Im Kino

Materialisierte Gespenster

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt, Nikolaus Perneczky
17.08.2017. In Marco Bellocchios eindrücklichem "Träum was Schönes" wird ein Journalist von einem Trauma heimgesucht, das seinen Ursprung in der Kindheit hat. Als re-release (wieder) zu entdecken: King Hus meisterliches wuxia "Dragon Inn", einen auch und gerade in seinen wirbelnden Luftsprüngen formvollendeten Film.


Ein Anfang, ein halbes Dutzend Szenen in siebeneinhalb Minuten, eine Exposition, ein Trauma: In einer italienischen Küche in den Sechziger Jahren tanzen ein Junge und seine Mutter einen wilden Twist. Es ist dunkel, sie sitzen nun vor dem Fernseher und klammern sich aneinander, auf dem Bildschirm eine Szene eines Horrorfilms. Ein Blick aus dem Fenster einer fahrenden Strassenbahn in die Strassen Turins, vor allem Blicke auf heroische Standbilder, der Junge sitzt in dieser Bahn neben seiner Mutter, die abwesend wirkt, er betrachtet, fasziniert und verstört, ein Paar neben sich, das sich küßt, an der Endstation will die Mutter nicht aussteigen, sie fahren weiter. Es ist wieder dunkel und der Junge liegt schlafend im Bett, seine Mutter deckt ihn zu, küsst ihn, sagt: Träum was Schönes. Ein Krach weckt den Jungen auf, Polizisten sind in der Wohnung, seine Tante ist da, bringt ihn weg, er fragt nach seiner Mutter, es geht ihr nicht gut, sagt man ihm. Ein Anschlussschnitt auf die Flügeltüren der Wohnung, drei Jahrzehnte später, der Junge ist ein Mann, er betritt die Wohnung, die zuletzt die des gerade verstorben Vaters war, um dessen Hinterlassenschaft abzuwickeln.
 
In Marco Bellocchios thematisch vielgestaltigem und formal facettenreichem Werk umkreist ein filmisch denkender Verstand große gesellschaftliche Themen des 20. Jahrhunderts, Individuen in institutionellen Spannungsverhältnissen von Familie, Kirche, Staat, Psychiatrie, Bewegungen. Ganz unterschiedlich sind die Wege, die sich dieses Kino zu seinen Bildern bahnt, aber sie führen, auch dort wo sie sich scheinbar sehr direkt etwa der Epoche des Faschismus annehmen, nicht über die retrospektive Draufsicht eines großen Panoramas, sondern in den Faltenwurf von Geschichte als affektiver Materialität. Cineastische Einsprüche gegen die vermeintliche Unerbittlchkeit der Wirklichkeit, die jenseits der Reimagination patinierter Ereignisse an der Herausstellung von Wahrheiten arbeiten, die sich in den Zuständen von körperlichen und verkörperten Subjektivitäten finden, und in in Bewegung geratenen Bildern, die dem historischen Verlauf nicht nachgeordnet sind, sondern in denen er sich immer schon vollzieht.
 
"Träum was Schönes", Bellocchios jüngster Film, findet sein Ausgangsmaterial in einem internationalen Bestseller gleichen Titels von Massimo Gramellini, einem sentimentalen autobiographischen Roman, in dem der Autor, ein italienischer Journalist, sein Jahrzehnte langes Ringen mit dem frühen, rätselhaften Tod seiner Mutter rekapituliert und ihrer wie seiner Liebe ein Denkmal setzt. Bellocchio zögert nicht, das melodramtische Potential dieser Geschichte auszuschöpfen.
Der Film ist wohl, in einem Korpus, der in mehr als einem halben Jahrhundert bald 40 Filme umfasst, darunter mehrere, die zum Bemerkenswertesten der europäischen Nachkriegskinematographie zählen, ein Nebenwerk, aber eines, das auch dann verfängt, wenn man seinem zentralen Motiv zögerlich gegenübersteht.
 


Dieses Vermögen liegt vor allem in dem Eigensinn, mit dem Bellocchio sich der Erzählung des zu anfangs 9-Jährigen Massimo annimmt, und die er in abrupten und doch sachte verknüpften Zeitsprüngen weiterführt, oftmals die Zeitebenen wechselnd. Während der Film immer wieder in Massimos Kindheit zurückkehrt, erzählt er in verdichteten Vignetten von seiner Karriere als Journalist, in der er sich als nüchtern distanzierter Chronist und Beobachter langsam einen Namen macht, vom Sportreporter (worin er der Fußballleidenschaft seines Vaters folgt), zum Politik- und Kriegsreporter, schließlich zum gefeierten Kolumnisten, was dem Film, nur scheinbar ganz nebenbei, auch ein Tor dazu öffnet, eine italienische Zeitgeschichte zu erzählen.
 
