Im Kino

Im Limbo

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Karsten Munt
06.12.2017. Für die beiden vom Patriarchat gepeinigten Hauptfiguren von Yeşim Ustaoğlus Sozialdrama "Clair Obscur" bleibt als Ausweg nur die Wassermetaphorik. In Christian Pasquariellos postapokalyptischem Wachturmfilm "Sum 1" bleibt die Science-Fiction-Garnitur ein Rattenschwanz aus falschen Fährten.


Es beginnt elementar, fast schon molekular, mit einem leinwandfüllenden Rauschen und Sprudeln, das sich erst allmählich zu einer Wellentotale vereindeutigt. Das Meer als aufbrausende Urwucht, die den psychischen Druck, der auf den Filmfiguren lastet, einerseits verkörpert, andererseits vielleicht auch hinwegzuspülen in der Lage ist - eine besonders originelle Metapher ist das nicht, aber "Clair Obscur" verschreibt sich ihr immerhin mit Haut und Haaren. Wieder und wieder zieht es die beiden Hauptfiguren, zwei junge Frauen, ans Wasser. Mal strecken die eine sehnsüchtig die Finger nach den Wellen aus, mal schreit die andere ihren Frust enthemmt der Gischt entgegen. In Traumsequenzen schwappt das Wasser auch schon einmal bis an die Betten hoch, oder es schießt eruptiv aus Häuserfenstern hervor. Dass die ewige Wassermetaphorik das einzige ist, was dem Film einfällt, dass sie den einzige Ausweg darstellt, den er seinen Hauptfiguren anbietet: das hat etwas ziemlich Bedrückendes.

Die erste junge Frau, Elmas (Ecem Uzun), hat ein sommersprossiges Kindsgesicht. Sie ist 18, sagt ihr Ausweis, tatsächlich ist sie noch jünger, und jedenfalls viel zu jung und hilflos, um das Ehe- und Hausfrauenleben zu führen, das sie führt. Ihr Mann ist im mittleren Alter und auf seine Art ebenfalls ziemlich hilflos, aber er hat einerseits ein Leben außerhalb der engen, korrekt, spartanisch und freudlos hergerichteten Wohnung, in der Elmas fast ganztägig bleiben muss; und zum anderen hat er im Bett, beim Sex, zwar auch keinen Spaß, aber doch die Verfügungsgewalt. Er nimmt sich, was er meint, sich nehmen zu dürfen, wenn nicht zu müssen (Elmas Schwiegermutter drängt schon, wenig subtil, auf Nachwuchs), während für Elmas jede seiner Berührungen einfach nur ein Alptraum ist. Die erwähnte Schwiegermutter, eine wahre Haustyrannin, schränkt den Bewegungsspielraum weiter ein. In unbeobachteten Momenten raucht Emlas heimlich auf dem Balkon oder vollführt kleine Tänze mit dem Wischmob.



Die zweite junge Frau, Şehnaz (Funda Eryiğit), entstammt einer anderen sozialen und auch einer anderen kulturellen Schicht. Sie arbeitet als Psychiaterin und lässt sich abends auch schon einmal von ihrem Freund bekochen. Der ihr allerdings gleichzeitig fremd geht (zumindest spricht alles dafür) und auch ansonsten ein ziemlich unsympathischer Schönling ist. Wenn er sich zum Begrüßungskuss über sie beugt, dann hat das etwas Eitles, und gleichzeitig etwas fast Dämonisches, man hat den Eindruck, dass er ihr nicht etwa eine Freude machen, sondern eher ihre Energie und Lebenslust absaugen will. Aber insgesamt wirkt der Şehnaz-Handlungsstrang unkonzentriert. Fast schon ein wenig trashig wird der Film, wenn sie später einen anderen, sensibleren Mann kennenlernt, der mit ihr, bevor er sie zu einem softpornotauglichen Orgasmus leckt, nicht nur lange Küstenspaziergänge unternimmt, sondern auch von einer Art Reinigungsritual erzählt, dem er sich täglich im Meer unterzieht. Esoterische, vollbärtige Weichspülererotik - gut, dass der Film dieses Motiv nicht allzu ausführlich ausbreitet.

