Im Kino

Die Ehre der ausländischen Teufel

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
06.04.2016. Ein mönchischer Kampfsportheld nimmt in Wilson Yips "Ip Man 3" zum wiederholten Mal den Kampf gegen diverse harte Jungs auf. Ein "Book of Climaxes" öffnen Guy Maddin und Evan Johnson in "The Forbidden Room" (und schichten Udo Kier auf Charlotte Rampling auf Ariane Labed auf Mathieu Amalric etc.)


Mu ren zhuang heißt das Trainingsgerät, mit dem sich Ip Man (Donnie Yen) gleich in der ersten Szene des Films beschäftigt: Ein ungefähr mannshoher, runder Pfahl, aus dem auf unterschiedlichen Höhen mehrere dünnere, waagrechte Pfähle ragen. Deutlich erkennbar ist das die Abstraktion eines lebendigen Menschen mitsamt Gliedmaßen. Abstrahiert wird von allem, was für das Einüben der Kampfkunst Wing Chun, deren Großmeister der historisch verbürgte Ip Man war, nicht benötigt wird (also vor allem vom Kopf, und damit vom Denken und Fühlen). Ganz bei sich selbst scheint Ip Man nur mit seinem Mur ren zhung zu sein, wenn er in seinem schlichten, schwarzen, hochgeschlossenen Trainingskluft vor diesem Trainingsgerät steht und konzentriert seine Schlag- und Trittkombinationen einübt: Das hat etwas Kontemplativ-Regeneratives, aber auch etwas Mönchisch-Weltabgewandtes.

In diesem Sinn steht das Mur ren zhung nicht nur für Abstraktion, sondern auch für Verdrängung. Besonders deutlich wird das in einer der schönsten Szene des Films: Im Angesicht einer privaten Krise, im hochemtionalen Ausnahmezustand, wendet Ip Man sich von seiner (ihn um einige Zentimeter Körpergröße überragenden) Frau Cheung Wing-Sing (Lynn Hung) ab und dem Holzmenschen zu. Gemeinsam mit Cheung blickt der Film auf den schon wieder selbstvergessen Trainierenden und vermisst dabei nicht nur die Distanz zwischen zwei Liebenden, sondern offenbart außerdem eine grundsätzlichere Kluft, die sich zwischen Ip Mans transzendentalem Idealismus und dem Chaos menschlicher Gefühlswelten auftut. Jedenfalls ist das Mur ren zhung ein sonderbar starrer, unkommunikativer Ruhepol im Zentrum eines von Wilson Yip souverän inszenierten Actionblockbusters, dessen hauptsächliche Attraktionen Muskeleruptionen und Bewegungskaskaden sind.

Der narrative Rahmen dieses von Yip und seinem Adjutanten, dem Altmeister Yuen Woo Ping (der wundervolle Beruf des Martial-Arts-Choreografen ist nicht das kleinste Geschenk, das das Hongkong-Kino der Welt gemacht hat) gewohnt effektiv orchestrierten Kampfkunst-Spektakels sollte zumindest dem chinesischen Publikum inzwischen geläufig sein. Tatsächlich sind in den letzten Jahren nicht nur, wie der Titel des aktuellen Beitrags nahe legt, drei, sondern ganze sechs Filme über Ip Mans Leben entstanden: Zusätzlich zur gefälligen, aber recht glatten Blockbuster-Trilogie des Teams Yen / Yip erschien noch Wong Kar Wais Arthaus-Variation "The Grandmaster", sowie zwei kleiner büdgetierte Arbeiten des unterschätzten Vielfilmers Herman Yau. Dessen "Ip Man: The Final Fight" ist der mit Abstand beste Film der Serie - auch, weil er die Genreattraktionen um ein desillusioniertes Geschichtsbild ergänzt, das allen Heroismus ins Leere laufen lässt.



"Ip Man 3" erscheint dagegen ziemlich fragwürdig, wenn man den Versuch unternimmt, ihn als historische Erzählung ernst zu nehmen. Der Kampf der Hongkonger Kampfsportler gegen die "foreign devils" wird diesmal nicht im Namen von Freiheitsrechten und Selbstbestimmung, sondern von Law and Order und konfuzianistischer Familienideologie ausgefochten. Insbesondere, wenn Ip Man mit polizeilicher Unterstützung eine Gruppe wütender Hafenarbeiter niederknüppelt, die äußerlich genauso gut Gewerkschaftler wie Gangmitglieder sein könnten, schleicht sich ein autoritärer Tonfall in den Film, der durchaus mit den Ängsten vieler Hongkonger vor gesellschaftlichen Verhärtungen im Zuge der schrittweisen Integration der einstigen britischen Kronkolonie in den chinesischen Zentralstaat zu tun haben könnte.

Glücklicherweise halten sich die historiografischen Ambitionen von Yen und Yip in engen Grenzen - jedenfalls verflüchtigt sich der erwähnte Tonfall ziemlich gründlich, sobald das Martial-Arts-Gefecht richtig Fahrt aufnimmt; erst recht, wenn Mike Tyson auf den Plan tritt, um die Ehre der ausländischen Teufel zu retten. Außerdem haben die Prügelexzesse diesmal eine sentimentale Schlagseite, die nicht neu ist in der Filmserie, die aber mehr Raum als in den Vorgängerfilmen beansprucht; und die sich bereits in der ersten Filmszene manifestiert, wenn der zarte Flügelschlag eines Schmetterlings die Trainingssession unterbricht.

