Im Kino

Jeder verdient eine große Liebe

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
27.06.2018. Greg Berlanti malt in der schwulen Teeniekomödie "Love, Simon" sein jugendliches Soziotop in grundzuversichtlicher Buntheit aus. Das Filmfestival Il Cinema Ritrovato ermöglicht die Wiederentdeckung von Erik Charells filmmusikalischem Gesamtkunstwerk "Caravan": mit Charles Boyer an der Geige und Loretta Young unterm Kopftuch.


Die Kurzfassung geht ungefähr so: Nancy ist verliebt in Simon, Simon ahnt davon nichts, ist außerdem schwul, bloß weiß das niemand, außer einem ebenfalls nicht geouteten Jungen auf seiner Schule, der sich Blue nennt, und mit dem Simon unter Pseudonym eine zunehmend zärtliche Onlinekorrespondenz führt. Das wiederum entdeckt Martin, der ihn damit erpresst, und ihn dazu drängt, ihn mit Abby zu verkuppeln, die sich aber zu Simons Freund Nick hingezogen fühlt (was durchaus gegenseitig sein mag). Deren Annäherung muss Simon nun sabotierten, um Martin bei der Stange zu halten, und einem genötigten Outing zu entgehen (was wohl auch zur Folge hätte, den geheimnisvollen Blue zu verscheuchen). Die immer drängendere Frage, wer sich hinter Blue verbergen mag, führt indes zu einer wechselnden Reihe von Verdachtsmomenten, bleibt aber zunächst ohne Auflösung. Es geht (natürlich) alles schief, es wird (natürlich) alles gut.

"Love, Simon", der bereits im März mit relativ großem Erfolg und Zuspruch in den USA im Kino lief, gilt als, das läßt kaum eine Rezension unerwähnt, die erste schwule Teeniekomödie eines großen Studios. "Everyone deserves a great love story" lautet die amerikanische Tagline. "Jeder verdient eine große Liebe" ist das verkürzte und ausgedehnte Versprechen, mit dem der Film nun auch in Deutschland beworben wird. Inszeniert hat den Film, der auf Becky Albertallis Roman "Simon vs. the Homo Sapiens Agenda" basiert, Greg Berlanti, der sowohl in queeren Feelgood Komödien (sein Regie-Debut "The Broken Hearts Club: A Romantic Comedy" lief 2000 in Sundance) als auch in Hochglanz-Teenagerwelten (er arbeitete als Produzent bzw. Autor an "Dawson's Creek" und "Riverdale") erfahren ist. Seine Anliegen stehen dem Film ins Gesicht geschrieben und sie stehen ihm erstmal durchaus nicht schlecht.

Als Teenieromcom fügt sich "Love, Simon" in grundzuversichtlicher Buntheit mühelos in das anvisierte Genre und dehnt dabei seine Erzählung auf eine Figur aus, die darin bisher bestenfalls als Randfigur, nicht aber als Held Platz gefunden hätte. "Love, Simon" gelingen eine Handvoll schöner Miniaturen, Simons als Tanzeinlage zelebrierte Fantasie eines Collegelebens, in dem er seine Homosexualität nicht verbergen muss, oder ein fantasierter Bilderreigen von Szenen, in denen sich die anderen aus seiner Clique bei ihren Familien als heterosexuell outen. Bilder, die das ihre tun, um sanft an den Parametern von "Normalität" zu drehen.



