Im Kino

Weitgehend anorganisch

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
26.05.2016. Um eine zärtliche Annäherung zwischen einem Mädchen und einem Nachtmahr geht es in Akiz' psychoanalytischen Horrorfilm "Der Nachtmahr". Der japanische Regie-Berserker Sion Sono zieht in seiner Fukushima-Science-Fiction-Parabel "The Whispering Star" die ästhetizistische Handbremse.


Der erste Verweis auf die Filmgeschichte findet sich schon vor den ersten Bildern. Texteinblendungen warnen vor epileptischen Anfällen und Hörstürzen, aber: "Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden." Mit dem Satz: "This film should be played loud" begann auch Abel Ferraras "Driller Killer" von 1979. Nur auf den ersten Blick ist es schwer, den amerikanischen Film über einen frustrierten New Yorker Künstler, der zum Bohrmaschinenmörder wird, und den deutschen über den heftig das Nachtleben der Stadt auskostende Berliner Teenager Tina (großartig fragil: Carolyn Genzkow), der immer wieder ein sonderbarer Gnom erscheint, zusammenzudenken. Bei beiden Filmen handelt es sich um die Werke relativ unerfahrener Filmemacher, für die das Kino zum Möglichkeitsraum wird, die dessen Ausdrucksformen begierig, fieberhaft erproben. In beiden Filmen ist die Musik, weit über die Funktion eines herkömmlichen Soundtracks hinaus, Ausdruck des delirierenden Lebensgefühls der Protagonisten. Schließlich geht es in beiden Filmen um einen Zustand des Verlorenseins in der großen Stadt, zeigen beide Filme schonungslos, wie jemand immer weiter durch das soziale Raster der urbanen Welt fällt. Wo aber Ferraras Driller Killer nur Tod und Verderben bringen kann, findet Tina die zarte und zärtliche Utopie eines Auswegs aus Einsamkeit und Entfremdung.

Nach den Texteinblendungen begegnen wir Tina dort, wo sie im ekstatischen Außersichsein ganz zu sich kommen kann: auf der Tanzfläche. Zuckende junge Körper im Rhythmus wummernder Bässe und blinkender Lichter. Ihre Freundin Babs (Sina Tkotsch) liefert zu den wilden Nächten die passenden Drogen. Nur mit ihrem Schwarm Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) will es nicht so richtig vorangehen, weil er sich ihr gegenüber bedeckt hält. Beim Pinkeln auf einer illegalen Poolparty erscheint Tina zum ersten Mal eine eigenartige Kreatur, die sie fortan immer wieder sehen wird, vorwiegend in der Villa, die die Siebzehnjährige zusammen mit ihren Eltern bewohnt. Die Eltern reagieren besorgt, aber durch und durch hilflos auf den sich scheinbar immer weiter verschlimmernden psychischen Zustand ihrer Tochter. Sie engagieren einen Psychiater, der tut, was Psychiater eben tun: Er verschreibt Pillen, rät, sollte sich Tinas Zustand nicht bessern, zur Einweisung in eine Fachklinik. (Es ist eine der Ambivalenzen des Films, dass gerade der aalglatte, Tina gegenüber überheblich auftretende Arzt ihr den Tipp gibt, das Wesen anzusprechen, wodurch der Plot eine entscheidende Wendung nimmt).



Von den möglichen Entwicklungen, die seine Geschichte nehmen könnte, wählt Akiz zielsicher die interessanteste. Die Lesarten, dass es sich bei Tinas Erleben um Albträume handelt (wie ja bereits der Titel suggeriert), oder um eine drogeninduzierte Psychose, lässt der Film eine Weile zu; letztlich verwirft er sie. Vielmehr kommt es zu einer zärtlichen Annäherung zwischen dem Mädchen und dem Nachtmahr, der sich, seinem für Tina zunächst bedrohlichen Äußeren zum Trotz, als ziemlich verfressener, durch und durch gutmütiger Geselle erweist. Während Tina nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Feier-Clique zunehmend ratlos stimmt, alle ihre Bindungen zu schwinden scheinen, bildet das Wesen bald ihren letzten Bezugspunkt.