Die zentrale Szene, die der Film in verschiedenen Stationen von Massimos Suche wiederholt und variiert, das heißt also: durcharbeitet, ist das Ringen um Erkenntnisse über den Tod seiner Mutter. Er befragt den Vater, und andere Erwachsene, den Naturwissenschaft lehrenden Priester seiner Schule, wendet sich als Erwachsener, von Panikattacken verunsichert, an eine Ärztin. Die Antworten, die er erhält, akzeptiert er notdürftig, als unentzifferbare Unwahrheiten. Er ist ein Mann, der einen Mangel erfahren hat, der ihn mit einer beschädigten Subjektivität durchs Leben gehen läßt. In dauerhaften Beziehungen scheint er sich nicht einfinden zu können.
 
"Träum was Schönes" wird so ein Film, der im Kern von der Psychologie seiner Hauptfigur, von einem persönlichkeitsbestimmenden Trauma, getrieben ist. Bellocchio erzählt die aber weniger über ausagierte Entäußerungen von Massimos Innerlichkeit, sondern spannt eine sich wandelnde Subjektivität in einem filmischen Raum auf. Durch die Zeiten und Bilder ziehen sich wiederkehrende Motive, deren Schlüssigkeit sich erst vom Ende her erschließen werden, auf das sie zusteuern. Umarmungen, die Geborgenheit schenken oder nicht, Türen und Fenster, und die Welten die sie eröffnen, oder verschließen, Körper, an denen die Schwerkraft zieht, und Wasser, das sie suspendiert. Bilder aus alten Horrorfilmen, die der junge Massimo mit seiner Mutter gesehen hatte, und die im Film immer wieder aufblitzen, am zentralsten aus "Belphégor oder das Geheimnis des Louvre", Claude Barmas' Mini-Serie aus dem Jahr 1965, deren Titelfigur sich Massimo als eine Art düsteren Schutzengel auserkoren hatte. Figuren und Situationen, die Echos anderer Figuren und anderer Situationen enthalten, und neuen Sinn verleihen.
 
So schiebt sich in die vertikale Chronik der zeitlich abgegrenzten, elliptischen Set-Pieces eine Horizontale aufgeladener Bilder, die weniger Symbolik, illustrierte Psychologie sind, als materialisierte Gespenster einer Geschichte, die sich in persönlichen wie historischen Dimensionen abspielt. Massimo wird an den Punkt gelangen, an dem er die Geschichte seiner Mutter und damit seine eigene les- und erzählbar macht. Und weil, so wie Bellocchio sie erzählt, sie schon von Anfang an eine Geistergeschichte war, findet Massimos Heimsuchung dort ihr Ende.
 
Sebastian Markt
 
Träum was Schönes - Italien 2016 - OT: Fai bei sogni - Regie: Marco Bellocchio - Darsteller: Bérénice Bejo, Valerio Mastandrea, Fabrizio Gifuni, Guido Caprino, Barbara Ronchi - Laufzeit: 131 Minuten.
 
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Mit "Dragon Inn" (1967) versetzt der damals noch junge Regisseur King Hu dem populären Wuxia-Filmgenre (buchstäblich: "Kampfkunst und Helden") entscheidende neue Impulse. Sein erstes wuxia, "Come Drink With Me", war ein Jahr davor so ungewöhnlich geraten, dass der legendäre Hongkonger Produzent Run Run Shaw nichts damit anfangen konnte: Es kam zum Zerwürfnis. Nach wechselhaften Anfängen in Hongkong zog es Hu nach Taiwan, wo er seine Vision zur Erneuerung des Genres konsolidierte. Das hier einer um Anerkennung ringt für seine Kunst, sieht man "Dragon Inn" jedoch nirgends an. Hus erster taiwanesischer Film, ein Schwertkampfepos zwischen Realismus und Magie, ist formvollendet noch in seinen Ellipsen, souverän auch und gerade in seinen wirbelnden Luftsprüngen. Alle Karten liegen auf dem Tisch, und Hu mischt sie mit atemberaubender Präzision.
 
Das historische Setting ist China zur Zeit der Ming-Dynastie, die politische Gemengelage kompliziert: Imperiale Ranküne führen zur falschen Verurteilung eines Generals, die Kinder des Gerechten werden nach seiner Hinrichtung in die Verbannung geschickt. Ein intriganter Eunuch, Vorstand der Ming-Geheimpolizei, steckt hinter dem politischen Mord und will nun, aus Furcht vor dem Nachleben des Märtyrers, auch dessen Nachkommen loswerden. Deren Weg ins Exil führt vorbei an einer kleinen Herberge, umgeben von weiter Steppe und schroffen Gebirgszügen; wie im amerikanischen Frontiermythos markiert das Dragon Inn die (nicht nur geografische) Grenze des Reichs. Hier sollen die Schergen des Eunuchen den Kindern des Generals auflauern. Aber sie haben die Rechnung ohne die Riege der ritterlichen Helden gemacht, die sich nach und nach in der Gaststätte einfinden.

