Im Kino

Gleißend, schillernd, schäumend

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
27.04.2016. Spektakelkino sondergleichen aus Südindien: S.S. Rajamoulis "Bahubali: The Beginning" lässt alle Realismusetüden hinter sich. Tom Tykwers exotistische Bestsellerverfilmung "Ein Hologramm für den König" füllt alten Wein in noch ältere Schläuche.


Shivas Element ist das Wasser. In einem reißenden Fluss erlebt er nicht die erste, aber die zweite, die eigentliche, die Kino-Geburt: Eine Frau flüchtet mit einem Säugling vor Feinden in den Strom und opfert sich selbst, um ihm das Leben zu retten. Auf ihrer aus dem Wasser ragenden Hand ruht das Shiva-Baby, umspielt vom gleißenden Licht digitaler Sonnenstrahlen, die in bester Terrence-Malick-Manier direkt aus der Haut hervorzubrechen scheinen.

Seine Kindheit und Jugend verbringt Shiva, der nach der Flussgeburt von Adoptiveltern aufgenommen wird, an einem Wasserfall - und was für ein Wasserfall das ist! Ein selbst noch die breite Cinemascopeleinwand sprengender Wasserfall, der fast im Himmel entspringt, der gleißend, schillernd, schäumend in die Tiefe stürzt. Wer sich vor diesen Wasserfall stellt, sich von seiner digitalen Opulenz rahmen lässt, wird fast automatisch zum Halbgott. Shiva ist das nicht genug, er will den Wasserfall bezwingen. Wieder und wieder scheitert er allerdings an einem Tigersprung von einem Felsvorsprung zum nächsten.

Bis Avanthika auf der Klippe jenseits der Gischt erscheint und ein Lied anstimmt. Die vorläufig noch mysteriöse Schöne verleiht ihm das letzte Quentchen Energie, das ihm für den Sprung fehlt. Wenn er sich ihr entgegen stürzt, die Arme ausgestreckt, in Zeitlupe vor den Wassermassen entlanggleitend, setzt der donnernde Refrain ein: "The persevering one, your bravery will take you forward / You leap higher and higher, firm and stable and determined." So übersetzen das zumindest die Untertitel. Ich wüsste nicht, wann ich zuletzt im Kino ein derart kraftvolles Bild gesehen hätte.



Unmittelbar vor dem Sprung, als Shiva Avanthika zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, ist ihr Rücken mit Schmetterlingen bedeckt, die in dem Moment, in dem sie sich zu ihm und zur Kamera umdreht, aufflattern und eine blaue Aureole um ihren Körper bilden. Von Anfang an ist Liebe, ist Begehren ein ästhetischer Effekt. Wenn Shiva später ernsthaft um Avanthika zu werben beginnt, wird sie von ihm deswegen nicht nur besungen, sondern auch bemalt. Zunächst ist sie freilich nur flüchtige Erscheinung, lässt zwar in einer atemberaubenden, alle physikalischen Gesetze außer Kraft setzenden song-and-dance-Szene ein wenig ihre Tücher flattern, löst sich aber bald wieder in einer Schmetterlingswolke auf. "Bahubali: The Beginning" erreicht in dieser jugendlich euphorischen, episch zerdehnten Wasserfallnummer einen frühen Höhepunkt. Freilich nur einen Höhepunkt unter vielen.

Denn "Bahubali" ist Spektakelkino sondergleichen und außerdem ein popmythologischer Großentwurf, der sich nicht nur in immer neuen, atemberaubenden CGI-Panoramen, sondern auch vermittels ausgiebiger Rückblenden als Generationen übergreifendes Familien- und Königsdrama entfaltet. Prabhas, ein neuer Superstar des indischen Kinos, dessen oftmals von einem verschmitzten Lächeln begleitete physische Präsenz an Douglas Fairbanks denken lässt, verkörpert nicht nur Shiva, sondern außerdem die Titelfigur Bahubali, einen legendären Kriegsherren. Avanthika wiederum ist, ihrem ätherischen ersten Auftritt zum Trotz, in Wahrheit eine zupackende, grimmige Kriegerin, die als Teil eines Rebellentrupps eine gefangene Königin befreien will. Shiva schließt sich dem Kampf an und sieht sich bald mit seiner eigenen Familiengeschichte konfrontiert.



