Im Kino

Make it sound like Hitchcock

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
27.05.2017. Hätte das Filmfest in Cannes nicht zum Schluss noch einmal Tempo aufgenommen, es wäre auf der Strecke verendet. Filme von Fatih Akin, den Safdie-Brüdern, Francois Ozon und Sofia Coppola liefern Palmenkandidaten.
Als Fatih Akin und sein Produzent Herman Weigel während dessen Entstehung über das Drehbuch zu "Aus dem Nichts" diskutierten, dem neuesten Film des Hamburger Regisseurs, der jetzt in Cannes Premiere hatte, da musste Weigel Akin immer wieder stoppen: "Meide Klischees", mahnte er. Akin scheint das beherzigt zu haben. Sein Terrorismus-Thriller mit Diane Krüger in der Hauptrolle, inspiriert von der Affäre rund um die Neonazitruppe NSU, gibt der Angelegenheit ein eigenes Tempo und eigene Worte. Und der Film findet ein Ende, über das bestimmt noch viel diskutiert wird. Unter Weigels Mahnungen hat Akin zum Beispiel die Idee verworfen, dass die durch Rechtsterroristen verwitwete Katja sich eine Knarre verschafft, um Mann und Kinder zu retten, das erschien dann doch zu abgeschmackt.


Diane Kruger in "Aus dem Nichts" von Fatih Akin

Akins Film ist (abgesehen vom für Samstag programmierten Beitrag des Altmeisters Roman Polanski) schon der letzte in einem Wettbewerb, in dem lange nicht alle Teilnehmer die Sache mit den Klischees so gut im Hinterkopf behalten haben wie der Deutsche. Zu vielen Filme sahen aus, als hätte sie es schon gegeben. Zu wenige, als hätten sie unbedingt in die Welt gemusst. Immerhin, auf diese Weise wird selbst Akins Film zu einem Favoriten für die Preisverleihung am Sonntagabend. Der Film ist gelungen, aber in einem besseren Jahr hätte er als gehobener Durchschnitt vielleicht nur am Rand Beachtung gefunden.

Von Jahr zu Jahr versuchen die Verantwortlichen in Cannes die Krise des intelligenten Kinos zu kaschieren, anstatt dass sie anfingen, eine Antwort darauf zu suchen. Sie kratzen zusammen, was von der alten Autorenfilmwelt noch übrig ist, anstatt eine neue zu eröffnen. Das x-te routiniert abgedreht Künstler-Biopic, dieses Mal "Rodin" von Jacques Doillon, löste allgemein Stirnrunzeln aus. Und dann verließen sich die Chefs von Cannes darauf, dass Festival-Dauergäste wie Naomi Kawase, Hong Sangsoo, Noah Baumbach und andere in ihren zweit- oder drittbesten Filmen noch irgendwie anständige Programmfüller liefern. Und man lieferte sich eine überflüssige Diskussion darüber, dass neue Produzenten wie Netflix dem guten Kino schaden könnten, ohne den Beweis zu erbringen, dass von diesem guten Kino noch so viel da ist.

Hätte das Festival nicht zum Schluss noch einmal etwas Tempo aufgenommen, man hätte fürchten müssen, dass es in allgemeiner Müdigkeit endet. Alle großen Filmfeste haben das Problem, dass das Kino, was sie großgemacht hat, zumindest teilweise verschwindet. Wenn man in den letzten Tagen Verantwortliche der Berlinale in Cannes traf, gaben sich diese alle Mühe eine Regung von Schadenfreude zu unterdrücken. Denn im Februar waren die Berliner für ihr beliebiges und blutleeres Wettbewerbsprogramm verprügelt worden, oft unter Verweis auf den vermeintlichen Glanz in Cannes. Nun muss sich der französische Festivalchef Thierry Frémaux die gleiche Kritik anhören.

