Im Kino

Auch etwas Mysteriöses

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
25.07.2018. Marco Dutras und Juliana Rojas' Werwolf-Film "Gute Manieren" ist bei aller Märchenhaftigkeit stets im Jetzt verankert. Jody Hill erkundet in "The Legacy of a Whitetail Deer Hunter" ein weiteres Mal das Spektrum männlicher Ignoranz.


An der Skyline oder der berühmten Schrägseilbrücke Ponte Estaiada Octávio Frias de Oliveira erkennt man, dass "Gute Manieren" in São Paulo gedreht wurde. Und doch bereiten uns die außerweltlichen Harfenklänge und der wie gemalt wirkende Himmel darauf vor, dass wir uns an einem ganz und gar irrealen Ort befinden. Marco Dutra und Juliana Rojas öffnen in ihrem neuen Film ein Reich der Fantasie, in dem es Werwölfe gibt und die Figuren auch mal wie in einem Musical zu singen beginnen. Das Faszinierende an dieser Welt ist, dass sie ihren eigenen Regeln gehorcht und dabei glaubhaft genug wirkt, um die Brüche mit der Wirklichkeit vergessen zu lassen. Zugleich steht im Zentrum des Films ein nicht nur allegorisches Außenseiterdasein, das aus der Annahme resultiert, alles in einer Gesellschaft müsse seinen unverrückbaren Platz haben.

Fast die gesamte erste Hälfte des Film spielt im Luxus-Apartment von Ana (Marjorie Estiano), einer Endzwanzigerin, die von ihren Eltern verstoßen wurde, nachdem sie von einem geheimnisvollen Unbekannten geschwängert worden war. Als die aus einfacheren Verhältnissen stammende Clara (Isabél Zuaa) sie als Haushälterin unterstützen soll, scheint nicht nur die Rollenverteilung von Anfang an klar zu sein, sondern auch, welches Verhältnis der Film zu seinen Figuren hat. Während Ana wie ein verzogenes Gör wirkt, das sein Inneres hemmungslos nach Außen stülpt, bekommt Clara zwar mehr Aufmerksamkeit, besitzt durch ihre Einsilbigkeit und die immer etwas ängstlich wirkenden Blicke aber auch etwas Mysteriöses. Im Gegensatz zu Ana, die ohne nachzudenken, sie selbst sein kann, scheint Clara ständig davon ausgebremst zu werden, was sie für andere sein muss.



Als sich etwas später herausstellt, dass Ana bei Vollmond zu schlafwandeln beginnt, einen beunruhigenden Heißhunger auf rohes Fleisch entwickelt und ein vermutlich nur bedingt menschliches Kind auf die Welt bringen wird, muss man sein Urteil noch einmal überdenken. Auch im weiteren Verlauf hat "Gute Manieren" ein Faible für das Unbestimmte und Formbare. Er interessiert sich auch deshalb recht wenig für die back stories seiner beiden Hauptfiguren, weil er trotz seiner Märchenhaftigkeit stets im Jetzt verankert bleibt; in einem Schwebezustand, in dem jeder erst einmal herausfinden muss, wer er ist und wie er zu anderen steht. Als die beiden Frauen sich schließlich annähern, Sex haben und auch sonst recht liebevoll miteinander umgehen, möchte man das trotzdem nicht Beziehung nennen, weil sie dafür noch zu sehr an dem Dienstverhältnis festhalten. Tradition und Herkunft bleiben eine Fessel für den Freiheitsdrang des Einzelnen.

Wenn der Film in seinem zweiten Teil einen Zeitsprung macht und Clara dabei begleitet, wie sie Anas nun geborenen Sohn Joel (Miguel Lobo) großzieht, scheint zunächst alles anders zu sein: Clara hat plötzlich lange Haare, kleidet sich femininer und lebt wieder auf der anderen, deutlich ärmeren Seite des Rio Tietê. Aber es ist immer noch ihre Liebe und Opferbereitschaft, die den Film vorantreibt. Wir erfahren zwar viel über ihr Seelenleben, aber bis auf ein altes Foto nichts von ihrer Vergangenheit. Als Joel sich dafür zu interessieren beginnt, wo er wirklich herkommt, bringt das bezeichnenderweise nichts Gutes mit sich.



