Im Kino

Weltensprengung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
02.11.2016. Werner Herzog blickt bei seiner ewigen Suche nach der ekstatischen Wahrheit in den Schlund des Vulkans: "In den Tiefen des Infernos" startet nicht im Kino, aber dafür auf Netflix. Chad Hartigans "Morris aus Amerika" schickt einen schwarzen Jungen in die sehr deutsche real-life-Disney-Märchenstadt Heidelberg.


Werner Herzog geht bis zum Äußersten - seine Filme vermessen, für was der menschliche Sinn kein Maß hat, was die Vorstellung von Maß und Einfassung überhaupt für kleinlich und absurd erklärt. Zentrifugale Kräfte treiben seine Filme an: Als erster Filmemacher überhaupt hat er auf jedem Kontinent dieses Planeten Filme gedreht (und wenn sich ihm die Möglichkeit bietet, würde er jederzeit zum Mars aufbrechen). Mit "Die Höhle der vergessenen Träume" ist er in die Tiefe der Vergangenheit gereist, zu den ersten Versuchen menschlichen Handelns, sich von der Welt eine sinnlich-ästhetische Vorstellung zu machen. Zuletzt, in "Lo and Behold - Reveries of the Connected World", prospektierte er die Zukunft einer Menschheitsgeschichte, die von der Schubkraft des Internets und avancierter Technologien nach vorne getrieben wird. Raum und Zeit - Herzogs Werk umspannt das Dasein des Menschen. Und entgegen seines Rufs ist er dabei auch noch ungeheuer witzig.

Werner Herzog geht bis zum Äußersten - auch bis zum Rand des Kraters eines aktiven Vulkans, in dem das Erdinnere glühend rot zu Tage tritt, wabert und spuckt. Was ihm in seinem wahnwitzig deliranten, halbstündigen Bericht "La Soufrière - Warten auf eine unausweichliche Katastrophe", für den er mit kleinem Team eigens in ein evakuiertes Gebiet rund um einen Vulkan reiste, der jederzeit auszubrechen drohte, wegen giftigen Gas-Eruptionen noch nicht ganz gelungen war, holt er nun in der Netflix-Produktion "In den Tiefen des Infernos" dank moderner Drohnen-Technologie nach: Lava-Eruptionen, dämonisch fauchend, übermenschlich erhaben, verweisen den Menschen auf eine demütigere Position - und doch bannt der Mensch sie in ekstatischen Bilder. Die archaischen Menschheitsgesellschaften haben die Naturgewalten ja auch schon zu Göttern erklärt, sich ein Bild von ihnen gemacht und in Geschichten von ihnen erzählt.

Auf der Suche nach der ekstatischen Wahrheit interessiert Herzog nicht bloß der bombastische Bildeindruck. "In den Tiefen des Infernos" ist keine Neuauflage von "Lektionen in Finsternis" von 1992, Herzogs umstrittenem, seinerzeit missverstandenen Essayfilm, der die brennenden Ölfelder Iraks ohne weiteren Kommentar ins Erhabene ästhetisierte. Vielmehr geht es ihm und seinem Kollaborateur, dem Vulkanologen Clive Oppenheimer, den Herzog bei den Dreharbeiten zu seinem Antarktis-Film "Encounters at the End of the World" kennengelernt hat und der sich im Vorspann einen gleichberechtigten Credit mit dem Filmemacher teilt, um die kulturstiftende Funktion von Vulkanen - das kataklysmische (beim Ausbruch von Supervulkanen sogar das Leben auf der Erde generell bedrohende) Ereignis als langfristig schöpferische Kraft. Bei indigenen Gemeinschaften, die in der Nähe aktiver Vulkane siedeln und mitunter Cargo-Kult-artige Religionen ausprägen, in den alten Mythologien auf Island, bei den über den Globus verstreuten Wissenschaftskulturen oder auch in Nordkorea, wo der Paektusan in der soziokulturellen und politischen Mythologie einen zentralen Stellenwert einnimmt und daher nicht nur die Kulisse für die allgegenwärtige Propaganda bildet, sondern für die Bevölkerung auch einen religiös aufgeladenen Wallfahrtsort darstellt: Der Legende nach soll Kim Il-sung hier den Widerstand gegen die japanische Besatzung organisiert haben und sein Sohn Kim Jong-Il hier auf die Welt gekommen sein - die Kraft des Vulkans als Sinnbild koreanischer Widerständigkeit.

