Im Kino

Zu schön, um wahr zu sein

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Lukas Foerster
03.07.2018. In Anne Fontaines "Marvin" steht der Hauptdarsteller Finnegan Oldfield zugleich in und außerhalb der Erzählung. Penetrante Klavierakkorde sind nur eines der Probleme in Julian Farinos Ian-McEwan-Verfilmung "The Child in Time".


Die Filme von Anne Fontaine haben ein ungewöhnliches Verhältnis zum Klischee. Sehr interessiert, vollkommen affirmativ, zugleich aber immer ein bisschen drüber, was im Fall ihres Œuvres nicht darauf hinaus läuft, das Klischee zu relativieren oder ein Verhältnis der Distanz zu ihm aufzubauen, sondern, im Gegenteil: sich in das Klischee zu begeben, so ausführlich und unerschrocken, wie es im französischen Kino selten geschieht.

Fontaines Erzählungen sind nicht konventionell. Dafür sind sie zu outriert, zu sehr der Welt der Märchen und Parabeln verbunden, mit der Einschränkung, dass Gut und Böse keine brauchbaren Kategorien für ihre Beschreibung sind. Zutreffender ist, dass ihre Figuren sich wie Märchenfiguren verhalten und in der Verfolgung ihrer Lust, Sehnsucht, Ambitionen, auch: in der Hingabe an ihren Schmerz, und: im Kampf mit ihren Dämonen, ihr Verhalten nicht an den Kriterien der Wahrscheinlichkeit ausrichten.

Einen Film von Anne Fontaine zu sehen bedeutet, Mal für Mal, etwas fassungslos, jenen Moment zu durchlaufen, in dem deutlich wird, dass sie allen Ernstes dabei ist, diese Story (es ist immer eine andere) zu erzählen und zwar: in dieser Form, die in allen Filmen ebenso formelhaft wie stilisiert erscheint. Die Geschichte von der reinen Unschuld und dem gequälten Mörder, der keine verschonen wollte, die Unschuld am Ende aber doch ("Entre ses mains", 2005). Die von den zwei Müttern und den zwei Söhnen, die sich so sehr liebten, dass sie der Welt abhanden kamen und sich auf das Wasser zurück zogen ("Adore", 2013). Die von den geschändeten Nonnen, der Äbtissin und der jungen Ärztin, in der das Wasser durch den Wald ersetzt wird und das Licht des Sommers durch die finstere Nacht ("Les Innocentes", 2016). Oder eben die von dem kleinen Jungen, der sich aus Armut und Hässlichkeit befreite, um berühmt zu werden und eines Tages auch erlöst ("Marvin", 2017).



Die Geschichte beginnt diesmal auf halber Strecke: berühmt ja, erlöst noch nicht, aber immerhin angekommen in den dekorativen Interieurs des Bouffes du Nord, wo Marvin (Finnegan Oldfield), mit Isabelle Huppert (Isabelle Huppert) Theater spielen darf. Von dort bewegt sich der Film in Rückblenden durch die Episoden einer Jugend, von der zugleich das Theaterstück handelt, und in Ellipsen durch eine Gegenwart, deren Davor / Danach diffus bleibt, was aber erstaunlich gut funktioniert. Fontaine, die auch das lineare Erzählen perfekt beherrscht ("Adore" ist ein Meisterwerk der Abfolgen und Umbrüche), setzt in diesem Film auf Kopräsenz: alles gleich gegenwärtig, das Dort im Hier, das Kind im jungen Mann. Und sie bedient sich dabei zahlreicher Elemente aus einer Vita, die bereits mit großem Erfolg erzählt worden ist.

Marvin Bijou ist das Double von Eddy Bellegueule, Martin Clément, der die Geschichte von Marvin aufschreibt und spielt, das von Edouard Louis, der 2014 mit dem Roman "En finir avec Eddy Bellegueule" bekannt wurde und zuvor einen grotesken Namen durch einen sehr bürgerlichen ersetzte. In "Marvin" trägt der Roman den Titel "Qui a tué Marvin Bijou?" und wie die Vorlage berichtet er von einer Kindheit, die aus wenig mehr besteht als Homophobie, Gewalt, Rassismus, verortet im proletarischen Milieu und in einem Frankreich, das von Paris und dem Théâtre des Bouffes du Nord denkbar weit entfernt ist. Bellegueules Leiden sind die von Bijou, die Szenen der einen Kindheit (Spucke, Schultoiletten, Bierdosen) sehr direkt in die andere kopiert; und es gäbe nichts dagegen zu sagen, wären nicht beide, Edouard/Eddy und Martin/Marvin, sehr konformistische Produkte eines sehr artigen Entwicklungsromans.