All das ist auch im vor Überlängen traditionell nicht zurückschreckenden indischen Kino in den Grenzen eines einzelnen Films nicht abschließbar. Wie der Titel andeutet, faltet S.S. Rajamoulis Blockbuster, der in Indien alle Kassenrekorde gebrochen und sich in Windeseile zu einem kulturellen Phänomen sondergleichen entwickelt hat (und das, obwohl der Film kein Produkt der dominanten Bollywood-Studios, sondern der südindischen Telugu-Filmindustrie ist), nur das Spielfeld auf. Auf dem sich 2017 der abschließende zweite Teil austoben wird. Mit den fragwürdigen Hinhaltetaktiken jüngerer Hollywoodproduktionen - insbesondere die Marvel Studios degradieren in ihrem zunehmend klaustrophobischen "cinematic universe" hundertmillionenschwere Effektspektakel zu überdimensionierten Trailern für künftige weitere hundertmillionenschwere Effektspektakel - hat das freilich nicht das Geringste zu tun. "Bahubali: The Beginning" geht in jedem einzelnen Moment aufs Ganze.

Insbesondere ästhetisch. "Bahubali" ist vor allem anderen eine Lehrstunde in Sachen digitaler Expressivität. Alles ist form-, deshalb veränderbar, mal stürzt man vom tropischen Wasserfall in eine Eiswelt, mal wird man vom opulent entworfenen (freilich in der Aufsicht trotzdem ein bisschen nach einer kindlichen Lego-Fantasie ausschauenden) imperialen Palast in den ewigen Dreck geworfen. Oftmals schlägt das Innere nach Außen durch: Wenn Shiva niedergeschlagen wird, verdunkelt sich die gesamte Welt. Verglichen mit solch grundlegend instabiler Formgebung, mit solch offensiv antinaturalistischem world building (das auch alle Anflüge imperialer Ideologie pulverisiert; gewisse rassistische und vor allem sexistische Anklänge wird der Film weniger leicht los) sind die amerikanischen Fantasy- und Science-Fiction-Großproduktionen der letzten Jahre biedere Realimusetüden.

Dabei bedienen sich Rajamoulis Farbexplosionen durchaus auch beim Hollywoodkino. Insbesondere der Einfluss von Zack Snyders "300" auf die mit Vorliebe rot-golden unterlegten, hochgradig stilisierten Kampfszenen ist unübersehbar. Aber "Bahubali" bleibt dabei eben nicht stehen. Zeitlupengemetzel und martialisches Actiongepose sind nie Selbstzweck, sondern stets in emotionale Spannungsbögen integriert. Und zu sich selbst findet der Film ohnehin weniger in dem (freilich ebenfalls atemberaubenden) epischen Schlachtengemälde der letzten halben Stunde, als in den über den gesamten Film verteilten Musiknummern, die Kampf, Tanz und Sex ununterscheidbar, oder vielleicht eher: als drei Aspekte derselben digital-affektiven Kinoekstase sichtbar werden lassen.

Lukas Foerster

Bahubali: The Beginning - Indien 2015 - Regie: S.S. Rajamouli - Darsteller: Prabhas, Rana Daggubati, Anushka Shetty, Tamannaah Bhatia, Ramya Krishnan - Laufzeit: 159 Minuten.

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Tom Hanks ist der neue Bill Murray zu ca. "Lost in Translation"-Zeiten - das ist zumindest der Plan dieses Films. Dieser Hanks lebt in "Ein Hologramm für den König" ein Leben der mittleren Reichweite: Auf dem langen Pfad der Mittelschichts-Ambitionen im Mittelbau eines Pleite-Konzerns auf halber Strecke gestrandet (außerdem: Ehekrise), hängt er nun in Saudi-Arabien in den Seilen. Da soll er einem Scheich, der dort, wo bislang nichts war, eine ganze Metropole aus dem Sand zu stemmen gedenkt (immerhin eine große Zentrale steht schon einmal), eine Hologramm-Technologie andrehen. Eine Technologie, die Hanks selbst gut brauchen könnte, denn sie ermöglicht die Quasi-Real-Life-Kommunikation mit jemandem, der gar nicht da ist - und der Scheich selbst lässt lang und länger auf sich warten, sodass selbst das Pitching nicht und nicht zustande kommt.

