Im Kino

Endlich geküsst

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
10.08.2016. Von unbedingtem Sendungsbewußtsein geprägt ist Malcolm D. Lees schöner Ensemblefilm "Barbershop: The Next Cut". Leider bis auf weiteres nicht in den deutschen Kinos: Steven Chows Wundertüte von einem Blockbuster "The Mermaid".


"Chicago, let's do this!" - Chicago ist die Stadt, damit beginnt der Film, die die Hochhäuser erfunden hat, die Stadt von Motown, Kanye West und Oprah, nicht zuletzt auch die Stadt, in der Barack Obamas politische Karriere begann. Leider muss die Eingangsmontagesequenz noch ein paar andere Bilder und Töne anhängen: Blaulicht, Schüsse, polizeiliche Zugriffe (und die zugehörigen Satellitenaufsichten), martialisch posierende harte Jungs. Chicago ist außerdem die Mordhauptstadt der USA. Zwischen beidem, zwischen der aufregenden Tradition amerikanischer, vor allem schwarzer amerikanischer, urbaner Populärkultur und der Alltagsgewalt, die ganze Stadtviertel in Kriegsgebiete zu verwandeln droht, platziert die Montagesequenz, platziert der Film: einen Friseursalon.

"Barbershop: The Next Cut" ist bereits die zweite kinematographische Reaktion auf die weiterhin nicht eindämmbare Gangkriminalität in der drittgrößten US-Stadt. Letztes Jahr widmete Spike Lee der Entwicklung einen seiner wütendsten, energetischsten Filme: In dem lose auf Aristophanes' "Lysistrata" basierenden Hip-Hop-Musical "Chi-raq" beschließen die Frauen der windy city, dass sie genug Tränen um ihre Männer, Söhne und Väter vergossen haben; und starten lieber einen Sex-Streik, der nicht nur die Libido der Gangmitglieder unter Stress setzt, sondern bald die Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft erschüttert.

In "Barbershop: The Next Cut" ist die Intervention weniger fundamental, zumindest auf den ersten Blick. Calvin Palmer, Jr. (Ice Cube), der Besitzer eines Friseursalons mitten im Gefahrengebiet, bietet den Gangs einen Deal an: Wenn Ihr Euch auf eine Waffenruhe einigt, schneiden wir Euch - und allen anderen - in den nächsten 18 Stunden umsonst die Haare, für einen Zeitraum von 24 Stunden. Marxisten könnten das so lesen, dass da für einmal der Hauptwiderspruch korrekt identifiziert wurde; dem Film geht es freilich nicht um einen Eingriff in die Produktionsverhältnisse, sondern um community building. In dieser Hinsicht ist "Barbershop: The Next Cut" nicht nur die bereits zweite Fortsetzung des ähnlich gelagerten ersten "Barbershop"-Films von 2002, sondern Teil einer Genretradition, die sich mindestens bis "Car Wash" zurückverfolgen lässt. Wie die Autowaschanlage im black-cinema-Klassiker von 1976 ist der Friseursalon auch im kapitalistischen Normalbetrieb nicht nur ein Wirtschaftsunternehmen, sondern gleichzeitig ein zentraler, inklusiver Treffpunkt der Nachbarschaft. Genauer: Eine Bühne, auf der die Nachbarschaft sich selbst aufführt. Tatsächlich spielt der Film, der nicht nur in dieser Hinsicht wie eine überlange Sitcom-Episode wirkt, fast durchweg in einem einzigen Raum.

So geht es im neuen Film zwar gelegentlich auch darum, die Familiengeschichte der Palmers fortzuschreiben; deutlich mehr Raum nehmen allerdings die vielen kleinen Nebenerzählungen ein, die die Mitarbeiter und Kunden des Salons zu einem sozialen Mikrokosmos verknüpfen. Wobei der Film da gelegentlich an eine innere Grenze stößt, die mit seinem unbedingten Sendungsbewußtsein zu tun hat: In "Car Wash" oder auch noch im ersten "Barbershop" ging es primär um eine phänomenologische Erschließung von Alltag, aus der sich erst in einem zweiten, halbwegs organisch vermittelten Schritt die sozioökonomische Analyse ergab. "Barbershop: The Next Cut" funktioniert umgekehrt, geht aus von politischen Diagnosen und konstruiert um diese herum eine Welt.



Diese Welt emanzipiert sich allerdings durchaus hinreichend von den ihr zugrunde liegenden Thesen. Dass Malcolm D. Lee, der seit 1999 ein kleines, interessantes Werk in der profitablen black-cinema-Nische Hollywoods geschaffen hat, seine Antwort auf die fortgesetzte Tragödie der Southside (denn tatsächlich geht es nicht um die ganze Stadt; für die Bewohner der wohlhabenden Gegenden im Norden bleibt das Problem auf der Ebene von Stastiken und Zeitungsmeldungen) ein paar Nummern kleiner, partikularer anlegt als Spike Lee das tut, erkennt man bereits daran, dass das umfangreiche Figurenensemble abgesehen von einem indischstämmigen Friseur ausschließlich aus Schwarzen besteht.

