Im Kino

Giftpfeile in alle Richtungen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
09.05.2018. Die dieser Tage startenden Filmfestspiele von Cannes nehmen wir zum Anlass, zwei aktuelle Netflix-Filme zu besprechen. Robert Smigels "The Week of" ist Adam Sandlers Rückkehr zur großen Form: ein Film, in dessen Bilder Platz für alles und jeden ist. John Woo brilliert in "Manhunt" eher als Actionspezialist denn als Melodramatiker.


Kino als demokratische Kunst. Das gibt es immer noch, und zwar in den Filmen von Adam Sandler. Insbesondere in jenen Filmen von Adam Sandler, die landauf landab als "lazy filmmaking" verschrien sind. Besonders häufig ist der Vorwurf zu lesen, Sandler nutze die Dreharbeiten lediglich als Vorwand, gemeinsam mit seinen Kumpels - "Happy Madison" lautet der schöne und treffende Name seiner Produktionsfirma - an angenehmen Orten eine gute Zeit zu verbringen. Als wäre das nicht einer der besten Gründe überhaupt, einen Film zu drehen. Und als wären bei solchen Unternehmungen nicht immer schon (siehe etwa Jess Franco, Klaus Lemke) herausragendes Kino entstanden.

"The Week of" ist, nach einer kleinen Durststrecke, wieder ein besonders schöner Sandler-Film geworden, und das, obwohl der Familienausflug der Sandler-Kinotruppe diesmal nicht auf eine karibische Insel führt, sondern nach Long Island, das nur auf der Landkarte, nicht aber im überfüllten Berufsverkehr nah am mondänen New York gelegen ist. Weite Teile des Films spielen in dem nicht allzu weitläufigen, dezidiert kleinbürgerlich-kleinstädtischen Anwesen von Kenny Lustig (Sandler), einem Familienvater, der die Hochzeitsfeier seiner Tochter Sarah (Allison Strong) organisiert. Das ist auch schon die ganze Prämisse: Die Hochzeit rückt immer näher, das Haus wird dank der anreisenden Verwandtschaft (und auch dank zufällig anwesender Passanten, die für Verwandtschaft gehalten werden) immer voller, die Vorbereitungen immer stressiger. Letzteres hauptsächlich deswegen, weil Kenny einerseits an allen Ecken sparen, andererseits keineswegs die Hilfe von Kirby Cordice (Chris Rock), des deutlich wohlhabenderen Vaters des Bräutigams, annehmen möchte. Steve Buscemi spielt auch mit.

Die Geschichte ist genauso nebensächlich wie die in Mainstreamkomödien allgegenwärtige moralistische Schlagseite. In diesem Fall betrifft das vor allem Rocks Figur: Ein stinkreicher Hedonist, der lieber im Luxushotel Sex mit jungen, hübschen Frauen hat, als sich um seine Kinder zu kümmern, muss nun einmal, der Familienideologie gemäß, wenigsten ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Aber wo andere Filme um diese Figur herum eine Erlösungsgeschichte konstruiert hätten, belässt es "The Week of" - relaxed und souverän inszeniert von Robert Smigel, als Drehbuchautor von "You Don't Mess With the Zohan" und Nebendarsteller in einer Reihe weiterer Happy-Madison-Filme schon länger ein Mitglied der Sandlerfamilie - bei kleinen Demütigungen, die der leicht verplant wirkende Rock alles in allem unbeschadet übersteht. Überhaupt ist das ein ausgesprochen sympathischer Zug des Films: Niemand wird unter Druck gesetzt, niemand muss seine Fehler einsehen, alle werden gleichermaßen umarmt, so unperfekt, lächerlich und egoistisch wie sie nun einmal sind.



Sandler selbst ist ziemlich alt geworden. Seine Falten verwandeln ihn, in Verbund mit den Überresten seiner berufsjugendlichen Starpersona, in einen dezent traurigen Clown. Er beschränkt sich weitgehend auf seine Rolle als Zeremonienmeister, setzt die anderen Akteure in Szene und sorgt dafür, dass eine wohlwollende, menschenfreundliche, sentimentale Grundstimmung gewahrt bleibt. Und dafür, dass alle nicht nur in seinem Haus, sondern auch im Bild Platz haben. Das ist noch so ein von der Kritik am laufenden Band perpetuiertes Missverständnis: Sandlerfilme seien filmisch uninteressant, beschränkten sich in visueller Hinsicht auf biedere, registrierende Fernsehregie. Dabei ist "The Week of" eine bildpolitische Intervention ersten Ranges. Wo das restliche Gegenwartskino in entleerter, akademischer Stilisierung erstarrt, quillt hier fast jedes einzelne Bild regelrecht über vor Menschen und Kram. Im Grunde bringt Sandler das Kino in seine klassische, schönste Phase zurück, in die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, als es noch von der Gemeinschaft her gedacht wurde. Was nicht heißt, zumindest nicht automatisch: von der Volksgemeinschaft. Ein "Make America Great Again"-Film ist diese Vision einer gleichzeitig chaotischen und lustvollen Vermählung des jüdischen und des schwarzen Amerikas kein bisschen.