Das Staunen, das die Filme von Anne Fontaine auslösen können, hat viel damit zu tun, dass sie in ihren besten Momenten inmitten des Klischees zu einer gewissen Freiheit finden. Sie befreien sich von der Plausibilität wie von der falschen Originalität, von dem Bestreben, gemocht zu werden, wie von der Idee, ihre Figuren (Affekte, Konflikte, Haltungen) gänzlich zu erklären. Die Vorlage, an der sich die Erzählung in "Marvin" orientiert, steht mit dieser Freiheit in Konflikt. Entsprechend rar sind die besseren Momente und entsprechend auffallender ist der Hauptdarsteller Finnegan Oldfield, der zugleich in und außerhalb der Erzählung steht: zu schön, um wahr zu sein (in anderen Filmen ist er das nicht), zu verhalten, um ganz in die Handlung einzutreten. Katell Quillévéré, Bertrand Bonello, Eva Husson, Stéphane Brizé haben ihn zuletzt besetzt. Anne Fontaine hat ihn für "Marvin" noch einmal entdeckt: ein Glücksfall, auch weil sein Auftritt mit ihrem Film am Ende nicht viel zu tun hat.

Stefanie Diekmann

Marvin - Frankreich 2017 - OT: Marvin ou la belle éducation - Regie: Anne Fontaine - Darsteller: Finnegan Oldfield, Grégory Gadebois, Vincent Macaigne, Catherine Salée, Jules Porier, Catherine Mouchet, Isabelle Huppert - Laufzeit: 115 Minuten.

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Klavierakkorde, weich angeschlagen, schöne Menschen mit ernsten Gesichtern, grundsätzlich seriösem, aber doch leicht verstrubbeltem Haar, und vor allem traurigen Blicken. Die Blicke von Stephen Lewis (Benedict Cumberbatch), dem schönsten, verstrubbeltsten und traurigsten von allen, richten sich mit Vorliebe auf ausgesucht glückliche Eltern-Kind-Szenen, die sich ausgesucht zufällig vor seinen Augen abspielen. Dazu, wie gesagt: Klavierakkorde. Das setzt sich über den gesamten Film fort: sanftes Klavier, dazu gelegentlich, wenn die Emotionen Überhand nehmen, Streicher. Einmal, gegen Ende, schwenkt die Kamera in solch einem Moment von Cumberbatch auf zwei Musiker, denen er anscheinend gerade zuhört. Tatsächlich: Klavier und Cello. Eine kleine, selbstreflexive Pointe, die den gerade durch das ausgestellt leichtfüßig-ätherische der Klänge aufdringlichen Musikeinsatz leider auch nicht besser macht. Aber so weit sind wir noch nicht. Erst einmal nur: Klavier, Cumberbatch, leicht unterkühlte Bilder eines verglasten, weiße-reiche-Leute-gehen-ihren-Geschäften-nach-Londons, Kinderszenen. Dann plötzlich: Klavier weg, harter Tonschnitt, hektischer, weitgehend undifferenzierter Originalton bricht ins Bild, das Lärmen des Großstadtlebens. Auch das ist ein wiederkehrender Trick - der beim ersten Mal noch einigermaßen effektiv sein mag, aber mich spätestens beim dritten Mal die Wände hochgehen lässt.

So geht das eine Weile: Klavier an, Klavier aus, mal ganz viel undifferenzierter O-Ton, mal fast gar keiner, höchstens sanftes Geflüster. Schnell wechselnde Alltagsszenen, die sich nur langsam zu einer Art Handlung zusammensetzen: Stephen Lewis blickt, lernen wir, traurig auf fremde Kinder, weil sein eigenes verschwunden ist. Die abwesende Zweijährige geistert, stets mit einem gelben Regenmantel bekleidet, durch Rückblenden und gelegentlich auch durch Halluzinationen. Zu den Außen- gesellen sich ein paar Innenaufnahmen: Stephen und seine Frau Julie (Kelly Macdonald) im geschmackvoll eingerichteten, aber leblosen Eigenheim, die Ehe ist offensichtlich hinüber, seit das Kind weg ist. Sie hüllt sich, hilflos passiv, vor dem Fernseher in Decken, er jagt, hilflos aktiv, durch die Straßen.