Yeşim Ustaoğlu, schon seit den 1990ern ein Fixpunkt im türkischen Autorenkino, lässt in ihrem sechsten Langfilm den Alltag der beiden Frauen eine Weile parallel nebeneinander herlaufen. Zwei Unterdrückungsmechanismen, die einander gegenüber gestellt werden im Sinne einer sozialpanoramatischen Analyse der türkischen Gesellschaft, vielleicht verbunden mit der Anschlussfrage: wer von beiden ist Clair und wer Obscur? Aber es gibt von Anfang an eine Assymetrie, weil die Unterdrückungsmechanismen nicht auf einer Ebene liegen, nicht auf einer Ebene liegen können. Der Blick auf Elmas' Leben hat einen sensationalistischen, sozialvoyeuristischen Einschlag, versprochen wird einem der Blick hinter eines jener Fenster, die für gewöhnlich fest verschlossen und durch blickdichte Gardinen zusätzlich versiegelt bleiben; während es bei den Szenen mit Şehnaz eher darum geht, zu zeigen: So eine (=eine von uns) hat auch zu kämpfen mit dem Patriarchat. Das ist kein Vorwurf an den Film, der kann das vermutlich gar nicht anders lösen. Schließlich wird er mit ziemlicher Sicherheit eher von den Şehnaz' dieser Welt gesehen werden als von den Elmas'.

Eines Morgens kauert Elmas dann halb erfroren auf dem Balkon, Mann und Schwiegermutter sind in der Wohnung, tot. Şehnaz soll dabei helfen herauszufinden, was passiert ist, aber Elmas ist zutiefst traumatisiert, kaum ansprechbar, gelegentlich bricht etwas aus ihr heraus, unartikuliert, mit den langen, wilden Haaren, die ihr übers Gesicht hängen, sieht sie aus wie eine Besessene in einem Exorzistenfilm. In den Szenen, in denen die beiden Frauen aufeinander treffen, findet der vorher schon auch mal in atmosphärisch-düsteren Scope-Tableaus schwelgende Film einen neuen, dichteren, minimalistischen Stil, nah an den Körpern, das Licht neutral und unbarmherzig. Die schon vorher prekäre Balance, die das Drehbuch zwischen den beiden Hauptfiguren zu halten versucht, ist allerdings endgültig hinüber: Elmas reißt den Film an sich, tobend, schreiend, weinend, Şehnaz tritt in den Hintergrund, hat nur noch eine unterstützende, kanalisierende Funktion, hilft dabei, die zunächst begriffslose Wut ihrer Patientin in Rollenspiele, in Erinnerungen, und schließlich in eine wieder halbwegs stabile Subjektivität zu übersetzen. Der Film endet vor der vollständigen Genesung, vor der Idee, wie eine vollständige Genesung ausschauen könnte. Beide Frauen befinden sich am Filmende im Limbo und auch der Vergleich zwischen ihnen hat nicht hingehauen. Es herrscht Ratlosigkeit. Auch das spricht nicht gegen den Film. Im Gegenteil: dass die Ratlosigkeit in ihrer ganzen, unbefriedigenden, unfertigen Wucht stehen bleiben darf, das ist gerade die große Stärke von "Clair Obscur".

Lukas Foerster

Clair Obscur - Türkei 2016 - Regie: Yeşim Ustaoğlu - Darsteller: Ecem Uzun, Funda Eryiğit, Mehmet Kurtuluş, Okan Yalabık, Metin Akdülger - Laufzeit: 105 Minuten.


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100 Tage dauert der Wehrdienst der Zukunft. Eingesetzt werden die Rekruten in einem Verteidigungsring aus Wachtürmen, die Exilium, das letzte Refugium der Menschheit, umgeben. Das sieht zunächst einmal schön aus. Der lichte Wald Brandenburgs, immer wieder durchschnitten von breiten Panzerstraßen, gibt eine prächtige Endzeitkulisse ab, auch im generisch entsättigten, unterbelichteten Anstrich, den Hagen Bogdanskis Kamera ihm verpasst. Was die Landschaft nicht hergibt, füllt clever gesetzte CGI in das apokalyptische Szenario ein: Panzer, Drohnen und Gleitflieger treten in digitalem Glanz kurz auf, um die neuen Rekruten zu den Wachtürmen zu geleiten.