Obwohl "Gute Manieren" nicht linear und fokussiert genug erzählt ist, um sich zu einer Parabel zu verdichten, erzählt er, angetrieben von einem unaufdringlichen moralischen Impuls, von Identitäten, die nicht durch äußere Festschreibungen bestimmt sind, sondern sich immer wieder neu bilden. So ist es Ana, die zwar aus gutem Hause kommt, sich aber durch ihren One-Night-Stand mit einem unbekannten Wilden ins Abseits befördert. Und es ist sicher auch als ein Augenzwinkern mit Blick auf die historische Sklaverei in Brasilien zu verstehen, dass der schwarzen Clara zunächst noch die titelgebende Etikette beigebracht werden soll, es aber eigentlich doch sie ist, die versucht, zuerst Ana und dann ihren Werwolf-Sohn zu domestizieren. Dass "Gute Manieren" seine Sympathien vor allem dem Marginalisierten und Abseitigen schenkt, zeigt sich schon daran, dass das Außerirdischste im Film eine spaßbefreite Kaufhausdetektivin auf ihrem Segway ist.

Dass "Gute Manieren" letztlich zwar schöne Momente und interessante Ideen hat, aber doch nie ganz zu einer runden Angelegenheit wird, hat damit zu tun, dass Dutra und Rojas ihren Film mit seinen 135 Minuten Laufzeit doch etwas zu epochal für das anlegen, was sie erzählen wollen. Dabei wirkt der Film gerade dann auf charmante Weise eigen, wenn er nicht damit beschäftigt ist, die Handlung voranzutreiben. Etwa wenn er sich ausgiebig dem sonderbaren Alltag seiner Figuren widmet und Clara dabei zeigt, wie sie während der Vollmondphase dem Kleinen die Klauen schneidet und die Körperhaare rasiert. Oder wenn die Kamera kurz zu Katzen schwenkt, die doofe Hüte aufhaben, oder in Isabél Zuaas tollem Gesicht mit seinen markanten Zügen und den melancholischen Augen versinkt. Insgesamt steckt aber doch zuviel Leerlauf im Film, zuviele Umwege und Entschleunigungen, die immer wieder ein gerade entfachtes Feuer verglühen lassen.

Michael Kienzl

Gute Manieren - Brasilien 2017 - Regie: Marco Dutra, Juliana Rojas - Darsteller: Isabél Zuaa, Marjorie Estiano, Miguel Lobo, Cida Moreira, Andréa Marquee, Felipe Kenji - Laufzeit: 135 Minuten.

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Die Jagd ist für Buck Ferguson (Josh Brolin) nicht nur Beruf und Hobby in einem, sondern außerdem und vor allem Teil seiner Identität. Und eben deshalb - weil er sicherstellen möchte, dass seine Identität ihn selbst überlegt - will er, dass aus seinem Sohn, dem gerade erst vorsichtig pubertierenden Jaden (Montana Jordan), ebenfalls einmal ein Jäger wird. Jaden soll ihn und seinen besten Freund Don (Danny McBride) bei dem nächsten Jagdausflug begleiten. Und natürlich am besten gleich selbst einen Treffer landen.

Buck lebt inzwischen getrennt von Jadens Mutter. Wenn er seinen Sohn für den Jagdausflug abholt, wird er mit dem neuen Freund seiner Ex konfrontiert. Aber nach ein paar angespannten Momenten am Küchentisch hat sich die Sache erledigt und es geht ab in die Wälder. Die "The Legacy of a Whitetail Deer Hunter" für den Rest der Laufzeit auch nicht mehr verlässt. Ein minimalistischer Film, ein entfernter Verwandter von David Gordon Greens (besserem) "Prince Avalanche": drei Männer, Gewehre, ein Zelt, gelegentlich Hirsche, sonst überall nur Bäume, einmal taucht eine gefährlich gähnende Schlucht auf, die es zu überwinden gilt. Auf der Tonspur sehr viele, etwas zu viele, Countryballaden. Dann noch eine Gitarre, auf der Jaden einmal Bob Marleys "Redemption Song" anstimmt (schon ok, aber der Text ergibt keinen Sinn, sagt Buck). Und ein Handy, das Jaden braucht, um mit seiner Freundin zu telefonieren.

So richtig funktionieren will der Ausflug nicht. Buck brütet unter seiner speckigen Schildkappe, Jaden stapft mosernd hinterher und Don versucht vergeblich, die Stimmung mit seinem fröhlich-beknackten Gelaber aufzuhellen (McBrides offen und ein wenig infantil in die Welt grinsendes Gesicht ist trotzdem eine Wohltat). Insbesondere wenn das Handy loslärmt, ist Buck stets stinksauer. Sein Sohn soll in der bewaffneten Konfrontation mit dem Hirsch zum Mann werden, da ist kein Platz für Kommunikationstechnologie. Und auch nicht, vielleicht sogar erst recht nicht, für eine Freundin, denn anders als Jaden und auch als der für sein Leben gern obszöne Sprüche klopfende Don will Buck bis auf Weiteres nichts mehr wissen vom anderen Geschlecht.

