Im Kino

Dystopie kann so sexy sein

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Patrick Holzapfel
30.06.2016. Hou Hsiao-Hsiens Schwertkampffilm "The Assassin" zeigt die ganze Anmut eines Kinos, das mit Enthüllen und Verbergen spielt. Ben Wheatleys Ballard-Verfilmung "High-Rise" berauscht sich in und an autonomen Türmen und den erotischen Spielen Tom Hiddlestons.


Es ist die leidige Frage: Worum geht es in einem Film? Als Filmkritiker ist man angehalten, seinem Lesepublikum wenigstens ein bisschen etwas davon zu erzählen, welche Geschichte einen Film in Gang setzt und bei Tempo hält. Das ist nicht so einfach, auch wenn Film - zumindest klassischerweise - äußere Wirklichkeit organisiert und dabei, wenn es gut läuft, so etwas wie eine literarische Geschichte erzählt. Dadurch gewinnt die Geschichte eines Films privilegierten Charakter - nicht nur, weil es medienbedingt einfacher ist, eine Geschichte zu beurteilen als die Ästhetik eine Films, sondern auch, weil das Kino selbst dies zu weiten Teilen nahelegt. Man geht selten ins Kino, weil ein Film einen Gebirgszug in diesem ganz besonderen Abendlicht zeigt, das nur auf diesem ganz besonderen Filmmaterial auf eine kaum greifbare Weise magisch zu leuchten beginnt; sondern weil es zum Beispiel darum geht, dass eine junge Auftragsmörderin unter schwierigen politischen und persönlichen Voraussetzungen einen Mord als Bewährungsprobe leisten soll.

Womit in etwa schon die Handlung von Hou Hsiao-Hsiens neuem Film "The Assassin" beschrieben ist. Nicht unwesentlich ist auch die Information, dass es sich um einen "Wuxia Pian" handelt, ein in Hongkong und Taiwan kultiviertes, mittlerweile im chinesischen Kino aufgegangenes Genre, zu deutsch etwa: Schwertkampffilm vor historischer Kulisse. Im chinesischen Kulturkreis ist die immense Popularität dieses Genres nicht zuletzt wegen seiner langen literarischen Tradition tief verwurzelt - kein Wunder, dass sich unter den Arthouse-Regisseuren mittlerweile ein Muster etabliert hat: Nach Zhang Yimou, Chen Kaige und Wong Kar-Wai ist Hou Hsiao-Hsien ein weiterer Autorenfilmer, der sich mit "kleinen", ästhetisch bedachten Filmen im internationalen Festivalkino einen Namen gemacht hat (gerade erst hatte das Berliner Zeughauskino dem Filmemacher eine umfassende 35mm-Retrospektive gewidmet) und sich nun an einen, im Vergleich zu den vorangegangenen Filmen, großen Wuxia Pian wagt.

Spannend an "The Assassin" ist, mit welchem Nachdruck Hou Hsiao-Hsien auf seine Autorenposition insistiert: Nicht er ordnet sich den Vorgaben und Interessen eines Großfilm-Genres unter, vielmehr verwandelt er es sich seinem eigenen Werk und dessen ästhetischer Signatur an: Hou Hsiao-Hsien ist ein zentraler Protagonist einer in den letzten Jahren unter dem Begriff "slow cinema" diskutierten (und nach einer Blütephase selbst wieder zum Klischee zu gerinnen drohenden) Bewegung, die ihre Filme hinsichtlich des Reizpegels "Plot" entsättigt, dafür aber anderweitig auffüllt: Mit Verweildauer, Raum, einer spröd-lakonischen Transzendenz.



Literarisches Erzählen - ästhetische Form. Ähnlich wie sein komplexes Bordelldrama "Flowers of Shanghai" skelettiert Hou Hsiao-Hsien "The Assassin" aufs Nötigste. Nichts, kein Werkzeug, keine Formel, keine Gebrauchskonvention des Bewegtbildes ist selbstverständlich zuhanden, nicht einmal die Farbe - der Film beginnt schwarzweiß. Nur dass es "The Assassin" an jenen Frustpotenzialen mangelt, die in "Flowers of Shanghai" schlummern, sobald man den Dialogen nicht mehr folgen kann und die Plotkonstellationen nicht mehr versteht: Die Gediegenheit, die "The Assassin" trägt, und die - ein Wunder - nie ins kulinarische Postkartenhafte umschlägt, sowie die Freiheit des eigenen ästhetischen Sensoriums führen zu einem meditativen Kunsterlebnis.