Die, die dafür sorgten, die Angelegenheit wiederzubeleben, sind zwei Brüder, Bennie und Josh Safdie. Die beiden US-Independent-Filmer lieferten am Donnerstag mit "Good Time" einen ebenso rasant wie präzise nach vorn preschenden Thriller aus New York. Das war derart schnell, dass es sich anfühlte wie ein Wirbelsturm, der all die Müdigkeit davonweht. Zudem gelingt es "Good Time", der Stadt New York Bilder zu entlocken, die einerseits direkt dokumentarisch aussehen, andererseits aber so ungesehen wirken, als hätte noch nie ein Kameramann diese Straßen betreten. "Good Time" ist die Geschichte von Conny, der Figur, die Teeenieschwarm Robert Pattinson endlich den Traum erfüllt, eine große, kühne Charakterrolle zu spielen. Wir tauchen kaum mehr als 12 Stunden in das Leben von Conny und seinem Bruder Nick ein. Aber in dieser Zeit passiert mehr, als in manch anderem Leben (und mehr als in allen anderen Filmen des Wettbewerbs zusammengenommen). Nick ist geistig behindert und träumt von der Freiheit, Conny will ihn (warum wird nicht lang diskutiert) der Überfürsorglichkeit des öffentlichen Betreuungsapparats entreißen. Die Antwort von Conny und Nick ist ein Bankraub, der nicht vollständig gelingt und eine rasante Flucht durch New York auslöst.


Robert Pattinson in "Good Time" von Ben und Joshua Safdie


Der Film lebt hauptsächlich von seinem nirgends abgeguckten schnellen Rhythmus, erzählt aber en passant mehr über die Welt, als manche Filme, die eine Botschaft über dieselbe im Sinn haben. Einmal verschanzt sich Conny mit einem zufällig (aber natürlich nicht völlig zufällig) aufgelesenen anderen Kriminellen in einer Wohnung. Er sei ein Nichtsnutz, patzt er den Kumpanen an, lebe mal von öffentlicher Stütze, mal im Gefängnis, also auch vom Staat. Der patzt zurück: "Ich habe im letzten Jahr mehr Geld gemacht, als du in deinem ganzen Leben". Dass beide Verbrecher sind, spielt in diesem Dialog überhaupt keine Rolle. Bei aller Spannung, Brutalität, Rasanz erzählt der Film so beiläufig wie intensiv von einer leeren Welt. Einer Welt, in der öffentliche Moral völlig abwesend ist, von der Fürsorge nichts zu erwarten, in der nur Geld Maßstab für Erfolg ist (unabhängig von seiner Herkunft) und in der man, vor allem, Freiheit nur jenseits der Gesellschaft sucht. Die Schwachen aber, die man heute gern "Abgehängte" nennt, sind hier nicht Objekte der Beobachtung, sondern Subjekt der Handlung. Überflüssig zu sagen, dass das Ganze nicht gut ausgeht, ein großer Spaß ist es aber dennoch.

Und dann waren auch wieder alle da, von denen Cannes auch lebt: Die Paparazzi, die Klatschreporter, die Rote-Teppich-Berichterstatter. Die Illusion, dass hier ein Treffpunkt der Berühmtheiten sei, hält die Maschine Cannes (und damit auch das Kunstfilmfestival) schließlich seit Jahrzehnten am Laufen, zum Beispiel, indem sie dafür sorgt, dass die Sponsorengelder sprudeln. Aber auch dieses Prinzip hat sich dieses Jahr totgelaufen. Es waren einerseits die Sicherheitsmaßnahmen, die die Schaulustigen abhielten, andererseits aber gibt es von Jahr zu Jahr weniger zu sehen. Freimütig erzählen Reporter eines großen Privatsenders, wie sie immer wieder die gleichen Gesichter abfilmten; wie sie Leute zu Stars erklärten, die sie früher nicht einmal als Beiwerk verkauft hatten. Die großen US-Studios mit ihren Celebrities haben sich von Cannes weitgehend verabschiedet, sie fertigen ohnehin kaum noch die Art Filme, die man hier will. Aber diejenigen, die vielleicht einspringen könnten, die richtige Geschichten wollen und Schauspieler mit Ausdruck, nämlich Netflix, Amazon & Co., die will man hier nicht mehr.