Hauptdarsteller und Produzent Ice Cube hat seine rabiaten gangsta-rap-Tage längst hinter sich gelassen; in "Barbeshop: The Next Cut" ist er in erster Linie der ruhende Pol, um den herum sich seine teilweise wunderbar exaltiert agierenden Coakteure austoben können. Der Film profitiert dabei von einem angenehm verschleppten Rhythmus, der wenig mit Erzählökonomie, viel mehr mit demokratischer Großzügigkeit zu tun hat: Jeder bekommt mindestens einen großen Auftritt, in jedem schlummern Talente, die zum Ausdruck drängen. Der Rapper Common etwa mag in seinen romantischen Szenen etwas ungelenk wirken, aber dafür legt er gegen Ende einen großartigen Breakdance-Auftritt hin. Ganz bei sich selbst ist der Film in den Szenen mit den Comedy-Profis Cedric the Entertainer und vor allem J.B. Smoove, die das Bühnenhafte der Anordnung voll auskosten.

Als kluger Schachzug erweist sich jedoch vor allem, dass der seinen Laden vorher als reinen Männersalon betreibende Palmer eine Geschäftsparterin und damit auch weibliche Kundinnen und Angestellte an Bord geholt hat - insbesondere Nicki Minaj als Stylistin Draya erweist sich als fulminanter Neuzugang: ein ständig brodelnder Vulkan, der das libidinöse Gleichgewicht im Salon nachhaltig erschüttert, eine lebende sexy Comicfigur, die nicht davor zurückschreckt, den amerikanischen Präsidenten mit einer engen Hose in den amerikanischen Nationalfarben aus der Fassung zu bringen. Indem die Frauen die Bühne betreten, eröffnen sie eine neue Front: Ist an sozialen Frieden überhaupt zu denken, solange das Geschlechterverhältnis fast nur über Kriegsmetaphern zu fassen ist? Darin trifft sich "Barbershop: The Next Cut" doch wieder mit "Chi-Raq" - wobei Malcolm D. Lees Film gleich doppelt optimistischer ist: Auch die härtesten Jungs werden weich, wenn man ihnen lange genug die Kopfhaut massiert. Und wenn am Ende des Films der vorher dauergedemütigte Nerd Jerrod endlich geküsst wird, deutet sich eine naheliegende Schlussfolgerung nicht nur für das schwarze Amerika an: Neue Männer braucht das Land.

Barbershop: The Next Cut - USA 2016 - Regie: Malcolm D. Lee - Darsteller: Ice Cube, Cedric the Eintertainer, Regina Hall, Sean Patrick Thomas, Eve, J.B. Smoove, Nicki Minaj, Common - Laufzeit: 111 Minuten.

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Der Geschäftsmann Liu Xuan kann nur müde lächeln, als er sieht, wie sich Shan, eine junge Frau, der er gerade, vor allem um sie loszuwerden, seine Telefonnummer zugesteckt hat, von ihm entfernt: Da ihr Unterkörper in einem schuppigen Fischkostüm steckt, kann sie sich nur in Trippelschritten bewegen. Solche Meerjungfrautänzerinnen tummeln sich auf der Party, die der skrupellose Xuan anlässlich eines erfolgreich abgeschlossenen Projekts schmeist, zu Dutzenden, als erotische Sensation für die wie alles im Film mit Liebe zum grotesken Detail ins monströs-Lächerliche überzeichnete kapitalistische Elite Chinas.

Ein paar Szenen später hat Shan die Party hinter sich gelassen und ihre Heimat erreicht. Sie wohnt im Innern eines ausrangierten Schiffes, das am Meerufer unter einer Klippe ankert, von einem Wasserfall begossen wird und in dessen Innern es ausschaut wie in einem psychedelischen Computerspiel (etwas älteren Datums; die in "The Mermaid" an jeder Ecke hervorfunkelnden computeranimierten Effekte sind nicht "auf dem Stand der Technik", weil nicht der fotorealistischen Mimesis, sondern lediglich ihrer eigenen awesomeness, beziehungsweise Steven Chows Spieltrieb verpflichtet). Hier angekommen, beginnt Shan sich auszuziehen. Und man erkennt: Nicht die Fischschuppen sind die Verkleidung, sondern die Schuhe, die hinten aus dem Kostüm hervorragen. In den Schuhen stecken keine Füße, sondern Flossen, unter dem falschen Schuppenkleid kommt ein echtes zum Vorschein.