Der Begriff "Erlebnis" ist nicht zu hoch gegriffen. "The Assassin" pegelt runter, um die Wahrnehmung wieder zu schärfen: Es ist ein Kino der Achtsamkeit. Die Schönheit einer langsamen Kamerafahrt, die Eleganz einer sanften Bewegung, Farbtupfer in einem Landschaftspanorama, die Entschlossenheit eines Blicks, die Sachtheit einer Berührung, die Charakteristik eines Klangs, die akustische Weite eines Raums. Während der Trend im Kino zur Immersion neigt, dem totalen Eintauchen in einen Erzählkosmos, der völligen Distanzlosigkeit eines hypermobilen Blicks, der sich in den jüngsten Virtual-Reality-Trends und den ersten 360°-Videos auf Youtube tatsächlich einzulösen scheint, betont "The Assassin" noch einmal die Anmut eines Kinos, das sich vom Schaukastenprinzip und damit von einer komplexen Anordnung von Nähe und Distanz, von Entblättern und Verbergen her versteht.

Das Geschenk, das "The Assassin" einem bereitet, ist nicht zu unterschätzen: Wo der hektische Vektor eines ständig vorantreibenden Plots notgedrungen damit hantieren muss, dass er Bilder fortlaufend abnutzt, verbraucht und verschleißt, weil sich alles einer Klimax gegen Ende des Films unterordnet (in der linken Popkritik nennt man solche ästhetischen Entwürfe gerne "ejakulatorisch"), sorgt sich "The Assassin" um die Intaktheit des jeweiligen präsentischen ästhetischen Eindrucks. Beeindruckend ist die hohe handwerkliche Hingabe an jeden Moment, an jedes Hier und Jetzt des Films, die allerdings nie umkippt in den Bombast der Erhabenheit, auf den etwa Zhang Yimou in seinen großformatigen Epen abzielt. Vergleichbar ist "The Assassin" mit der Sanftheit eines eleganten Schwungs in der Kalligrafie, bei der die materiellen Spuren im Detail des Pinselstrichs ebenso zum ästhetischen Ereignis werden wie der Signifikant im Ganzen.

Gönnen Sie sich die Zeit. Vergessen Sie den Plot. Werfen Sie einen Blick in die reiche Welt. Hören Sie den Klang. Ertasten Sie die Schönheit der Materie. Gehen Sie ins Kino.

Thomas Groh

The Assassin - Taiwan 2015 - Regie: Hou Hsiao-Hsien - Darsteller: Shu Qi, Chang Chen, Zhou Yun, Ni Dahong, Satoshi Tsumabuki - Laufzeit: 105 Minuten.

---



"High-Rise" wird in der Regel zuerst mit seinem Regisseur Ben Wheatley und dann mit Romanautor J.G. Ballard in Verbindung gebracht, der die literarische Vorlage liefert. Ausgangspunkt für die Entstehung ist aber die britische Produzentenlegende Jeremy Thomas. Der Film ist ein Herzensprojekt von Thomas, der mit David Cronenbergs "Crash" schon einmal eine Ballard-Verfilmung produzierte. Jahrzehntelang suchte er nach dem richtigen Regisseur für die brutal-zynische und zutiefst britische Dystopie des Romans und in Wheatley fand er einen Filmemacher, der sich im Zynischen, im Britischen und im Brutalen äußerst gut auskennt. (Thomas' erste Wahl wäre Anfang der 1980er Jahre angeblich Nicolas Roeg gewesen, doch die beiden realisierten statt dessen den großartigen "Bad Timing", einen Film der die mitreißende Gleichgültigkeit Ballards, völlig unabhängig von diesem, sehr viel deutlicher getroffen hat als Wheatleys Style-Orgie.)

"High-Rise" behält das Setting und auch den zeitlichen Rahmen der Vorlage, man kann von einem Historienfilm sprechen: die 1970er in Großbritannien. Natürlich gibt es allerhand Parallelen zur heutigen Gesellschaft. In einem erschreckenden, autonomen Wohnturm mit vierzig Stockwerken brutalster Architektur, kippt eine bürgerliche Gesellschaft in die Anarchie. Ein kühler Beobachter in Form des Lehrers Robert Laing (Tom Hiddlestone) beobachtet das Treiben und versucht in diesem sozialen Querschnitt mit einem womöglich überdurchschnittlichen Anteil an Swingern zu überleben. Selbst wenn er dafür einen Hund essen muss.