Sophie Charlotte Rieger schreibt in ihrem Blog über die zunächst entsetzten Reaktionen des Mädchens auf das Wesen und die folgende Annäherung: "Der Ekel und die Angst vor dem unbekannten Wesen steht für die pubertäre Entfremdung des Mädchens* mit sich selbst. Der Nachtmahr ist all das, was sie nicht sein darf: Gefräßig, hässlich und kindlich... Die Liebe zu dem unansehnlichen Wesen ist die Liebe Tinas zu sich selbst, zu jenen Persönlichkeitsanteilen, die sie ängstigen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Frau entsprechen." Daraus folgt, dass Tina in dem Maße, in dem sie sich von ihrem Umfeld entfremdet, immer mehr zu sich selbst findet, dass in ihrer Freundschaft zu dem Wesen zusammenwächst, was zusammen gehört, dass bewusste und verdrängte Facetten ihrer Persönlichkeit langsam eine Einheit bilden.

Die durchweg starke Inszenierung entwickelt denn auch gerade dann besondere Intensität, wenn es um die harsche Trennung des mühsam mit sich ausgesöhnten Wesens geht. Dass die beiden auch ein Nervensystem teilen, dass Tina blutet, wenn das Wesen sich schneidet, ist eigentlich gar nicht nötig, um Akiz' psychoanalytische Konzeption zu bebildern. Das Filmende denkt die Abkehr von einer Gesellschaft, die Tina und ihre teenage angst in einem fort pathologisiert, bis in die letzte Konsequenz fort. Wie Platons Kugelmensch, dem es schlussendlich vergönnt ist, zu seiner Ureinheit zurückzukehren, fahren Tina/Nachtmahr im Auto davon und lassen uns in unseren Kinosesseln zurück - entfremdet von den "dunkleren", verdrängten Anteilen unserer Selbst, mit dem Eros als einzigem Trost.

Nicolai Bühnemann

Der Nachtmahr - Deutschland 2015 - Regie: Akiz - Darsteller: Carolyn Genzkow, Sina Tkotsch, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Arnd Klawitter, Julika Jenkins - Laufzeit: 88 Minuten.

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Der Anfang ist ganz Rhythmus: Texteinblendungen zählen Wochentage ab, dazwischen in starren Einstellungen Bilder eines Haushalts: Ein Spülbecken mit tropfendem Wasserhahn (erst in der Totalen, dann in einer Großaufnahme, die zeigt, wie sich die Wassertropfen bilden, sich am Hahnende so lange ausbeulen, bis die Schwerkraft die Oberflächenspannung der Flüssigkeit besiegt), Kleider in einem Schrank, Lebensmittel in einem anderen Schrank, ein Wasserkocher auf einem Gasherd. Der Haushalt ist bewohnt: Gelegentlich huscht eine Frauengestalt (Megumi Kagurazaka) über die Leinwand, dreht den Wasserhahn ab, öffnet den Kleiderschrank, entzündet ein Streichholz. Sowohl das Framing als auch die Montage sind allerdings nicht von ihren Handlungen, sondern vom gedämpft schwarz-weißen Gleichbleiben der Dinge her gedacht.

Das in den ersten Minuten etablierte Bildergedicht wird vom Rest des Films Schritt für Schritt erweitert, ohne dass sich an seiner sterilen Tonlage viel ändert. Ein effektiver Schnitt nach ein paar Minuten offenbart: Wir befinden uns nicht in einer Wohnung, sondern in einem Raumschiff. Texteinblendungen und Flüsterdialoge zwischen der Frau und dem (altmodisch-plüschigen) Bordcomputer liefern das passende Science-Fiction-Szenario nach. Die Frau ist ein Android (und wird mit altmodischen, zylinderförmigen Batterien betrieben), in dem (gleichermaßen altmodischen und vor allem äußerlich ziemlich absurd ausschauenden) Raumschiff ist sie als Postbeamtin unterwegs; sie verteilt Pakete an die wenigen noch übelebenden Menschen in einem weitgehend anorganisch organisierten Universum. Eine melancholische vintage-Dienstleistung, die schon deshalb komplett überflüssig ist, weil die Erfindung der Teleportierung Raum wie Zeit verfügbar und deshalb egal gemacht hat.