Und sitzt gelegentlich mit feschen, gut frisierten und doch dezidiert jugendlich anmutenden (reich, empfindsam, business casual) Menschen an Konferenztischen. Es scheint sich da um eine Art von Regierungsausschuss zu handeln, der sich mit Policyfragen im Erziehungs- und Schulbereich beschäftigt. Warum Stephen da mitmischt, ist mir nicht ganz klar geworden, eigentlich schreibt er Kinderbücher. "The Child in Time" beruht auf einem Roman von Ian McEwan, vielleicht würde der Aufschluss geben, aber die Filmversion ist so schrecklich, dass ich ihn mit ziemlicher Sicherheit niemals in diesem Leben lesen werde. Stephen kennt jedenfalls sogar den Premierminister (Elliot Levey). Auch der: jugendlich, verstrubbelt, dynamisch mit einer melancholischen Note (traurige Augen!).



Die Frage, was das alles soll, stellt sich vehement. Immerhin bremst der Film sein Tempo irgendwann doch herunter. Anstatt weiter im Leerlauf vor sich hin zu schnurren, beginnt er damit, Bilder stehen zu lassen, Szenen zu konstruieren, die den Darstellern ein wenig Platz einräumen und auch ein paar neue Schauplätze etablieren. Zum Beispiel ein Strandhaus, in das sich Julie für ein Jahr zurückgezogen hat. Stephen kommt sie besuchen, das Kind ist immer noch weg, beim Wiedersehen gibt es Sex und Tee, Julie ist aufmerksam, scherzt, lacht, flattert animiert durch die Gegend, aber bald setzt sie ihn doch wieder vor die Tür.

Kelly Macdonald ist der einzige echte Lichtblick des Films, leider ist die Szene im Strandhaus, die mit Abstand schönste in "The Child in Time", fast die einzige, in der sie wirklich etwas zu tun hat. Danach wieder allzu viel Cumberbatch im Trübsalmodus, das Klavier meldet sich nicht mehr ganz so häufig, aber immer noch viel zu oft zu Wort, Stephens Eltern (upper class der alten Schule, nichts mit verstrubbelten Haaren) tauchen auf, es deutet sich ein Flirt mit einer der Frauen an, die am runden Tisch mittelmäßig klugen Reden über Kindererziehung lauschen. Aber nein, Stephen bleibt keusch, beziehungsweise seinen Erinnerungen treu.

Dann gibt es noch eine recht opake Nebenhandlung um einen Kumpel von Stephen, der sein Entscheiderleben in London zugunsten einer Existenz als durchgeknallter Waldschrat aufgibt. Diese Passagen sind im Ansatz ganz lustig, aber es scheint dann doch vor allem darum zu gehen, dass dieser Freund das Kind in sich entdeckt, während Stephen nach wie vor um sein eigenes Kind trauert. Auch da könnte vielleicht die Romanvorlage Aufschluss geben, aber "The Child in Time" ist die Art von Film, die mir nicht nur Literaturverfilmungen, sondern gleich noch deren liebste Vorlagen, die Bestseller-middle-brow-Qualitätsliteratur, vermiesen. Es folgt schließlich eine nicht im Detail, aber im Großen und Ganzen absehbare Schlusspointe und nach immerhin recht schlanken 90 Minuten ist der möglicherweise schlechteste und ziemlich sicher emotional wie intellektuell unwirtlichste Film, den ich dieses Jahr gesehen habe, auch schon wieder vorbei.

Lukas Foerster

The Child in Time - GB 2017 - Regie: Julian Farino - Darsteller: Benedict Cumberbatch, Kelly Macdonald, Stehen Campbell Moore, Saskia Reeves, Beatrice White, Elliot Levey - Laufzeit: 90 Minuten.