Alle haben im Bild Platz, aber niemand wird aufs bloße Ornament reduziert. Mindestens einen großen Soloauftritt hat jede Figur. Und ebenfalls wie im Kino der 1930er gehören die allerbesten Auftritte stets den Nebenfiguren: Der unglamouröseste Zauberkünstler ever, der seine Routine probeweise im Trainingsanzug (weit aufgeknöpft, damit die hervorquellende Wampe besonders gut zur Geltung kommt) herunterrockt. Die übereifrige beste Freundin (zumindest sagt sie das) der Braut, die andauernd versuchen muss, ihre Kitschaffinität als Ironie zu verkaufen. Die bissige Tante, die souverän in ihrem Sessel thronend Giftpfeile in alle Richtungen verschießt.

Soweit zu den Menschen. Mindestens ebenso wichtig ist der Kram. "The Week of" ist neben allem anderen auch noch ein Kompendium kapitalistischer Gegenwartskultur. Allein schon die mannshohen Schnapsflaschen und Schokoriegel, die Steve Buscemis Figur anschleppt; und, im Fall der Riegel, anknabbert. (Überhaupt Buscemi, so gut wie hier habe ich ihn ewig nicht mehr gesehen. Vielleicht, weil er für einmal nicht den verschrobenen Sonderling geben muss, sondern einfach nur ein Weirdo unter dutzenden sein darf.) Oder der Junggesellenabschied des Bräutigams. Der findet in einer besseren Turnhalle statt, in der leichtbekleidete Frauen auf Trampolinen herumhüpfen. Der Ort ist ungefähr so verrucht wie die After-Show-Party auf dem Dorffest. Aber dafür auch mindestens genauso absurd, was sich spätestens dann offenbart, wenn aufgrund der Überempfindlichkeit eines dauergetriggerten jugendlichen Verwandten auch noch die Musik abgedreht werden muss. Nicht nur in dieser Szene zeigt sich: Ein genauer, neugieriger Blick auf die Welt ist im Zweifelsfall wichtiger als das das "perfekte Timing" und die "geschliffenen Dialoge", die buchhalterische Filmkritiker in Sandler-Filmen vermissen.

Lukas Foerster

The Week of - USA 2018 - Regie: Robert Smigel - Darsteller: Adam Sandler Chris Rock, Steve Buscemi, Rachel Dratch, Alison Strong, Roland Buck III - Laufzeit: 116 Minuten.

---



Nach nur wenigen Filmminuten inszeniert John Woo eine über den Dächern von Osaka abgehaltene Upper-Class-Party als heilloses Durcheinander. Nervös werden verschiedene Perspektiven im Stakkato gegeneinander geschnitten, während Gespräche immer nur als Fetzen zu hören sind. Erst am Ende formt sich die Menge zumindest teilweise zu einer homogenen Masse, nämlich, wenn sich die Party-Crowd für eine Tanzperformance versammelt, die direkt aus einem Bollywood-Film stammen könnte. "Manhunt" gelingt es, vieles, was scheinbar nicht zusammenpasst, in einen geschmeidigen Flow zu integrieren. Während die Kamera am Anfang der Szene noch das Hochhaus umkreist und uns der Soundtrack mit synthetischen Streichern und treibenden Drums in den Action-Modus peitscht, legt sich plötzlich ein loungiges Saxophon-Solo über die Musik, bevor sich alles zu einem Brei vermengt, der mit den pumpenden Beats des DJs synchronisiert wird.