"Dragon Inn" bewegt sich gewandt zwischen Breitwand-Grenzlandschaften und dem beengten Raum des Inn, zwischen Epos und Kammerspiel. Die einstweilige räumliche Beschränkung gibt den Fähigkeiten der Kämpfer Form und Dramaturgie. Im Kleinen erst, in versteckten, minimalen Gesten und Tanzschritten, zeigen sich ihre übernatürliche Wahrnehmung, Kraft und Konzentration. Zunächst ist alles Verstellung und Stellungsspiel, die offene Konfrontation zwischen heroes und villains lässt lange auf sich warten. Bis plötzlich die Masken fallen und der friedfertige Gelehrte Xiao Shaozi (Shi Jun) endlich die Klinge aus dem Schaft zieht, der bis dahin wie ein Regenschirm aussah. Die Situation eskaliert, drängt nach draußen und schließlich in die blauen Berge - wie die Steppe davor ein phantasmatisches Terrain fernab realpolitischer Verbindlichkeiten, auf dem die "Ritter" frei nach ihrem Gewissen handeln können.
 


Bevor der Film das Inn verlässt, hat er gewisse Ähnlichkeit mit den Wagenburgszenarien des amerikanischen Western, nur dass die Grenzen zwischen Innen und Außen poröser und fließender sind, Hindernisparcours eher als Einschließungsmilieu, und die Fronten ständig wechseln, sich verschieben und vertauschen. Der Cast ist riesig, immer neue Helden begegnen immer neuen Bösewichtern, aber man verliert nie den Überblick, weil Hus reduzierte Typisierungen von großer Effizienz sind: Physiognomien, Kostüme und Masken machen jede Figur einzigartig und zugleich, wie in der Peking-Oper, unmittelbar durchschaubar in ihren guten oder schlechten Absichten. Auch der Soundtrack nimmt Opern-Anleihen (seine Sporen hat King Hu als Regieassistent bei Altmeister Li Han-Hsiang verdient, bekannt vor allem für seine Arbeiten im Genre des Huangmei-Opernfilms): In den Spannungs- und Kampfszenen weicht der epische Score einem rhythmischen Klackern, das die Schwerttanzchoreographien antreibt und interpunktiert.
 
Das Finale zwingt die Helden und ihre Schutzbefohlenen zur Flucht ins offene Gebirge. Dort treten sie dem Kopf der Verschwörung gegenüber, einem scheinbar unbesiegbaren Gegner, der nur durch Berührung innere Blutungen auslösen kann. Zum finalen boss fight, der den übernatürlichen, ja philosophischen Anteil der Kampfhandlungen in den Vordergrund rückt, dräut auf der Tonspur bedrohlich-dronendes Elektro-Gewaber. Vor allem aber im Schnitt erfolgt die Transfiguration der realistischen zur mythischen Gewalt. Der amerikanische Filmwissenschaftler David Bordwell, der ein tolles Buch zum Hongkong-Kino geschrieben hat, nennt das Verfahren "the glimpse": die raumzeitliche Kontinuität, die es uns sonst ermöglicht, den Kampf als Tanzbewegung nachzuvollziehen, wird an diesen Stellen strategisch unterbrochen und gestört. Wie bei einem Jump Cut scheint etwas zu fehlen im Bewegungsablauf, manchmal springen die Blickachsen. Dann sieht man unvermittelt das Resultat: die Landung nach dem überlebensgroßen Sprung, die blutrote Schliere im weißen Waffenrock. In der Lücke, im Filmriss passiert die Magie.

Tsai Ming-Liangs "Goodbye, Dragon Inn" (2003) erzählt elegisch von der letzten Vorführung in einem alten, dem Untergang geweihten Kino in Taipei. Es läuft "Dragon Inn", im Publikum sitzt der Darsteller Shi Jun und weint. Jetzt kann man King Hus frühes Meisterwerk noch einmal auf der großen Leinwand sehen: kein Grund zur Traurigkeit.

Nikolaus Perneczky

Dragon Inn - Taiwan 1967 - Originaltitel: Long men kezhan - Regie: King Hu - Darsteller: Shangguan Lingfeng, Shih Chun, Byi Ying, Hsu Feng, Tsao Chein, Hsieh Han - Laufzeit: 111 Minuten.