Noch einmal etwas später verlässt die Androidin das Raumschiff und steht plötzlich in Fukushima. Den Großteil der Außenszenen hat der Regisseur Sion Sono in jener Region gedreht, in der am 11.3.2011 erst eine Flut- und anschließend eine Nuklearkatastrophe schwere Schäden anrichteten. Die "Post-Fukushima Filme" sind im japanischen Kino schon fast ein eigenes Genre (der notorische Vielfilmer Sono selbst ist schon seit längerem einer seiner Hauptvertreter), und wenn man die nach wie vor gespenstischen Bilder leergefegter Straßen und wild wuchernder Brachen in "The Whispering Star" sieht, ahnt man auch, wieso: Ausgerechnet im einstigen technoutopischen Paradies Japan wurde der Zivilisation eine tiefe Wunde geschlagen - der das Kino jetzt beim langsamen, von bizarrem Krustenwuchs begleiteten Zuwachsen zusehen kann. Es erscheint erst einmal durchaus naheliegend, um das Fukushima-Trauma herum eine Science-Fiction-Erzählung zu basteln (schon aus einer popkulturhistorischen Perspektive: Godzilla, Japans berühmtestes Filmmonster, entstand einst als kinematografische Spätfolge der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki). Muss es allerdings wirklich unbedingt eine derart verzärtelt raunende sein wie in "The Whispering Star"?

Mit dem Empfänger des Pakets, das die Androidin auf dem Fukushima-Planeten abliefert, wechselt sie kaum zwei Sätze ("Warten Sie schon lange?" - "Es geht"). Bald verfällt der Film wieder in den alten Trott. Eine flüsternde Androidin, die sich mit einem ebenfalls flüsternden Bordcomputer unterhält. Eine Kamera, die zwar nicht durchweg still steht, die sich gelegentlich in eine freilich meist gemächlich schwebende Bewegung setzt, die dabei aber stets streng durchkomponierte, alles in allem ziemlich gleichförmig anmutende Bilder hervorbringt. Viel Robotertristesse vor geschmackvoll abfotografiertem Sixties-Interieur, dazwischen gelegentliche auf eine etwas andere Art triste Fukushima-Ausflüge, die Kontingenz eher behaupten als herstellen - "The Whispering Star" ist ein Film, der sich nicht von seinen Schauplätzen, auch nicht von seiner schlafwandlerisch Tableau für Tableau durchschreitende Hauptdarstellerin überraschen läßt (weshalb auch die Leitdifferenz Mensch / Maschine ins Leere läuft, beziehungsweise mal in sub-kaurismäkischer Skurrilität, mal in sofiacoppolaschem Weltschmerz erstickt).

Warum der sonst als chronischer Regie-Berserker jedem spekulativen Oberflächenreiz hinterherjagende Sono ausgerechnet diesmal die ästhetizistische Handbremse anzieht, bleibt schleierhaft. Nur selten blitzt durch die vorgestanzten Bilder und ihre strikt mechanische Abfolge jene filmische Intelligenz, die zuletzt sein Hip-Hop-Musical "Tokyo Tribe" fast zum Bersten gebracht hat: Ein Spiegel, der sich erst lautlos aus der Verankerung löst, und einen Schnitt später laut krachend auf dem Boden zersplittert; eine Schaufensterpuppe als schockartige Geistererscheinung auf einer ansonsten gottverlassenen Straße. Einmal ergrünt ein besonders erhabenes Fukushima-Panorama beim Blick aus dem Fenster, aber das bleibt ein bloßer Farbtupfer, ein kurzes Aufatmen in einem ansonsten wie versiegelt wirkenden Film.

Lukas Foerster

The Whispering Star - Japan 2015 - Originaltitel: Hiso hiso boshi - Darsteller: Megumi Kagurazaka, Kenji Endo, Yuto Ikeda, Koko Mori - Laufzeit: 100 Minuten.