Tatsächlich steckt in dieser fahrigen Ästhetik auch eine Ordnung. So dient die Feier nicht nur dazu, fast alle relevanten Figuren zu versammeln und sämtliche Konflikte anzuschneiden, sondern auch den Veranstalter der Party - den dubiosen Pharmakonzern Tenjin mit seinem hinterhältig grinsenden, bezeichnenderweise "Papa" genannten Patriarchen (Jun Kunimura) - als jene Instanz zu präsentieren, der die verschiedenen Erzählstränge zusammenhält. Der Anwalt Du Qiu (Zhang Hanyu) aus Hongkong verteidigt etwa die Interessen des Unternehmens ohne große moralische Skrupel; zumindest so lange, bis er eines Tages neben einer unbekannten Toten aufwacht und zum Freiwild wird. Ebenfalls für den Konzern arbeitet die drogenabhängige Auftragskillerin Rain (Ha Ji-won), die Du Qui aus dem Weg räumen soll, aber romantische Gefühle für ihn hegt. Und dann gibt es noch die nach Vergeltung strebende Mayumi (Qi Wei), deren Mann zu Tode kam, als er die üblen Absichten Tenjins öffentlich machen wollte. Es geht also um Gewissenskonflikte und Schuld, um Machtmissbrauch und Ausbeutung, vor allem aber darum, dass der Film sein Getriebe ständig am Laufen hält.

Nach Jahren in Hollywood und einigen historischen Großproduktionen in jüngerer Zeit kehrt Woo mit seinem mehrsprachigen, in Japan gedrehten Film gewissermaßen zu seinen Ursprüngen zurück. Schon die Grundkonstellation der beiden männlichen Hauptfiguren erinnert neben vielen anderen Hongkong-Filmen vor allem an Woos "The Killer": Nachdem der Anwalt Du Qiu und der später auf ihn angesetzte Polizist Yamura (Masaharu Fukuyama) zunächst als Gegenspieler etabliert werden, erweisen sie sich bald als Gleichgesinnte, die sich gemeinsam gegen Tenjin verbünden. Ein Hauch von Nostalgie umweht den Film, wenn die beiden sich, mit Handschellen aneinandergekettet, gegen eine Meute Angreifer verteidigen müssen; die aufgezwungene körperliche Nähe als Ausblick auf die aufkeimende Freundschaft und der mangelnde Bewegungsspielraum als Herausforderung, möglichst kreative Schusswechsel zu inszenieren.



Auffällig an "Manhunt" ist, wie sich die Handlung auf viele kleinere Nebenfiguren verstreut - dabei bieten besonders die Drogen, die Tenjin schamlos an Angestellte, Familienmitglieder und sogar Polizisten verteilt, einen willkommenen Anlass für ein paar schön exzessive Schauspieldarbietungen. Vor allem führen die vielen Subplots jedoch dazu, dass der Film nie zur Ruhe kommt. Statt sich wie früher stärker für das Melodram zu interessieren, das auch hier in verschiedenen, von persönlichem Verlust geprägten Geschichten angelegt ist, konzentriert sich Woo diesmal stärker auf seine spektakulären Setpieces.

Wenn Du Qiu in einem Moment noch auf einem Jet Ski sitzt und ohne Zeitsprünge oder übersinnliche Hilfe schon ein paar Sekunden später auf einer Brücke steht, beweist der Regisseur, wie gut er immer noch seine choreographische Routine beherrscht. Das gilt für die artistischen Elemente im Nahkampf ebenso wie für die ikonisch gewordenen Zeitlupen-Shootouts, in denen aufgescheuchte Vögel und Pferde zum Ornament eines filmischen Schlachtengemäldes werden.

"Manhunt" ist ein Film des nahtlosen Übergangs. Es gelingt ihm zwar konsequent, seine Spannung zu halten, aber allein schon wegen der Geschicklichkeit, mit der sich seine Figuren aus brenzligen Situationen befreien, kennt er keine wirklichen Widerstände. Alles fließt irgendwie ineinander. Gleich mehrmals teilen sich Rückblenden und Szenen aus der Gegenwart denselben Raum, statt wie sonst zumeist strikt voneinander getrennt zu bleiben. Das einzige, was den Film ein wenig ins Stocken bringt, sind die englischen Dialoge, die teilweise mit hörbarer Anstrengung vorgetragen werden. Aber vielleicht passt auch das ganz gut zu einem Film, in dem mit chemischen Möglichkeiten jegliche menschliche Schwäche ausgemerzt werden soll. Denn während Tenjin von herzlosen Killersoldaten fantasiert, wirkt das Ringen mit der Sprache wie eine ständige Erinnerung daran, dass das Charakteristische am Menschen doch gerade sein Unvermögen ist.

Michael Kienzl

Manhunt - Hongkong, China 2017 - Regie: John Woo - Darsteller: Zhang Hanyu, Masaharu Fukuyama, Qi Wei, Ha Ji-won, Jun Kunimura, Angeles Woo - Laufzeit: 106 Minuten.