Im Kino

Schweben lernen ist schwierig

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Thomas Groh
11.01.2017. Damien Chazelles versucht sich in "La La Land" an einer konservativen Selbstbesinnung des Musical-Genres. In Zhang Yimous "The Great Wall" stürzt sich Matt Damon an der Seite chinesischer Truppen in den Kampf gegen Killerkröten.


Der "top hat" hängt am Nagel, ein eleganter Stock und die blütenweißen Handschuhe rahmen ihn ein. So beginnt nicht dieser, sondern ein anderer Film, aber die Gesten ähneln sich. Was Vincente Minnellis "The Band Wagon" (1953) mit jener ersten Einstellung einst über den sich gerade neu erfindenden Fred Astaire verriet, das behauptet "La La Land" nun vom goldenen Hollywood-Musical an sich: Der König braucht zwar neue Klamotten, aber er bleibt in jedem Fall der König. "Presented in CinemaScope" posaunt es majestätisch im Vorspann und doch müssen sich die Seitenränder der Leinwand erst einmal wie unter einem ironischen Ächzen zu ruinöser Größe aufblähen. Unter anderen Umständen könnte man ein dekadentes Vergnügen erwarten. Die Reanimation des Musicals, fitgespritzt mit den Mittelchen von 2016. Aber Regisseur Damien Chazelle hat Seriöseres im Sinn.

Denn "La La Land", dem gerade sämtliche Herzen und Goldpokale zufliegen, ist weniger die revolutionäre Neuerfindung eines Genres, wie oft behauptet wird, als vielmehr seine konsequente und mithin konservative Selbstbesinnung. Obwohl Chazelle seinem Film Kleider in den Farben des schon siechen 1950er-Jahre-Musicals anzieht und ganze Referenzkaskaden von "An American in Paris" und "Singin' in the Rain" bis "West Side Story" inszeniert, sind es tatsächlich die Prototypen des Hollywood-Musicals aus den 1930ern, denen er sich verpflichtet fühlt. Filme aus einer Zeit, als das staunenswerte Tanzen und Singen alleine noch geholfen haben und die fiebrigen Überbietungswettläufe der späten Jahre fern schienen.

Das beginnt in "La La Land" schon beim Plotgerüst, das die klassische Romanze wieder ins Zentrum rückt: Mia (Emma Stone) und Sebastian (Ryan Gosling) sind junge Künstler, die in Los Angeles, der Stadt der Träume, ebendiese zu verwirklichen suchen. Sie eine Schauspielerin mit Ambitionen auf eine eigene Show, er ein (offen gesagt ziemlich schmusiger) Jazz-Pianist, der Thelonious Monk und Charlie Parker verehrt und vom eigenen Musikclub träumt. Ihre Wege kreuzen und sie verlieben sich und doch zerreiben sie sich weiterhin zwischen ihren Idealen und den überlebenssicherenden Anpassungen an eine Gegenwart, die nicht so recht ihre eigene zu sein scheint. Während Mia sich von einem drittklassigen Soap-Casting zum nächsten hangelt, wird Sebastian von Musikerfreund Keith (R&B-Star John Legend) gefragt, wie er denn ein Revolutionär und zugleich ein derartiger Traditionalist sein könne. Prompt landet Sebastian als Knöpfchendrücker hinter den Synthesizern von Keiths Band. Wenn das Charlie Parker wüsste...



Dass "La La Land" für den Jazzer Sebastian keine Transformationsmöglichkeiten innerhalb seiner eigenen Musikrichtung vorsieht, könnte man als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack milde übergehen. Aber so wie in Chazelles Film die befreienden Exzesse von modalem und Free Jazz für Sebastian keine Rolle spielen, so wenig interessieren den Film die Spätausläufer des Musical-Genres jenseits ihrer optischen Appetitlichkeit. Was bei Minnelli, Howard Hawks oder Frank Tashlin fröhlich frivol, überbordend, manchmal deviant und oft durchlässig für die Grenze zwischen Sex und Gender war, das soll in "La La Land" bloß noch gut aussehen. Chazelle vertritt trotz aller Buntheit einen im Grunde diätischen Klassizismus, in dem Emma Stone und Ryan Gosling so alltagsnatürlich über ihre Romanze singen und tanzen sollen wie einst Fred Astaire und Ginger Rogers. Darin allerdings zeigt sich "La La Land" als ein angelernter Film, so mustergültig wie gehemmt. Stone und Gosling machen ihre Sache sehr gut. Sie singen und tanzen wie aus dem Bilderbuch und wahnsinnig charmant sind beide obendrein. Aber jeder weiß, dass Astaire und Rogers nicht tanzten, sondern schwebten. Und Schweben zu lernen ist schwierig.

