Im Kino

Den Eklat abwenden

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
23.05.2017. Youtube, Netflix, Handyvideos und wie sie alle heißen, brechen auch als ästhetische Fremdkörper ins gediegene Autorenkino des Wettbewerbs ein: etwa als hochkant gestellte Aperçus eines Todesengels in Michael Hanekes "Happy End". Institutionell schließt sich das Festival aber erstmal gegen die neuen Player ab. Eindrücke aus Cannes
Wenn Michael Haneke nach Cannes kommt, ist es ein bisschen wie mit Bayern München. Falls er nicht in ganz schlechter Form ist, erwartet man, dass er hier als Sieger vom Platz geht. Zum achten Mal ist er in den Wettbewerb eingeladen, zwei Goldene Palmen (für "Liebe" und "Das weiße Band") und zwei Regiepreise (für "Die Klavierspielerin" und "Caché") hat der in München geborene österreichische Regisseur hier schon mitgenommen. Er zählt damit zu den meist palmierten Filmemachern überhaupt. Kaum jemand lenkt die Kamera so mitleidlos in die Risse zwischen Menschen und lässt hinter individuellen Katastrophen die große gesellschaftliche Zerrüttung erkennen. Das macht der Altmeister mit "Happy End", seinem neuesten Film, der am Montag in Cannes Premiere hatte, auch wieder: Es ist die Geschichte einer großbürgerlichen Bauunternehmerfamilie in Nordfrankreich, in der alle menschlichen Beziehungen Fassade sind und der Zusammenbruch der alten Ordnung jederzeit möglich scheint, sobald die notdürftig gestützte Fassade nicht mehr hält.

Isabelle Huppert in Michael Hanekes Isabelle Huppert in Michael Hanekes "Happy End". Film Still


Nun haben Studien über brüchige Beziehungen in angsterfüllten Mittelschichtfamilien bereits in den letzten Jahren die Filmfestspiele geflutet. Aber in diesem Jahr ist es so richtig krass geworden, jedenfalls, wenn man das erste Drittel des Programms ansieht. Independent-Kinostar Noah Baumbach zeigt (in "The Meyerowitz Stories") mit Stars wie Dustin Hoffmann, Ben Stiller, Adam Sandler und Emma Thompson, wie eine New Yorker Künstlerfamilie ihre auseinanderklaffenden Verhältnisse kittet. Der Grieche Giorgos Lanthimos, der hier vor zwei Jahren mit "Lobster" reüssierte, zeigt (in "The Killing Of A Sacred Deer") eine heile US-Familie, auf die Schuld und Verstrickung nach allen Regeln der klassischen Tragödie einwirken.

Dabei widmen sich die etablierten Kinolieferanten interessanterweise neben aller Mittelschichtzerstörung auch noch einer ganz anderen Untergangsangst, nämlich der, bis zu welchem Ende Youtube, Netflix, Handyvideos und wie sie alle heißen, die schöne alte Kinowelt erschüttern können. Das sieht bei Haneke so aus: In breiten, opulent arrangierten Tableaus dokumentiert der Film das große Lügenbild. Dann dringt plötzlich eine Angehörige der vierten Generation geografisch und klassenmäßig von außen ein, die 13-jährige Eve, die nach dem Selbstmord ihrer Mutter in die Obhut ihres Vaters gerät. Und der ist einer der gewissenlosen Sprosse dieser Familie, der das Kind und seine geschiedene Mutter lange vergessen hatte. Dieses Mädchen nun zeigt als einzige Figur ihre individuelle Wahrheit mit schmalen, hochkant gefilmten Videos aus ihrem Iphone, welche als Kontrast zu den schön ausgeleuchteten Bildern aus dem herrschaftlichen Familienanwesen in den Film montiert sind. Wir wollen noch nicht zu viel verraten, aber das Mädchen hat bei Haneke eine unglücklich tragische Rolle als Todesengel.

In Baumbachs Film ist es die junge Enkelin des alten Bildhauerpatriarchen Harold, die als einzige in der Loser-Sippe die Künstlerehre weiterträgt. Sie beginnt nämlich ein Filmstudium und fertigt schon einmal grell beleuchtete, wild assoziative Digitalclips. Das alte Kino, so scheint es, kommt an den neuen visuellen Formeln nicht mehr vorbei, aber verdaut hat es sie auch noch nicht so recht. Dazu passt, dass in Cannes allen Ernstes erhitzt darüber diskutiert wird, ob Werke, die für Netflix (oder den Konkurrenten Amazon) gefertigt wurden, überhaupt auf dem Filmfest gezeigt und bewertet werden dürfen. Es sind nämlich zwei Netflix-Produktionen ins Wettbewerbsprogramm geraten und Jurypräsident Pedro Amodòvar hat sich zu der Bemerkung hinreißen lassen, ein Film, der nicht im Kino laufe, verdiene auch keinen Preis. Die Cannes-Verantwortlichen haben fürs kommende Jahr die Regeln geändert. Ein Film, der keinen Kinostart in Frankreich aufweist, wird nicht mehr zugelassen.