Das starmäßig größte Aufgebot lieferte Sofia Coppolas vieldiskutierter Film "The Beguiled", ein Remake einer 1971er Literaturverfilmung, damals mit Clint Eastwood. Jetzt ist es Colin Farrell, der als Söldner im US-Bürgerkrieg 1864 in ein Mädchenpensionat gerät, und den Rest der Geschichte kann man sich dann schon weithin ausmalen. Der Film sieht über weitere Strecken aus wie ein Martha-Stewart-Katalog, warmes Licht, gediegene Interiors, vollendete Spitzenkleidchen. Alles ist schöne Oberfläche, und als die Geschichte dann doch irgendwann Fahrt aufnimmt und unerhörte Dinge passieren, da ändert das nichts an der oberflächlichen Moral des Ganzen: Ein vormodernes Geschlechterbild wird da mit einem keinen Deut mehr aufgeklärten Vulgärfeminismus überzuckert. Hübsch anzusehen ist das schon, aber eine Aussage ist nicht erkennbar. Es könnte allerdings sein, dass die Jury an Stars wie Nicole Kidman, Kirsten Dunst und Elle Fanning dennoch Gefallen findet und die eine oder andere oder alle mit Preisen bedenkt.


Szene aus Francois Ozons "L'Amant Double"

In puncto Stilisierung steht der neue Francois-Ozon-Film "L'Amant Double" Coppolas Produktion um nichts nach. Die beiden Therapeutenpraxen in Paris, in denen er zu einem Gutteil spielt, sind so kunstvoll wie verschwenderisch eingerichtet, ebenso das Museum, in dem Heldin Chloé, ein Exmodel, Arbeit als Aufseherin findet und die Wohnung, in die sie mit ihrem Therapeuten Paul zieht, nachdem die beiden ein Liebespaar werden. Aber im Gegensatz zu Coppolas Geschichte hat die von Ozon gewisse Substanz und taugt zum intellektuellen Ratespiel über Identität und Geschichte. Ozon macht gewissermaßen seine eigene Oberflächlichkeit zum Thema und das mit einem straffen Spannungsbogen und geschliffenen Dialogen. Ein Film, der mit wenigen Änderungen auch von Pedro Amodòvar sein könnte und der ist, Zufall oder nicht, Präsident der Jury in Cannes.

"Die Globalisierung macht den Leuten Angst", sagt Fatih Akin in Cannes über seinen Terrorismusfilm. Statt sich mit der Welt zu beschäftigen, suchen sie nach Identität, Familie, Zugehörigkeit, müsste man hinzufügen. Und das tun die meisten Filme des Festivals auch. Interessanterweise traf Akin dann einen Nerv, weil er als Einziger von einem Thema erzählte, das überall auf der Welt die Menschen beschäftigt - in der Woche des Mordanschlags von Manchester wieder einmal mehr denn je: Im Mittelpunkt seines Films steht die Frage, wie das Individuum mit dem Terror umgeht - und ob es eine Möglichkeit der Rache gibt.

Und dabei hat sich Fatih Akin gewissermaßen von Alfred Hitchcock leiten lassen. Denn der Satz seines Produzenten - "meide Klischees" - stammt natürlich von dem Altmeister. Später im Schnitt, als es um die Musik der letzten Szenen ging, gab Akin seinem Komponisten die Anweisung: "Make it sound like Hitchcock". Er wollte Suspense, Thrillertempo, Bewegung statt Reflektion.

Keine Ahnung, ob das ein Motto ist, dass Cannes in Zukunft weiterhilft. Was weiterhelfen könnte: Mehr Mut bei der Wettbewerbsauswahl. Denn in den Sektionen jenseits des Hauptprogramms fanden sich durchaus die Filme, die Neues wagten, die das Familienthema nicht mit den bekannten Klischees, sondern mit Ernst und Interesse behandelten: "Carré 35", der Dokumentarfilm des französischen Regisseurs Eric Caravaca über seine eigene Familiengeschichte mit einer Schwester, die als Kind gestorben ist. "Tesnota", ein erstaunlich erzählsicherer russischer Erstlingsfilm von Katemir Balagov, der über eine wahre Geschichte aus den 1990er Jahren erzählt, was es für eine Gesellschaft bedeutet, die ohne öffentliches Vertrauen auskommt. Oder "Lerd", ein gnadenloser Film des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof, der in - auch angesichts der Zensur im Iran - erstaunlicher Klarheit beleuchtet, was Korruption mit den Seelen der Menschen macht. Da wären sie, die Filme. Da wäre er, der Ausweg. Genug Raum, um ihn zu wagen, ist inzwischen da.