Gleichzeitig bleiben durchweg die engen Grenzen spürbar, innerhalb derer sich der Film bewegen muss, um ein schwules Sehnen als selbstverständlich zu schildern, ohne das Publikum, das er für sich zu gewinnen sucht, allzu sehr herauszufordern. Es wimmelt in dem Mittelklassevorort von Atlanta, in dem sich Simons Universum entfaltet, von ungewöhnlich verständnisvollen und gewöhnlich peinlichen Eltern, herzlich bemühten und harmlos überforderten Schulleitern - ein jugendliches Soziotop, in dem kein Graben unüberbrückbar bleibt, wenn nur das richtige Verhältnis zu sich selbst gefunden wird. Der Film gibt sich Mühe, auch noch Martin, den erpresserischen Klassenclown, der sich auch gegenüber dem Objekt seiner Begierde reichlich übergriffig verhält, als grundsätzlich liebenswerten Verirrten zu zeichnen, und selbst die homophoben Rüpel, die die sichtbarste Hürde eines uneingelösten Glücksversprechens markieren, sind letzten Endes hilflose Figuren, die der schlagfertigen Entgegnung nichts mehr entgegenzusetzen haben. Weniger ein "It gets better" (wie sich 2010 eine virale Videokampagne nach einer Welle von Selbstmorden nicht-heterosexueller Jugendlicher nannte), als ein "It's actually not that bad".

Schwerer als das beharrliche in-Watte-Packen aller Herausforderungen wiegt der Umstand, dass die Form der Erzählung über das In-der-Welt-Sein verfügt, das darin sichtbar werden kann. Symptomatisch dafür kann man die Figur von Ethan lesen (die eine der interessantesten des Films ist), der einzigen Person an Simons Schule, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennt. Ein schwarzer Jugendlicher, dessen Gestalt binäre Geschlechterzuschreibungen aushebelt. Der Film verleiht ihm eine verletzliche Präsenz, die für Simons Geschichte die Folie der möglichen eigenen Behauptung abgibt. Ethans eigene Geschichte bleibt aber eine, die aus dem Off nur um die Ecke lugt. Aus den Aporien eines normalisierenden Repräsentationsmodus kann sich der Film nicht befreien. Freilich, jede*r verdient eine große Liebesgeschichte. Die Tücken stecken am Ende weniger in dem universellen Versprechen, als in den Formen, in denen wir sie uns erzählbar machen.

Sebastian Markt

Love, Simon - USA 2018 - Regie: Greg Berlanti - Darsteller: Nick Robindson, Jennifer Garner, Josh Duhamel, Katherine Langford, Alexandra Shipp, Logan Miller - Laufzeit: 110 Minuten.

---



Mit nur einem Film - "Der Kongress tanzt" (1931) - hat der legendäre Theaterregisseur Erik Charell auch das deutsche Kino der frühen 1930er entscheidend mitgeprägt. Weit weniger bekannt, aber mindestens ebenso erstaunlich ist der Film, den der jüdische Künstler drei Jahre später, nach seiner erzwungenen Emigration, in Hollywood gedreht hat: "Caravan" war damals an den Kinokassen ein katastrophaler Flop, in der Rückschau erweist er sich als einer der ambitioniertesten und inspiriertesten Musikfilme seiner Zeit. Und außerdem als genau jene Art von Wiederentdeckung, auf die sich das Il Cinema Ritrovato spezialisiert hat - ein allsommerlich in Bologna stattfindendes Festival, das sich ganz der neugierigen Erkundung filmgeschichtlicher Untiefen verschrieben hat. Auf dem Programm stehen durchaus auch anerkannte Klassiker wie Alfred Hitchcocks "The Birds" oder Ridley Scotts "Alien". Aber das Herzstück des Festivals sind Filme wie "Caravan": Vorher ist da nur ein Filmtitel, über den man höchstens einmal in einem obskuren Filmgeschichtsbuch gestolpert ist; hinterher fühlt man sich, als hätte man gerade einen neuen Kontinent entdeckt.

"Caravan" ist, zumindest in der ersten Hälfte, ein Film der ruhelosen Euphorie, der beständigen Überschreitung. Loretta Young spielt eine ungarische Prinzessin, die ein Parisaufenthalt auf dumme Gedanken gebracht hat: Sie ist jetzt ein modern girl und hält nicht mehr viel von der Familientradition. Zunächst steckt sie nur den Finger in den Schokoladenpudding, wenig später wird sie eine "gypsy princess" (die politischen Unkorrektheiten des Films in der Nacherzählung allzu sehr zu entschärfen, hieße, etwas Entscheidendes an ihm zu verfehlen) - sie heiratet, halb aus Eigennutz, halb aus Neugier, einen feschen Geiger (Charles Boyer), der vor ihrem Fenster musiziert. Das wiederum löst eine kleine Revolution aus, weil der Bräutigam bei der Hochzeitsfeier seine ganze Sippschaft ins Schloss mitbringt - während die feine Gesellschaft vorsorglich die Flucht ergreift. Das Tafelsilber mag tags darauf leichte Verluste erlitten haben, aber dafür entdeckt ausgerechnet die strenge Gouvernante das wilde Mädchen in sich.