Die so geschenkte Zeit verbringt Hanks damit, sich fremd, entfremdet zu fühlen. Er verschläft - running gag - täglich, fährt - running gag - täglich mit dem selben, sonderbaren Taxifahrer Yousef (Alexander Black), der ihn mit im Westen längst für obsolet erklärter Rockmusik beschallt, hat täglich Terrorangst, kämpft täglich - Saudi-Arabien, strenge Sitten - damit, irgendwo Alkohol herzukriegen, kämpft mit seinem Team und sengender Sonne täglich um W-Lan, kommt auf Wanderswegen bei Islamisten vorbei und lernt, dass blöde Sprüche - ich bin CIA, hihi - blöde Folgen haben können. Außerdem entwickelt er eine sonderbare Geschwulst auf dem Rücken, die ihn in die Hände der schönen Ärztin Zahra (Sarita Choudhury) bringt, in welche er sich dann doch verliebt. Was Bill Murray der Song "More than this" war, ist für Tom Hanks "Once in a Lifetime" von den Talking Heads: "You may find yourself in another part of the world."



Tom Tykwers Verfilmung von Dave Eggers' gleichnamigem Roman drängt es spürbar, etwas zu sagen, etwas Versöhnliches: Lose geht es um Finanzkrise, die islamische Welt als Fremderfahrung, Globalisierung, wohl auch um den Verlust der US-Vormachtstellung auf dem Globus. Allein: Sonderlich viel mehr als Befindlichkeitskitsch mit müden bis milden Skurrilitäten ist bei all dem Aufwand nicht herausgekommen. Die Metaphern und Allegorien wuchern wie die Beule auf Hanks' Rücken, bleiben allerdings bestenfalls im Diffusen und Skizzierten.

Zur saudischen Lebenswelt fällt Tykwer nicht viel mehr ein als ein bisschen exotisches Flair, das für ein paar touristische Gags gut ist. Mit den Lebensbedingungen für die Bevölkerung eines Landes, in dem weitgehend die Scharia herrscht, will er sein westliches, diffus-liberales Publikum nicht weiter behelligen; oder nur insofern, wie sie es gestatten, "Ein Hologramm für den König" weitgehend im Drolligen sich abspielen zu lassen. Das herrschende Alkoholverbot und die drastischen Reglementierungen, was Begegnungen zwischen den Geschlechtern betrifft, werden auf diese Weise zum Anlass, sich neuen Herausforderungen zu stellen - und insbesondere letztere fast schon zu einer für den Zuschauer mit Gewinn ausgenutzte Beschränkung, die zu einfallsreichen romantischen Manövern führt. Das hat schon ein gewisses post-postkolonial-neokoloniales G'schmäckle: Im fernen Arabien, da sind noch romantische Abenteuer möglich - "once in a lifetime".

So paternalistisch die Haltung gegenüber jenen Menschen in Saudi-Arabien ist, die sich nicht ungefragt in ihre Kultur einbuttern lassen wollen, so problematisch-exotizistisch ist der versöhnliche Schluss des Films: Die Erlösung des weißen Mannes liegt einmal mehr im Fernen Osten. Und Stifterin dieser Erlösung ist eine geheimnisvolle, exotische Frau, die hinter verschlossenen Türen erotisches Glück verheißt. Die Türen, mit denen der Film schließt, insinuieren in aller schlagerseligen Schlichtheit, dass Westen und Osten sich lieber lieben als streiten sollten. Ach du liebe Zeit.

Was sich hier in geschmackvolle Bilder packt, zum mitwissenden Glucksen und schließlich zum Träumen einlädt, ist alter Wein in noch älteren Schläuchen. Tykwers Film beansprucht thematisch nichts als Gegenwart für sich, kommt aber angesichts geopolitischer Spannungsfelder und durch Finanz- und andere Krisen hervorgerufener soziale Spannungen im Innern auf nicht viel mehr als die Geschichte eines matten Fünfzigjährigen, den eine muslimische Julia zum westlichen Romeo macht.

Abgeschmackter geht es eigentlich kaum. Und, das muss man am Rande noch festhalten: Selbstverständlich ist Tom Hanks kein Bill Murray.

Thomas Groh

Ein Hologramm für den König - USA, GB, Deutschland 2016 - OT: A Hologram for the King - Regie: Tom Tykwer - Darsteller: Tom Hanks, Alexander Black, Sarita Choudhury, Sidse Babett Knudsen, Tom Skerritt - Laufzeit: 98 Minuten.