Shan ist eine Meerjungfrau und als solche Teil eines Stamms von Fischmenschen, die jahrhundertelang recht problemlos ihre maritime Existenz fristen konnten, jetzt aber bedroht werden: Von Liu Xuan und dessen Killerechotechnologie, die Fische und andere Meeresbewohner terrorisiert - während der Produktdemonstration lässt eine Firmenangestellte mit gewinnendem Lächeln einen Goldfisch explodieren. Shan hatte Liu mit der Absicht aufgesucht, ihn zwecks späterer Ermordung zu umschmeicheln. Aber nachdem wenig später die ersten Tötungsversuche - unter anderem mithilfe von Seeigeln - scheitern, geschieht das Unvermeidliche: genau wie sich unter der falschen Seejungfrau eine echte verbirgt, verwandelt sich ihre falsche, zu Täuschungszwecken fingierte Verliebtheit in eine echte.



Und auch der Film hat nicht das geringste Problem damit, die rabiat-komischen Mordversuche ohne viel Aufhebens in von beschwingter Popmusik unterlegte romantic-comedy-Montagesequenzen kippen zu lassen. Wie in dem (von ihm maßgeblich mitgeprägten) goldenen Zeitalter des Hongkongkinos gelingt es dem Regisseur Steven Chow, das Rabiate unmittelbar neben das Süßliche, das Alberne mitten hinein ins Melodramatische zu stellen, ohne dass sich das schief und chaotisch anfühlen würde. Wenn der Film über alle Brüche und Tonlagenwechsel hinweg seinen Sog behält, dann liegt das vielleicht an einer euphorischen Grundstimmung der gesteigerten Geistesgegenwärtigkeit, die alle Szenen, unabhängig von ihrem narrativen oder affektiven Gehalt, gleichermaßen zu durchwirken scheint.

Soll heißen: "The Mermaid" ist eine regelrechte Wundertüte von einem Film, hinter jeder Plotwindung lauert gleich eine ganze Armada grandios durchgekallter Ideen, und jede einzelne von ihnen ist auf den maximalen Effekt hin durchgearbeitet. Mindestens ebenso spektakulär wie die Meerjungfrau ist zum Beispiel der Bösewicht des Films: die Geschäftsfrau Ruolan (Zhang Yuqi, schauspielerisch um einiges eindrücklicher als die Neuentdeckung Lin Yun in der Titelrolle). In ihr hat sich aggressives erotisches Begehren so lange mit Gewinnstreben amalgamiert, bis sie selbst das eine nicht mehr vom andern zu trennen weiß und am Ende in einer phallischen Ermächtigungsgeste zur Harpune greift. Wenn sie ihre Untergebenen entlässt, entfernen die sich grundsätzlich nur Purzelbäume schlagend. Das etwas tumbe Oberhaupt der Meeresbewohner wiederum, ein Kraken mit menschlichem Oberkörper und blonden Rastalocken, verarbeitet sich in einer durchaus verstörenden Szene selbst zu Sushi. Dann wäre da noch die Nummer mit Liu Xuan und zwei Polizisten, die zum Komischsten gehört, was ich in den letzten Jahren im Kino gesehen habe. Sowie eine unbedingt ernst gemeinte Ökologiemessage, ein erstaunlich blutiges Finale, sowie gleich im Prolog eine exquisite Gaga-Miniatur um ein "Museum of World Exotic Animals", die die Selbstreflexivität auf die Spitze treibt, mithilfe eines korpulenten Mannes mittleren Alters, der sich ebenfalls in ein Seejungfrauenkostüm zwängt.

Und das alles in gerade einmal 94 Minuten! So können Blockbuster also auch aussehen... "China, Du hast es bessser" möchte man angesichts der Unmengen an grobem Unfug, den das dortige kommerzielle Kino selbstverständlich auch (vielleicht mehr denn je) produziert, zwar trotzdem nicht unbedingt schreiben; aber der auteur von "The Mermaid" ist schon ein Schatz, um den die chinesische Filmindustrie nur zu beneiden ist. Chow war in den 1990ern der erfolgreichste Komödienschauspieler Hongkongs. Heute ist er der erfolgreichste Blockbusterregisseur des vielleicht bald schon größten Kinomarkts der Welt. Der Vorgänger "Journey to the West: Conquering the Demons" war 2013 der bis dahin erfolgreichste Film aller Zeiten an den chinesischen Kinokassen, "The Mermaid" gelang Anfang dieses Jahres dasselbe Kunststück noch einmal. Beides sind gleichzeitig waschechte Autorenfilme. Für die in deutschen Kinos, und das ist nun wirklich eine Schande, trotz gefühlt zwei Dutzend Neustarts pro Woche, kein Platz zu sein scheint.

Lukas Foerster

The Mermaid - China, Hongkong 2016 - Originaltitel: Mei ren yu - Regie: Steven Chow - Darsteller: Den Chao, Lin Yun, Show Luo, Zhang Yuqi, Kris Wu, Tsui Hark - Laufzeit: 94 Minuten.