Das ist erst der Anfang, es folgen allerlei Verwechslungen und Verwicklungen, Verkomplizierungen und Gegenrevolutionen. Wobei das alles sowieso nicht vom Plot, sondern von der Musik her gedacht ist. Diverse leichtfüßige Melodien mäandern durch den Film, und sie sind es auch, die die Dinge in Schwung bringen, sogar direkt im ökonomischen Sinn: Ohne Musik kann, das wird mehrmals betont, die Ernte nicht eingebracht werden. Zentrum des Films ist die Idee, dass alles möglich ist, solange nur alle miteinander singen, tanzen, musizieren. Filmisch übersetzt sich das in Kamerfahrten, die, genau wie die Musik, alle miteinander verbinden: die Reichen mit den Armen, die Männer mit den Frauen, die Gefangenen mit ihren Wächtern. Die Produktion (nackte Frauenbeine, die im Takt der Musik Weintrauben zertrampeln) mit der Konsumption (ein entfesseltes Saufgelage im Biergarten). Alles fließt ineinander, in einer besonders schönen Szene sogar Vergangenheit und Gegenwart.

"Caravan" ist ein Triumph des Studiokinos. Das Ungarn des Films ist reine Fantasie, reine Kulisse, aber die Fantasien, um die es hier geht, und auch die Kulissen, die hier - mit viel Aufwand und offensichtlich einem riesigen Budget - aufgebaut werden, sind keine Gegenwelten, in denen man sich vor den bitteren Realitäten des Jahres 1934 verschanzt. Was sie stattdessen sind, ist nicht leicht zu bestimmen. Die bitteren Realitäten spielen durchaus in den Film hinein, aber zu einem kohärenten allegorischen Subtext wachsen sie sich nicht aus - wobei es schlichtweg kein Zufall sein kann, dass in der allerletzten Szene plötzlich ein militärischer Fackelzug (!) durchs Bild marschiert, begleitet von (allerdings trotzdem noch euphorischer) Marschmusik.

Der Caravan selbst, der Wagenzug, ist natürlich auch ein Bild für die ewige Emigrationsbewegung der Roma und auch der europäischen Juden. Tatsächlich schleichen sich in den Film vor allem in der zweiten Hälfte andere, skeptischere Tonlagen ein. Aber es häufen sich Szenen des Auf- und Abbruchs, Leute steigen in Züge (die, eines unter vielen schönen Details des Setdesigns, unmittelbar vor der Eingangstür der Wirtshäuser Halt machen), und haben nicht die Absicht, wiederzukommen, in einer lang ausgespielten Szene bringt Boyer tatsächlich die Musik komplett zum Schweigen. Natürlich nur für den Moment, der gesamtkunstwerklerische Flow des Films ist nicht so leicht stillzustellen und auch Boyer schafft es im Schlussbild dann doch wieder, gleichzeitig eine Frau zu umarmen und Geige zu spielen. Aber das ist sozusagen nur noch die kleine, private Synthese. Die große, soziale Synthese, die vorher so eindrücklich durchexerziert worden war, gelingt nicht mehr so ohne Weiteres. Am Ende trennen sich die Sphären wieder, jede Gruppe (und jedes Liebespaar) musiziert hinfort nur noch für sich selbst. Loretta Young wiederum hat ihre Halskette gegen eine melancholische Erinnerung an den utopischen Moment der Freiheit eingetauscht.

Lukas Foerster

Caravan - USA 1934 - Regie: Erik Charell - Darsteller: Charles Boyer, Loretta Young, Jean Parker, Philips Holmes, Louise Fazenda, Eugene Pallette - Laufzeit: 101 Minuten.