Später geht es nicht nur um Ip Mans selten friedlich beilegbare Auseinandersetzungen mit diversen harten Jungs, die im Hongkong der späten 1950er Jahre dem allseits geschätzen Kampfkunstexperten (und Lehrer Bruce Lees) aus dem einen oder anderen Grund ans Leder wollen, sondern immer auch um sein Familienleben, inbesondere um das zwar rührend zärtliche, gleichzeitig aber komplett entkörperlichte Verhältnis zu Cheung. Es gibt in dieser (freilich, der untypische Größenunterschied bricht das kein bisschen auf, klassisch patriarchalen) Beziehung schöne Blickwechsel, und einmal sieht man das Paar durch ihr in gedeckten Farben eingerichtetes Anwesen tanzen, fast schon schweben - beim Sex kann man sich die beiden, und inbesondere den nunmal lieber an Holzpfählen als an Menschen hantierenden Ip Man, allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.

Lukas Foerster


Ip Man 3 - Hongkong 2015 - Regie: Wilson Yip - Darsteller: Donnie Yen, Lynn Hung, Zhang Jin, Mike Tyson, Patrick Tam - Laufzeit: 105 Minuten.

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Das Bild ist beschädigt, durchpulst von entropischen Energien, kontinuierliche Bildnachbearbeitung imitiert alle möglichen Zelluloidtodesarten. Der simulierte Materialzerfall belebt die Bildoberfläche: das Schillern instabiler Farbwerte, das alchemistische Blubbern der sich auflösenden Emulsion, flackerndes Licht aus ausgedienten Projektoren. Die Selbstbewegung des Bilds steht in einem hintersinnigen Verhältnis zum Eigenleben der Erzählung. Bild und Erzählung sind porös, sie lassen sich nicht einhegen und nicht zähmen, treiben fortwährend über die eigenen Grenzen, die eigenen Konturen hinaus. Die Bestandteile, aus denen Guy Maddins in Zusammenarbeit mit Evan Johnson entstandener "The Forbidden Room" sich zusammensetzt, sind nicht planvoll montiert; ihre Abfolge hat mehr Ähnlichkeit mit einer chemischen (Ketten-)Reaktion als mit erzählerischer Kausalität.

Wir befinden uns auf einem U-Boot, tausende Meter unter dem Meeresspiegel. Die Crew ist in arger Not: die hochexplosive Gallerte, die das U-Boot mit sich führt, würde beim Auftauchen durch den Druckverlust in die Luft gehen und so der gesamten Besatzung zum Verhängnis werden. Der Sauerstoff ist bereits knapp, am Meeresgrund verweilen also auch keine Option. Mitten in diese lose-lose situation platzt - wie das geht, bleibt unklar - ein bärtiger Holzfäller auf der Suche nach seiner Geliebten Margot, die von einer Räuberbande verschleppt worden ist. Den Holzfäller hat es aus einer anderen, womöglich angrenzenden Erzählwelt in das U-Boot verschlagen. Ein geheimer Tunnel, eine Durchlässigkeit zwischen den Bildern hat ihn eingeschleust, und öffnet nun umgekehrt den Film auf andere Räume - eine ganze Kaskade von immer neuen, ineinander gefalteten Orten und Vignetten, die, kaum anerzählt, schon wieder in ein nächstes Szenario ausufern.



Zusammengehalten werden diese losen Stücke einerseits von Maddins Schauspielerensemble, einem kleinen Starsystem für sich, das die Kohärenz stiftende Erfahrung, denselben Darsteller in verschiedenen Filmen zu sehen, innerhalb nur eines, kaleidoskopisch aufgefächerten Films einholt. Bild und Erzählung kreisen um eine bestimmte, vielfach vermittelte Idee von frühem Kino: Analog- und Archiv-Mimikry, Zwischentitel sowie Produktionsdesign fügen sich zu einem überdeterminierten Pastiche, das mehr mit unseren Stummfilmprojektionen und -fantasien zu tun hat als mit der Stummfilmära selbst.

Das ist durchaus nicht kritisch gemeint, im Gegenteil: Überzeugt hat mich "The Forbidden Room" vor allem in den Momenten der Überhitzung und Beschleunigung; wenn die Kettenreaktion sich frei und ungehindert ausbreiten darf, ohne dass irgendwer Rechenschaft ablegen müsste über das sprunghafte Ineinander von Orten, Zeiten, Genres. Statt mit einem klimaktischen dritten Akt schließt Maddin einfach mit einer ungeordneten Sammlung von Höhepunkten, dem "Book of Climaxes", von denen manche in Beziehung stehen zu einem der vielen Subplots, andere aber ganz ohne narrative Anbindung bleiben, als Höhepunkte in Reinform: ein Mann über dem Abgrund, ein anderer reicht die rettende Hand.

Solange Maddin Geschichte auf Geschichte schichtet - und Udo Kier auf Charlotte Rampling auf Ariane Labed auf Mathieu Amalric etc. - macht "The Forbidden Room" großen Spaß. Es gibt dann aber doch auch, zumindest im Ansatz, die ordnende Gegenbewegung zur haltlosen Generativität, womit Maddin seinen narrativen Verschachtelungen zurück an ihren Ursprung folgt. Was beim ersten Mal überrascht und überrumpelt, offenbart beim Wiedersehen seine nur begrenzt interessanten Bauregeln und eher müden allegorischen Ambitionen.

Nikolaus Perneczky

The Forbidden Room - Kanada 2015 - Regie: Guy Maddin, Evan Johnson - Darsteller: Roy Dupuis, Clara Fugey, Udo Kier, Charlotte Rampling, Geraldine Chaplin, Jacques Nolot, Mathieu Amalric - Laufzeit: 130 Minuten.