Derlei unfaire Vergleiche würden sich verbieten, wenn "La La Land" sie durch seine pietätvolle Klassikertreue nicht provozieren würde. Bezeichnenderweise ist der Filme gerade dort am schönsten, wo er sich selbst einmal die lange Leine erlaubt, eine Spur weniger sauber wird und fernab aller Selbstzwänge die pure Kinetik auf die Leinwand malt. Die zurecht vielgepriesene Massenchoreographie des Anfangs im Freeway-Stau von Los Angeles gehört dazu. Ebenso jene Szene, in der Mia und Sebastian im Griffith Observatory als Referenz an "Rebel Without a Cause" zwischen den Sternen tanzen. Komponist Justin Hurwitz setzt mal auf einen Bernstein-inspirierten Blechbläser- und Schlagwerkmotor, dem wie im Finale einer Beethoven-Symphonie hochzüngelnde Flöten die letzte Ekstase einpeitschen, mal glasiert er impressionistische Seidenmalerei mit Korngold-Zuckerguss. Keine Frage: Das kann was. Und dann dieser Schluss: Auf den letzten Metern versöhnt Chazelle fast noch den Realismusstrang mit postklassischem Musical-Overdrive, wenn "La La Land" eine bittersüße Wendung nimmt. Selbstverwirklichung gibt es nämlich nur zu Höchstpreisen, die Liebe eingeschlossen. Doch dann erzählt sich der Film in einer sensationellen, betörenden Sequenz einfach noch einmal ganz neu. Plötzlich ist für einen langen Moment alles da, frei und verrückt, kitschig und kindisch, Hören, Sehen und Staunen.

Janis El-Bira

La La Land - USA 2016 - Regie: Damien Chazelle - Darsteller: Ryan Gosling, Emma Stone, J.K. Simmons, John Legend, Claudine Claudio, Jason Fuchs, Finn Witrock - Laufzeit: 128 Minuten.

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Der berühmte Globus der Universal Studios erzählt in seiner aktuellen Version bekanntlich nur die halbe Wahrheit: Mit dem Fokus auf den Atlantik liegen die beiden einstmals wichtigsten Filmmärkte - USA und Europa - zwar anschnittsweise im Blick, doch mit den aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten hat dieses Bild immer weniger zu tun. Wenn in Zhang Yimous "The Great Wall" (finanziell gesehen eine amerikanisch-chinesische Koproduktion, die hinter der Kamera allerdings weitgehend auf amerikanisches Personal zurückgreift) der Globus zu Beginn nun einfach weiter- und den bislang unterschlagenen asiatischen Kontinent nach vorne dreht, ist das nicht nur ein Scherz am Rande, weil der Film nunmal in China kurz nach der Fertigstellung der Großen Mauer spielt. Man kann darin auch einen Kommentar zum, wenigstens aber ein Symptom des neuen Verhältnisses zwischen China und Hollywood sehen.

Dazu etwas Hintergrund: Dass die großen Blockbuster der letzten Jahre Nebenrollen bevorzugt mit chinesischen Schauspielern besetzen oder für kleine Handlungspassagen nicht selten unmotiviert nach China wechseln, hat mit dem atemberaubenden chinesischen Kino-Bauboom der letzten Jahren zu tun, der entsprechend ausgeprägte Marktbegehrlichkeiten der USA zur Folge hat. Kein Wunder: Deren Binnenmarkt reicht zur deckenden Refinanzierung teurer Großproduktionen immer seltener aus. Eine filmhistorisch neue Situation: Früher brachte der eigene Markt die Filme in der Regel bereits in die Gewinnzone, der Export machte den Braten richtig fett. Jedoch unterliegt der chinesische Markt enormen Zugangsschwellen: Der Import ist stark quotiert und unterliegt oft peinlichen Zensurauflagen (Paul Feigs "Ghostbusters"-Remake beispielsweise hatte wegen der Vorbehalte gegenüber Spuk und Aberglaube keine Chance, auch wenn sich der Film redlich mühte, mit wiederkehrenden Fastfood-Gags hinreichend China-Content in sein New Yorker Setting zu bugsieren).

Deutlich bessere Karten haben Produzenten, wenn sie sich auf eine formal chinesische Co-Produktion einlassen. Die Sympathien beim Publikum, das es liebt, wenn chinesische und amerikanische Kultur in irgendeiner Hinsicht aufeinander prallen, gewinnen sie über entsprechende Casts und Setpieces. Die Auswirkungen auf die Filmproduktion erschöpfen sich allerdings nicht in solchem Alibi-Zierrat: Schon jetzt werden Sequels selbst dann in Auftrag gegeben, wenn die Filme in Europa und den USA zwar unter den Erwartungen blieben, in China aber punkten konnten.