In der Rekrutenperspektive im schön trashigen Ego-Shooter-Display-Look offenbart sich "Sum1" alsbald als Science Fiction aus der zweiten Reihe. Auch die Prämisse des Einsatzes erscheint zunächst als angenehm bescheidenes Bekenntnis zum Genre: 100 Tage muss der wasserstoffblonde Rekrut Sum1 (Iwan Rheon) seinen Posten besetzen, bevor er wieder abgelöst und nach Exilium entlassen wird. Der Protagonist beginnt also wie jeder andere Soldat auf dieser Welt damit, seine Tage abzusitzen. Christian Pasquariello entscheidet sich bewusst gegen den Creature-Horror und für die Abstumpfungsmechanismen der Routine: Wecker, Frühsport, Wachdienst und Stiefelputz markieren den Tagesablauf, der zunächst als Exposition dient und schließlich zu kleinen Montageschnipseln verdichtet wird.



Genauso wenig wie seine Vorgänger weiß Sum1, wie die Nonsuch genannten Aliens, vor denen er die Welt beschützen soll, aussehen, und er weiß auch nicht, welche genaue Funktion sein Wachdienst erfüllt. Statt seine Fragen zu beantworten, bellt ein Vorgesetzter lediglich einen Sicherheitscode aus dem Lautsprecher, vor dem Sum1 zum Tagesende Platz nimmt. Zwischen den Tagesroutinen und Abendberichten lässt Pasquariello viel dead air. Es gärt ein leichtes Unwohlsein zwischen den in Plastik eingeschweißten Zigarettenrationen und den Sichtungen auf Patrouillengängen. In der Isolation des Wachturms wächst sich das ungute Gefühl zur waschechten Wahnvorstellung aus, inklusive Reizhusten und Rattenfreundschaft. Wachturmkoller.

Auf den schießt sich der Film schließlich ein und lässt dabei an jeder Ecke Hinweise auf die große Pointe fallen, die sich für das Ende des 100-Tage-Countdowns ankündigt. Doch spätestens zum Bergfest der Dienstzeit sind alle Facetten des Wachturmwahns durchgekaut. Damit kommt "Sum1" in der eigenen Untergangs-Vision an, die wie ein Sci-Fi-Fasching ausstaffiert wird: Ein paar Artefakte aus der "alten Welt", generische Cybersoldaten-Gadgets und der bereits in "Matrix" so prominent inszenierte, apokalyptisch-graue Haferschleim versuchen sich als dystopischer Überzug für das Schicksal des vereinsamten Rekruten. Die Sci-Fi-Garnitur bleibt ein hektisch angepinnter Rattenschwanz falscher Fährten. Die gefallen sich in ihrer Filmstudenten-Smartness selbst sehr gut, gestalten den Übergang von Routine auf Verfolgungswahn jedoch als reichlich uninteressanten Abstieg. Es gibt schlicht keine Bezugspunkte für die Endzeitvision, die Pasquariello präsentiert. Genre ist hier die Schaufensterdekoration. Gegensatzpaare wie Sum1 und Nonsuch werden bedeutungsschwanger in einen Raum gestellt, der weder mit der Prä-Invasionswelt noch mit der Post-Apokalypse verbunden ist. So erscheint "Sum1" als Klaviatur ohne Bezug. Eine Gleichung mit zwei Unbekannten, zwischen denen der Film keine Verknüpfung herzustellen vermag. Als Aussageform bleibt nur der routinierte Abstieg in die Isolations-Paranoia. Ein recht dünnes Angebot für 100 Tage Wehrdienst.

Karsten Munt

Sum 1 - Deutschland 2017 - Regie: Christian Pasquariello - Darsteller: Iwan Rheon, André Hennicke, Rainer Werner, Zoe Grisedale, Niels-Bruno Schmidt - Laufzeit: 92 Minuten.