Das Handy als Agent der Weiblichkeit, das Gewehr als Medium der Männlichkeit. Wichtig ist allerdings auch die Frage: welches Gewehr? Von dem neuen Freund seiner Mutter hat Jaden eine protzige Schnellfeuerwaffe mit auf den Weg bekommen, damit ist Buck ebenfalls nicht einverstanden; die Tiere sollen nicht aus dem Handgelenk mit einem Kugelhagel niedergemäht, sondern mit einer klassischen Flinte erlegt werden, von Angesicht zu Angesicht.



Diese erst einmal schematische Ausgangssituation wird durch eine selbstreflexive Ebene verkompliziert: Buck ist Creator und Star der Fernsehsendung "Buck Fever", die er für gewöhnlich im Zweierteam gemeinsam mit Don, seinem Kameramann, produziert. Jody Hills "The Legacy of a Whitetail Deer Hunter" setzt mit Bildern dieser fiktionalen Realityshow ein: Ein Mann durchstreift einsam die Wälder North Carolinas, auf der Suche nach erlegbaren Wildtieren und lässt die Zuschauer nebenbei an der einen oder anderen männlichen Weisheit teilhaben.

Die Frage liegt nahe: Wie verhalten sich "Buck Fever" und die Mantelfiktion "The Legacy of a Whitetail Deer Hunter" zueinander? Geht es Jody Hill um eine Dekonstruktion des fingierten, eigenbrötlerisch-maskulinistischen Reality-TV-Formats? Tatsächlich überstehen weder Bucks Selbstbild noch die zugehörige Vorstellung von Männlichkeit seinen Film unbeschadet. Es gibt in ihm aber andererseits auch keine "korrekte" Gegenposition, keine sichere Rückzugsposition, von der aus das Handeln der Figuren kritisiert werden könnte. Da ist nichts, nirgendwo im Film, außer Männern und ihren Gewehren. Hill möchte den einen oder anderen inneren Widerspruch der Welt, die er filmt, offenlegen - ohne deshalb eine Außenperspektive einzunehmen.

Das ist eine Konstante im Schaffen eines Regisseurs, der seit einiger Zeit zu den interessantesten Figuren der amerikanischen Comedyszene zählt. Hills Filme und Fernsehserien, allesamt im amerikanischen Süden, zumeist in dezidiert ländlichen Gegenden angesiedelt und mit diversen White-Trash-, beziehungsweise Red-State-Klischees spielend, identifizieren sich nicht bedingungslos mit ihren Hauptfiguren, aber sie denunzieren sie auch nicht. Eher geht es um einen sozialpanoramatischen Blick, beziehungsweise um ein Kontinuum der mal Angst einflößenden, mal eher rührenden männlichen Ignoranz, in dem sich alle Hillschen Kino- und Fernsehhelden, von Seth Rogens faschistischem Mallcop Ronnie Barnhardt in "Observe and Report" über McBrides dezent größenwahnsinnigen Ex-Baseballstar Kenny Powers in "Eastbound & Down" und noch einmal Danny McBride als kleingeistiger Lehrer Neal Gamby in "Vice Principals" bis eben zum Whitetail-Deer-Hunter Buck verorten lassen.

In diesem Sinne befinden sich auch "The Legacy of a Whitetail Deer Hunter" und "Buck Fever" auf einem Kontinuum. Die fiktionale Jagdsendung ist im nüchternen 16:9-Fernsehformat kadriert. Der Wechsel zum "richtigen" Film (der, das sei hinzugefügt, deutlich weniger komisch geraten ist als die erwähnten früheren Arbeiten, in einem ernsthafteren psychologischen Register angesiedelt ist) ist durch einen Sprung ins breite Cinemascope markiert. Rechts und links passt von nun an etwas mehr ins Bild. Das ist die kleine, entscheidende Differenz, mit der Hill arbeitet.

Lukas Foerster

The Legacy of a Whitetail Deer Hunter - USA 2018 - Regie: Jody Hill - Darsteller: Josh Brolin, Danny McBride, Montana Jordan, Scoot McNairy, Carrie Coon - Laufzeit: 83 Minuten.

"The Legacy of a Whitetail Deer Hunter" ist seit dem 6.7. auf netflix verfügbar.