Zu den wichtigeren Figuren im Haus zählen der Architekt Anthony Royal (Jeremy Irons), dessen Frau auf dem Dach des Hochhauses ein Pferd hält, der Fernsehjournalist Richard Wilder (Luke Evans), der den Niedergang des Hauses mit einer Verité-Kamera dokumentieren will, und vor allem Charlotte, eine allein erziehende Mutter, die im Stock über Laing wohnt und sich in ein unterkühltes sexuelles Abenteuer mit dem Nachbarn begibt, als sie seinen Körper vom Balkon aus sieht. In der Darstellung von Sexualität liegt eine der größten Qualitäten des Films, denn selten hat man oberflächliche Verführung, dekadenten Rausch, formale Distanz und Gleichgültigkeit so vermischt gesehen wie in den erotisch aufgeladenen Szenen des Films. Natürlich kehrt der parabelhafte, anarchische Niedergang dieser architektonischen Konstruktion und vor allem des Lebens darin die schlechten Seiten der Bewohner hervor; aber Wheatley versucht gar nicht erst, das Buch in eine klassische Narration zu pressen, vielmehr verfolgt man Vignetten, die ineinander fließen sollen.

Dekadenz ist heute eine Sache der Nostalgie, scheint Wheatley zu sagen - mit Zeitlupenpassagen und Musikvideo-Montagesequenzen zu Portishead/Abba-Klängen ("It used to be so nice, it used to be so good"), die Ballards Kühle in ein zeitweise an Fellini, zeitweise an den Hof von Louis XIV. erinnerndes Sinnesreich verwandeln, in dem man nur schreien kann: Fuck, Dystopie kann so sexy sein! Statt lapidaren Beschreibungen, die Ballard auszeichnen, wählt Wheatley die visuelle Übersteigerung, etwa bei einem für den Plot entscheidenden Selbstmord, der in Super-Zeitlupe auf die Leinwand und schließlich das unter dem Hochhaus stehende Auto geklatscht wird. Banale, beiläufige Bilder sucht man vergebens, alles ist durchkomponiert, von der Kadrierung, den nahtlosen Kamerafahrten über die Spezialeffekte hin zu Szenenbild und Kostüm.



Wheatley stapelt stilisierte Szenen übereinander und will durch diese Form etwas über die Gesellschaft erzählen, die er zeigt. Gelegentlich gelingt ihm das. Dennoch bleibt ein großes Fragezeichen im Film, denn die oberflächliche Sinnlichkeit samt immersiver Vibes wird mit einer Romanvorlage gekreuzt, die schlicht keinen Raum für Identifikation bieten will. Drehbuchautorin Amy Jump und Wheatley versuchen dieses Problem in den Griff zu bekommen, indem sie mit den Medizinlehrer Laing zur Hauptfigur machen und ihm sogar eine unpassend wirkende - im Roman nie behauptete - Mitschuld an einem Selbstmord aufs Gewissen legen. Das so entstehende unrhythmische Allerlei kann zwar das Chaos und die beständigen Abbrüche narrativ verankern kann, lässt aber keine tiefere Idee erkennen lässt.

Der Film bewegt sich in Kreisen und landet immer wieder in Sackgassen oder Aufzügen. Dabei beschleicht den Zuschauer permanent das Gefühl, dass es eigentlich mehr geben müsste, vielleicht einen Ausweg, vielleicht ein weiteres Stockwerk. Aber da ist nichts, nur die bloße Hülle einer Anarchie, die Wheatley zeigt, statt sie zu erklären. In den besseren Momenten verfällt man der anarchischen, sinnlosen Sinnlichkeit einer erschreckenden Party, in den schlechteren Momenten bemerkt man andauernd, dass der Film sich ziemlich geil findet. Letzteres äußert sich zum Beispiel in der Art und Weise, in der Wheatley eine gescheiterte TV-Schauspielerin inszeniert, die einfach alles für ein bisschen Aufmerksamkeit tun würde. Man spürt eine gewisse Freude an der Boshaftigkeit im Umgang mit den Figuren. Die Parabel verkommt oft zu einer Nummernrevue, die nicht annähernd an Ballard oder an David Cronenberg heranreichen kann. Wenn man am Ende Margaret Thatcher via Found Footage vorgesetzt bekommt, zeigt sich, dass Wheatley womöglich nicht ganz verstanden hat, dass "High-Rise" kein nostalgischer Historienfilm ist, sondern ein Werk über die Unsicherheit der Zukunft.

Wenn Endzeit, Stilisierung und Musik genügen, um einen Auteur aus Wheatley zu machen, dann ist "High-Rise" womöglich sein bis dato bester Film. Er überzeugt so sehr in seinem Rausch, dass man immer wieder vergessen will, wie wenig er tatsächlich zu zeigen hat. Champagnerreigen, Überlebenskampf und eine wundervolle Punk-Haltung: Mit all dem glänzt Wheatley. Ein guter Film ist "High-Rise" deshalb trotzdem nicht. Vielleicht muss er das aber auch gar nicht sein, um zu begeistern.

Patrick Holzapfel

High-Rise - GB 2015 - Regie: Ben Wheatley - Darsteller: Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans, Elisabeth Moss, James Purefoy - Laufzeit: 119 Minuten.