"The Great Wall" verkörpert nicht nur wegen des aktiv zur Handlung hinführenden Universal-Globus so etwas wie einen Meta-Kommentar zu diesem neuen wirtschaftlichen Verhältnis, auch der Inhalt zeigt eine ähnliche Richtung an: Matt Damon und Pedro Pascal spielen zwei hemdsärmelige westliche Abenteurer-Söldner (ein im westlichen Kino lange präsenter Archetyp, der hier wie eine nostalgische Spur wirkt), die auf der Suche nach dem Geheimnis des Schwarzpulvers nach China kommen. Dort geraten die vor Schmutz starrenden Raubeine in die Gefangenschaft des edel-erhabenen, kulturell hoch stehenden chinesischen Militärs. Das setzt sich an der Großen Mauer mit avanciertester Militärtechnologie (und selbst noch im Kampfgetümmel auf ästhetischen Liebreiz ausgerichteten Rüstungen) gegen die schier unüberschaubare Armada der werwolf-krötigen Taotie-Monster zur Wehr, die China als Hort der Zivilisation zu überrennen drohen und von dort aus zum Spurt auf die restliche Welt ansetzen könnten. Beeindruckt von der chinesischen Ehr- und Pflichtkultur beschließt der edlere der beiden Abenteurer, sich den Chinesen im Kampf anzuschließen. Natürlich ist das Matt Damon, dessen Ritterlichkeit ihm schon ins Gesicht geschnitzt ist, ganz im Gegensatz zu den Verbrechervisagen von Pedro Pascal und Willem Dafoe, der für einen läppischen Subplot ebenfalls kurz "Hallo" sagen darf.



Um es kurz zu machen: Als Abenteuerfilm taugt "The Great Wall" kein Stück. Die als Heldensaga mit historischem Kolorit rund um den Bau der chinesischen Mauer annoncierte Geschichte erweist sich als Hin-und-Her-Gerangel mit blödsinnigen Fantasy-Kröten, die gemessen am state of the art in Sachen Visual Effects zu allem Unglück auch noch, sorry, ziemlich Scheiße aussehen, dafür aber millionenfach das Bild bevölkern. Überhaupt lässt die zwischen holzknarrender Militärtechnik und schillernden Rüstungen changierende Schlachtfeld-Ästhetik des Films mit ihren Braun- und Grautönen wenig Raum für den gediegen-filigranen Edelkitsch, den Zhang Yimou in renommierten Arthousefilmen und auch schon in Martial-Arts-Epen kultiviert hatte. Der Plot selbst folgt Versatzstücken, bleibt auch wegen der wenig charismatischen Darsteller im wesentlichen eine leblose Abfolge von Entwicklungen, die auf eine invertierte Pocahontas-Variante abzielen.

Kein guter Film - aber interessant als Liebesbrief Hollywoods an China, der unterschwellig vielleicht einen Ausblick gestattet auf die sich in den kommenden Jahren sicher noch einschneidend verändernde geopolitische Großwetterlage (und das nicht nur, weil der pathetische Prolog als Lobgesang auf die Meriten der chinesischen Mauer wie eine vorauseilende Apologetik von Trumps ähnlichen Bauvorhaben in den USA klingt): Wie Damon und Pascal zu Beginn buchstäblich als Zaun-, bzw. Mauergäste der ersten großen Schlacht zwischen China und Taotie beiwohnen und sich staunend in die Leistungskraft der Chinesen verlieben ist ein drängendes allegorisches Bild.

Gleiches gilt für die im Film immer wieder verhandelte Frage, was die chinesische und die westliche soldatische Kultur miteinander gemeinsam haben könnten: Söldnerseele Damon gibt sich als westliche Unternehmerseele und Individualist zu erkennen. Er kämpft für Brot und Geld, gleich unter welcher Flagge. Sein chinesisches Gegenüber, die Soldatin Lin Mei (Tian Jing),kämpft unterdessen, wie ihre Kampfgenossen, in braver Unterwürfigkeit und blinder Treuergebenheit für das höhere Gut der eigenen Kultur. Ein Punkt, den Regisseur Zhang Yimou auch bei seiner pompösen, für die Darsteller aber immens strapaziösen Inszenierung der Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele in China 2008 stark gemacht hat: Die Darsteller "befolgen Befehle. Ausländer bewundern das. Das ist der chinesische Geist."

Über weite Strecken wirkt "The Great Wall" denn auch wie ein Manifest der Überlegenheit Chinas gegenüber dem Westen und dessen Verführbarkeit durch solche Überlegenheitsnarrative. Die besonderen Rahmenbedingungen erfordern es freilich, dass auch das Narrativ vom weißen Helden, der sich in der exotischen Ferne tapfer schlägt, schlussendlich zu seinem Recht kommen muss. Das macht aus "The Great Wall" als weitgehend amerikanische Produktion, in der über weite Strecken Mandarin gesprochen wird, einen sonderbaren Zwitterfilm, der kaum als mitreißender Unterhaltungsfilm, sondern vor allem als symptomatisches Dokument seiner historischen Konstellation in Erinnerung bleiben wird.

Thomas Groh

The Great Wall - USA, China 2016 - Regie: Zhang Yimou - Darsteller: Matt Damon, Pedro Pascal, Willem Dafoe, Jing Tian, Andy Lau, Eddie Peng - Laufzeit: 103 Minuten.