehung zur Toten - die für sie, dem eigenen Selbstverständnis nach, nicht nur eine Chefin war, sondern auch eine Freundin - erscheint ihr bald in einem neuen Licht. Das Genre ist für Katz kein Medium der Realitätsflucht, sondern eines der Desillusionierung. Weil es Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar macht, Selbstbetrug enttarnt.

Ein anderer naheliegender Vergleichsfilm (auf den außerdem ein Doppelgängermotiv verweist): Lynchs "Mulholland Drive". Aber anders als dort und auch anders als bei Chandler und MacDonald verdichtet sich das alles bei Katz nie so recht zu einem paranoiden Verschwörungsnetz. Am Ende fallen die Mysterien mit derselben Nonchalance, mit der er sie konstruiert wurden, auch wieder in sich zusammen. Wie einer jener Knoten, die sich von selbst lösen, wenn man von beiden Enden am Seil zieht.

Lukas Foerster

Gemini - USA 2017 - Regie: Aaron Katz - Darsteller: Lola Kirke, Zoë Kravitz, John Cho, Greta Lee, Ricki Lake, Michelle Forbes - Laufzeit: 93 Minuten.

"Gemini" erscheint am 6.9. auf DVD.

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Das Kino nähert sich der Steinzeit gern anthropologisch. Der Mensch wird in seiner Distanz zur Zivilisation betrachtet, seine Lebensumstände und sein Sozialgefüge aus Artefakten, Kultstätten und den damit verbundenen Mythen zusammengesetzt. Ein Forschungsanliegen, das ein oft möglichst authentisches Abbild der Vorzeit konstruiert. "Alpha" hingegen erzählt seine Geschichte unverhohlen aus einer modernen Perspektive. Ein Initationsritual und die vorzeitliche Fantasiesprache sind die einzigen Rudimente eines Forschungsanspruchs, die in Albert Hughes Abenteuerfilm verbleiben. Der Steinzeitmensch entsteht hier nicht im Kontrast zur Moderne; es ist vielmehr der gleiche Mensch, der 20.000 Jahre in der Vergangenheit lebt.

Der junge Keda (Kodi Smit-McPhee) ist eben dieser moderne Mensch. Er scheint, auch nachdem er den ersten Teil seiner Initiationsprüfung, die Konstruktion einer Speerspitze, besteht, weder dafür geeignet zu sein, in der harschen Umgebung der Steppe allein zu überleben, noch dafür, die ihm erblich aufgebürdete Rolle des Stammeshäuptlings zu übernehmen. Im Gegensatz zu seinem gestandenen Vater Tau (Jóhannes Haukur Jóhannesson) versteht Keda wenig vom Umgang mit dem Speer, ist unerfahren bei der Jagd und tritt den kriegsbemalten Jägern als schüchterner Junge entgegen, statt "seinen Kopf zu heben und den Blick folgen zu lassen", wie es ihm sein Vater erklärt. All das ist freilich nicht genug, um einen Konflikt zwischen dem standhaften Vater und dem sensiblen Sohn zu erzeugen. Im Gegenteil: Für den Vater sind Kedas Schüchternheit und seine Empathiefähigkeit keine Schwächen, sondern die Vorboten des großen Potenzials, das in ihm steckt.



So wird der Junge ein Teil der Gruppe, die, angeführt vom Vater, dem Pfad der Urahnen bis zu den Jagdgründen des Stammes folgt. Winzig erscheint die Prozession vor dem Naturpanorama-Pomp, den sich Martin Gschlachts Kamera mit den Großrechnern des Animationsdepartments teilt. Die Steppe breitet sich nicht als karges, monochromes Grasmeer aus, sondern flimmert im CGI-Bombast, der Polarlichter, Vogelschwärme, Glühwürmchen, Wetterleuchten und Vulkanausbrüche hinzaubert und die Tage der Jagd im Zeitrafferflug über digitale Felsformationen vergehen lässt. Der grimmige Realismus des Überlebenskampfs, der Hollywoods edle Urzeit- und Historienfilme der jungen Vergangenheit weitgehend im Griff hat, wird durch einen Top10-Landschaftsaufnahmen-Look ersetzt. Ein Tapetenwechsel, der den Eindruck erweckt, Albert Hughes habe sich nicht entscheiden können, welches Naturwunder das visuell eindrucksvollste sei und entsprechend einfach alle verwendet. Das ist zu gleichen Teilen hochauflösend-befremdliches Video-Gepränge und faszinierende Schönheit, die sich vielleicht am ehesten als Jack-London-Abenteuer in YouTube-Ästhetik beschreiben lässt.

Sein eigentliches Hauptanliegen trägt "Alpha" jedoch nicht in der offenen Steppe, sondern im Schutze einer Felshöhle vor. Hier findet die Annäherung zwischen Mensch und Wolf statt, die den Ursprung dieser symbiotischen Beziehung frei von Authentizitätsmarkern über das Mitgefühl definiert. Von seinem Vater und der Jagdgruppe getrennt, sucht Feda in der Höhle Unterschlupf. Den verwundeten Wolf schleppt Keda, nachdem er es nicht übers Herz bringt, ihm den Todesstoß zu versetzen, mit in das kleine Refugium. Im warmen Schatten seines Lagerfeuers lecken die Jagdrivalen ihre Wunden. Das bisschen Nahrung, das der Junge trotz einer Verletzung auf eigene Faust erbeuten kann - ein abgemagertes, krankes Kaninchen -, wird geteilt. Den Moment der Annäherung selbst erzählt der Film weniger über die Gesten des Jungen, als über die Mimik des Wolfs.

Das Gesicht des Tiers, das im Kino oft nur dann auf ein Innenleben zu verweisen vermag, wenn es vermenschlicht oder in direkten Kontext mit einer menschlichen Emotion gesetzt wird, ist in "Alpha" ein eigenständiges Faszinosum. Jede Regung der Lefze markiert einen winzigen Schritt der Annäherung: Anfangs zurückgezogen, um die Zähne zu entblößen, wölbt sie sich zu einem sanften, zahnlosen Hundelächeln, das ein erstes Vertrauenssignal aussendet. Tatsächlich ist das Close-Up-Schauspiel, dem vielleicht nur Samuel Fullers "White Dog" und das außerweltliche, hündische zweitausend-Yard-Starren aus John Carpenters "The Thing" Konkurrenz machen, der aufregendste Moment der Begegnung. Ein kleines Melodrama, das, völlig entkoppelt von den Jagd- und Überlebensszenen, mit denen der Film schließlich ausplätschert, den evolutionären Überschneidungsmoment eben nicht anthropologisch nachvollzieht, sondern ihn einfach einem empathischen Jungen und dem Lefzenspiel eines Wolfshunds überlässt.

Karsten Munt

Alpha - USA 2018 - Regie: Albert Hughes - Darsteller: Kodi Smit-McPhee, Jóhannes Haukur Jóhannesson, Morgan Freeman, Natassia Malthe, Leonor Varela, Mercedes de la Zerda - Laufzeit: 96 Minuten.