Szene aus Noah Baumbachs Szene aus Noah Baumbachs "The Meyerowitz Stories"


Natürlich zweifelt niemand daran, dass neue Produktions- und Auswertungsstrukturen auch eine andere Ästhetik hervorbringen. Aber ist es möglich (und denkbar), die Althergebrachte zu konservieren, indem man die Parole ausgibt, gar nicht erst hinzuschauen? Ein Beispiel für die Absurdität der Debatte ist Baumbachs Film. Der Regisseur hat ihn unabhängig finanziert und auf gutem alten 16-mm-Zelluloid gefilmt. In der Postproduktion ist es ihm dann aber gelungen, die Rechte an Netflix zu verkaufen.

Es gibt allerdings ganz andere Gründe, daran zu zweifeln, ob die "Meyerowitz-Stories" auf ein Festival gehören. Der Film ist nämlich die viele Aufmerksamkeit eigentlich nicht wert. Er ist ein typisches Beispiel für die Bequemlichkeit, mit der Festivals in den letzten Jahren auch ihre Programme füllen. Baumbach ist mit gefälligen, geschmeidig erzählten und intellektuell aufgeladenen Filmen über Stadtneurotiker in New York zum Großmeister des Independent-Kinos aufgestiegen. Es sind Filme, die als nicht ganz dumme Zerstreuungsware durchaus ihre Berechtigung haben. Der neue Film ist aber nun von einer so ausufernden Harmlosigkeit, dass sie die Frage aufwirft, ob derlei das Kino jemals weitergebracht hat. Es gibt in den "Meyerowitz-Stories" keine Entwicklung zwischen den Figuren und keiner der Konflikte ist existenziell. Auf Netflix könnte das - auch dank der Stars - funktionieren. Einen Preis fürs Weltkino braucht es aber nicht.

Da ist Hanekes Film schon von anderem Kaliber. "Happy End" erntete zwar bei seinen ersten Pressevorführungen einige Buhrufe, und es fehlt ihm auch manchmal an der zwingenden Konsequenz früherer Filme. Aber auch bei diesem Film steht der Blick auf Familieninnerlichkeiten eben nicht für einen Rückzug aufs Allgemein-Menschliche, wie bei Baumbach. Sondern für eine fragile, ignorante, fraktionierte Gesellschaft. In "Happy End" ist es Pierre, das schwarze Schaf der Familie, der als Geschäftsführer der Baufirma versagt. Als seine Mutter Anne (Isabelle Huppert) in einem großen Bankett am Ende ihre Verlobung zelebriert (mit jenem Banker, der die Herrschaft über die Familienfirma übernimmt), bricht Pierre, inzwischen ein depressiver Säufer, mit einer Gruppe afrikanischer Flüchtlinge in die Veranstaltung. Wir sind immerhin in Calais, die (inzwischen geräumten) Lager am Kanaltunnel sind nicht weit. Einmal noch kann die Familie den Eklat abwenden, man bringt Pierre zur Ruhe und deckt für die Flüchtlinge einen Katzentisch ein.

Und damit sind wir bei der Politik, die in expliziter Form bislang eher abwesend ist in Cannes. Da ist zwar der Jean-Luc-Godard-Film "Le Redoutable" des französischen Regisseurs Michael Hazanavicius, Cannes- und Oscar Gewinner (mit "The Artist"). Und dieser Film spielt auch noch genau 1968, als Godard mit ein paar Verbündeten das Festival sprengte. Doch das revolutionäre Paris und der revolutionäre Kinoanspruch Godards werden in diesem Biopic zur anekdotischen Attitüde. Da räkeln sich Godard und seine Freunde während des Sturms im Landhaus eines gaullistischen Medienmagnaten. Und Godard (Louis Garrel) ist ein schlechtgelaunter, im Leben, in der Politik, der Kunst und der Liebe Gescheiterter. Um die Liebe vor allem geht es, weil sich Hazanavicious schön anzusehender aber aussageloser Film auf die Beziehung von Godard und seine zweite Ehefrau Anne konzentriert. Statt Politik schon wieder Familienkonflikte!

Vielleicht sollte man erst einmal damit aufhören, Filme über scheiternde Künstler zu machen. Der Wettbewerb in Cannes wartet noch auf neue Helden.

Lutz Meier