(Wie folgerichtig es, nebenbei bemerkt, auch ist, dass Herzog als ekstatischer Spät-Humboldtianer des Weltkinos nun auch einer der wenigen ausländischen Filmemacher ist, die im berüchtigt isolierten Nordkorea gedreht haben - wobei selbst ihm dort, wie er im Voiceover anmerkt, die Hände gebunden waren, was Bilder abseits repräsentativer Zur-Schau-Stellungen betrifft. Dass mitten in einem Film über Vulkane ein faszinierter Exkurs über die faschistoiden Massen-Choreografien nordkoreanischer Propaganda-Spektakel auftaucht, bei denen Zehntausende mittels Farbkartons zu "menschlichen Pixeln" werden, ist auch wieder typisch Herzog.)



Werner Herzog und das Äußerste also. Wenn man so will, erweitert der bayerische Auteur sein Projekt der grenzensprengenden Erfahrung um eine tiefengeologische Dimension - Vulkane treten zwar, gottlob, nur punktuell auf der Oberfläche unseres Planeten auf und gestatten damit einen kleinen Einblick in den Schmelztiegel, aus dem heraus die Erde hervorgebracht wurde. Doch immer wieder kommt Herzog darauf zu sprechen, dass die dunkelorange wabernde, von Kameramann Peter Zeitlinger grandios eingefangene Lava nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellt: Wir alle bewegen uns, von einer dünnen Kruste abgetrennt, auf diesem gleißenden Meer. Noch tiefer dringt Herzog in die frühesten Episoden der Menschheitsgeschichte ein, wenn er in einer der witzigsten Szenen des Films Fossiljägern beim Fegen der wüsten Wiege der Menschheit in Äthiopien über die Schulter schaut. Der Paläoanthropologe Tim D. White sieht dabei mit Kopftuch, Sonnenbrille, Jeans und vorgeschobenem Kinn ein bisschen aus wie der alte Klaus Lemke, und ist auch in seinem wild gestikulierenden Rock'n'Roll-Habitus nicht weit weg vom Münchner Bad Boy des deutschen Films: Für einen Moment wird eine unscheinbare Staubfläche zum Casino von Las Vegas und die fossilen Knochensplitter unserer Urahnen zum Hauptgewinn. In Herzogs im Laufe der Jahre stattlich angewachsenen Schmetterlingsalbum durchgeknallter Wissenschaftler, die als wahre Außenseiter einen wahnwitzigen Tanz an den Rändern des Globus aufführen, ist Tom D. White ein großartiger Neuzugang.

Zuletzt wirkte Herzog ein wenig aus der Balance. Nicht, dass seine jüngsten Filme schlecht gewesen wären. Aber auffällig oft reduzierten sich seine Dokumentarfilme auf "talking heads" und markierten den Herzog'schen Irrsinn eher als Eigenreferenz. Seine jüngsten, sichtlich mit Budget-Restriktionen hadernden Spielfilme "Königin der Wüste" und "Salt & Fire" (ebenfalls ein Vulkanfilm, demnächst im Kino) sind eher nur für Hardcore-Herzogianer goutierbar. "In den Tiefen des Infernos" ist insbesondere auch ästhetisch wieder eine Rückkehr zur alten Form, zur großen, archaischen Oper.

Bleibt nur zu wünschen, dass Herzog sich nun endlich, endlich einmal des Tunguska-Ereignisses von 1908 in der sibirischen Taiga annimmt. Was für ein grandioser Herzog-Film doch in diesem Stoff über eine weitere Facette der kataklysmischen Weltensprengung stecken muss - Herr Herzog, gehen Sie auch weiter bis zum Äußersten!

Thomas Groh

In den Tiefen des Infernos - USA 2016 - OT. Into the Inferno - Regie: Werner Herzog - Laufzeit: 104 Minuten.

"In den Tiefen des Infernos" ist seit 28. Oktober auf Netflix verfügbar. Der erste, ohne weiteres kündbare Probemonat ist kostenfrei.

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Heidelberg ist mit seiner pittoresk-niedlichen Altstadt, deren bunten Fassaden, dem über ihr thronenden, putzigen, fast ein wenig ins rosafarbene spielenden Schloss von Amerika aus betrachtet vermutlich eine Art Essenz des alten Europa. Das schaut ein bisschen übertrieben, fast aufdringlich europäisch aus, außerdem ist alles niedlich herausgeputzt und blank poliert, die ebenfalls sehr europäische Tendenz zum Verfall, zum Bröckelnden, Morschen hat in der nordbadischen real-life-Disney-Märchenstadt keine Chance.

In diese aus einer Innenperspektive vermutlich nur allzu leicht als einengend empfundene Kulisse setzt der Regisseur Chad Hardigan einen schwarzen amerikanischen Jungen: Den 13-jährigen Morris (Markees Christmas) hat es wegen seines Vaters (Craig Robinson, bekannt aus dem amerikanischen "The Office"), der bei einem örtlichen Fußballverein im Trainerstab arbeitet, nach Deutschland verschlagen. Er selbst ist rundlich, introvertiert, nerdig, streitet sich mit seinem Vater darüber, was guter und was schlechter Hiphop ist, lernt bei einer sympathischen, aber manchmal etwas übereifrig um ihn besorgten Studentin deutsch, sonst bleibt er zumeist für sich.

Damit er Kontakte knüpft, schickt sein Vater ihn in eine Jugendgruppe, da sitzt Morris etwas abseits hinter einer Horde Teenies, alle sehr weiß, sehr deutsch, ein bisschen fake schauen sie außerdem aus, als seien sie einer Bravo-Fotolovestory der 1990er entsprungen - ganz besonders gilt das für den die blonden Haare fesch nach oben gegelten DJ-und-Motorradfahrer-Freund von Katrin (Lina Keller), dem Mädchen, in das sich Morris verliebt. Die blonde, ein paar entscheidende Jahre ältere Blondine freundet sich mit dem Amerikaner an, teils, um sich mehr oder weniger liebevoll über ihn lustig zu machen, teils, um  gegen ihre - siehe oben - sehr weiße Umwelt mit einem schwarzen Freund zu rebellieren, über dessen Penisgröße sie außerdem spekuliert.



Alltagsrassismus bleibt ansonsten weitgehend eine Art Hintergrundrauschen, das in einem Ort wie Heidelberg mit Vorliebe im Gewand liberaler Besorgtheit daher kommt - besonders schlimm ist der Jugendgruppenleiter, der zu Beginn erst einmal Marc Aurel zitiert, aber sofort an seinen einen schwarzen Schützling denkt, wenn er im Wald einen Joint finde. Ansonsten verschreibt sich "Morris aus Amerika" ganz der Perspektive seiner Hauptfigur, eines weitgehend in sich selbst verschlossenen Jungen, der ein erstes Interesse an Sex entwickelt, das vorläufig noch nicht allzu stark artikuliert ist und zwischen Trockenkopulation mit dem Kopfkissen und den "fucking all the bitches, two at the time"-Fantasien seiner Freestyleraps changiert.

Ein fast ausgestellt kleiner Film ist das, mit einer klaren Kameraführung, die zwar nicht allzu viel Interesse daran hat, dem Schauplatz Heidelberg mehr abzuringen als heile-Welt-mit-Fahrradwegen-neben-den-Straßenbahngleisen-Klischees; die sich aber umso aufmerksamer den durchweg hervorragenden Darstellern zuwendet, ihren Gesichtern vor allem, ohne dabei je in jene aufdringliche Handkamera-Hektik zu verfallen, die amerikanische Indiefilme ansonsten nicht selten prägt. Manchmal verfügt er dabei etwas arg selbstverständlich über die Innerlichkeit seiner Figuren. Insbesondere Morris möchte man gelegentlich nicht nur gegen die garstigen Deutschen, sondern auch gegen einen Film verteidigen, der ihn in affektive Reiz-Reaktions-Schemata presst, wenn er ihn mal mit einem Lächeln der Angebeteten beschenkt, mal mit harscher Zurückweisung züchtigt. Aber im Kleinen gelingen tolle szenische Beobachtungen - wenn zum Beispiel Morris hinter einem Zaun stehend nach Katrin ruft, und sich zuerst nur ihre beiden Freundinnen nach ihm umdrehen, registriert der Film sehr genau den kurzen Moment der Peinlichkeit, sowie die Überwindung, die es den Jungen kostet, ein zweites Mal seine Stimme zu heben.

Die wenigen Extravaganzen, die sich Hardigan leistet, sind fast durchweg von der Musik her gedacht: Mal bewegt sich die Kamera, wie in einem Rapvideo, in einem flüssigen, elastischen tracking shot über einen Hof, auf dem junge Menschen leger beieinander stehen; mal stellt sich Morris vor, dass im Museum nicht nur die anderen Besucher, sondern sogar die Gemälde im Takt der Musik wippen, die aus seinem Kopfhörer schallt. Der schleichende Wechsel auf der Soundspur vom staubtrockenen 1990ies-Hiphop, den Morris von seinem Vater als musikalisches Ideal eingeimpft bekommen hat, zu den tumb-euphorisch vor sich hin wummernden Elektrobeats, die Katrin bevorzugt, stellt einen - vielleicht notwendigen, aber aus ästhetischer Perspektive hoffentlich nicht irreversiblen - Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden dar.

Lukas Foerster

Morris aus Amerika - Deutschland/USA 2016 - Regie: Chad Hartigan - Darsteller: Markees Christmas, Craig Robinson, Lina Keller, Carla Juri, Patrick Güldenberg, Levin Henning - Laufzeit: 91 Minuten.